Die kranke deutsche Demokratie - 2. Folge
Submitted by HermannDie kranke deutsche Demokratie - 2. Folge
Jasmins Reise ins Weserbergland
Foto: Wikimedia Commons, Hameln mit Werder im Winter, Autor: wikidu
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Es kostete Überwindung, den Blick von der friedlich schlafenden Jasmin fortzureißen. Ihr feingeschnittenes, orientalisches Gesicht, eingerahmt durch leicht gewellte, tiefschwarze Haare, versetzte Thomas immer wieder in innere Bewegung. Wie gern würde er ihr jetzt ihre langen schwarzen Wimpern küssen, bis sie wach würde und er sich erneut mit ihr in einem Orkan aus Lust und Verlangen verlieren könnte! Er wusste: Würde er jetzt vorsichtig die Bettdecke über ihr beiseite ziehen und ihren makellosen, weißen Körper in seiner harmonischen Schönheit bewundern können, gäbe es für ihn kein Halten mehr. Schweren Herzens begab er sich in das Wohnzimmer, das gleichzeitig als Arbeitszimmer diente, und setzte sein Laptop in Gang.
Noch hatte der Oktobermorgen seine volle Kraft nicht entfaltet. Sein Blick aus dem dritten Stockwerk auf die Allee hinab fing erst wenige verlorene Fahrradfahrer und Autos ein. Ein kühler Herbsttag kündigte sich an. In der beengten Küche des kleinen Appartements, nicht weit vom Institut für Soziologie entfernt, bereitete er sich einen Instantkaffee mit Milch und Zucker zu, wie er es jeden Morgen nach dem Aufstehen zu tun pflegte.
Jasmin weilte nicht oft über Nacht bei ihm. Sie hatte ein eigenes Appartement am Rande der Stadt. Am Nachmittag zuvor hatten beide an einem Doktorandenkolleg teilgenommen. Anschließend blieben sie noch lange mit Freunden in einer Kneipe hängen, was einer hitzigen Debatte über den phlegmatischen deutschen Untertan geschuldet war. Danach wollte Jasmin nicht mehr mit dem Fahrrad allein nachhause fahren, und Tom, wie er von allen genannt wurde, hatte ebenfalls keinen Bock auf eine nächtliche Fahrradtour, um sie zu begleiten. Jasmin nutzte ihren kleinen Fiat nur zu Fahrten außerhalb von Münster.
Wahllos begann Thomas im Web Stellenausschreibungen für Soziologen zu suchen. Er hatte am Institut eine befristete Assistentenstelle, die ihm nach langen Studienjahren eine finanzielle Unabhängigkeit von seinen Eltern garantierte. Aber spätestens zum Herbstsemester 2017 musste er sich etwas Neues suchen. Und Jobs für Soziologen gibt es nicht wie Sand am Meer, vor allem dann, wenn man nicht in Seilschaften eingebunden ist. Für Jasmin lag der Fall anders. Ihre Chancen auf dem deutschen aber auch internationalen Arbeitsmarkt waren bedeutend besser. Dazu trugen allein schon ihre überragenden Sprachkenntnisse bei und ihre journalistische Auslandstätigkeit in den letzten vier Jahren beim DA. Was aber ein zusätzlicher Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Jobsuchenden war, war ihre äußere Erscheinung und ihre Persönlichkeit. Letztere setzte sich zusammen aus der warmen Herzlichkeit und dem hellen Verstand ihrer Mutter und der unbedingten Leidenschaft nach Unabhängigkeit, dem Erbe ihres Vaters. Neidvoll musste Thomas immer wieder mit ansehen, welchen Eindruck Jasmin auf andere Menschen machte. Vor allem Männer konnten ihrer Persönlichkeit kaum widerstehen. Und das brachte ihn nicht selten auf die Palme und war dann Ursache ungerechtfertigter Gereiztheit gegenüber seiner Freundin.
Plötzlich fiel Thomas eine Stellenausschreibung des RND ins Auge. Es ging um die deutschlandweit erste Einrichtung eines Online-Magazins, in dem Bürger für Bürger kostenlos und unzensiert schreiben und kommentieren könnten. Und das im Wahljahr 2017. Der Zweck sei ein Versuch, Meinungsvielfalt und damit Demokratie zu erweitern, um so der politischen Verdrossenheit des Bürgers entgegenzuwirken. Wie gesagt, ein erster Online-Versuch, gestartet von einem großen öffentlichen Rundfunksender, der zusätzlich kostenlose regionale und internationale Nachrichten zur Verfügung stellen würde. Um diesen einjährigen Modell-Versuch ab Januar 2017 journalistisch zu begleiten, suchte der RND eine Journalistin oder einen Journalisten mit mindestens dreijähriger praktischer Erfahrung. Sprachkenntnisse wären ein Pluspunkt.
„Tom, hast Du schon gefrühstückt?“ Jasmin konnte den Schlaf in ihrer Stimme nur schwer unterdrücken. Lediglich mit einem Slip bekleidet stand sie hinter Thomas und umarmte ihn liebevoll. „Jasmin, sieh mal her, was ich gefunden habe! Das musst Du Dir unbedingt anschauen.“ Dabei deutete er auf einen Text auf seinem Laptop. „Ich nehme erst einmal eine Dusche,“ antwortete sie und lief barfuß ins Bad. Als Thomas ihr nachblickte, konnte er gar nicht anders als ihr hinterher zu rufen. „Ich habe auch noch nicht geduscht. Schließ bitte die Tür nicht ab.“
„Mein Gott! Was sind das für Morgen- und Abendstunden, seit ich Jasmin im Frühjahr kennengelernt habe,“ dachte Thomas bei sich, als beide am Frühstückstisch saßen bei Spiegeleiern, Toastbrot und Kaffee. „Tom, was wolltest Du mir denn zeigen,“ fragte Jasmin und streichelte mit ihren nackten Füssen Toms Schenkel unter dem Tisch. „Ich habe eine Jobanzeige gefunden, die auf Dich passt wie die Faust aufs Auge. Die Arbeit ist auf ein Jahr befristet. Und ich schätze, Du könntest sie direkt für Deine Doktorarbeit verwenden. Mensch, wenn ich Deine fachlichen Voraussetzungen hätte, würde ich mich sofort bewerben.“ Aus Toms Antwort meinte Jasmin unausgesprochenen Neid aber auch Selbstzweifel zu erkennen.
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Dem Chefredakteur des Niedersachsen Online-Programms des RND sagte man nach, er sei ein „harter Hund“ und, wie man im Spanischen zu sagen pflegt, ein „mandón“, ein Mann, der gewohnt ist, Order zu erteilen. Kurz, Herr Jung war ein Macher. Ratschläge nahm er bestenfalls von seinen Vorgesetzten entgegen. Umgänglichkeit und menschliche Wärme waren Tugenden, die man vergeblich bei ihm suchte. Seine Frau und seine zwei halbwüchsigen Töchter hatten ebenso einen schweren Stand bei ihm wie seine weiblichen Mitarbeiter in der Redaktion.
Über frühere Kollegen hatte Jasmin Informationen über Herrn Jung eingeholt. Vor dem Interview mit dem Chefredakteur war sie einigermaßen aufgeregt, obwohl sie das nicht nötig hatte. Sie wusste genau, was sie konnte und was sie wollte. Sollte es mit dem Job, den sie gut für ihre eigenen beruflichen Ambitionen gebrauchen könnte, nicht klappen, so wäre das auch kein Beinbruch. Im Fall einer positiven Entscheidung hatte sie sich vorgenommen, sich journalistisch weiterzubilden und vor allem auf eine Reise zur Erforschung der ‚deutschen Seele‘ aufzubrechen. Eine solche Möglichkeit, die Menschen mit ihren sorgsam gehüteten Meinungen aus ihrer Privatsphäre abzuholen und sie auf einen öffentlichen Meinungsmarktplatz zu führen, um sich mit anderen Menschen auszutauschen, eine solche Möglichkeit bietet sich nicht alle Tage. Sie war sich mit Tom einig: Wenn doch endlich einmal die Menschen ihre Ängste loslassen könnten und in befreiter Gemeinsamkeit über ihr eigenes Schicksal nachdenken und befinden würden, statt ewig fremdbestimmt zu sein! Was würde sie dafür geben herauszufinden, wie Bürger-Emanzipation in die Wege geleitet werden könnte! Der ausgeschriebene Job wäre eine ideale Vorbereitung für ihre Doktorarbeit über „Gesellschaftliche Bedingungen politischer Freiheit und Demokratie“.
Fünf Bewerberinnen und Bewerber für die neu zu besetzende WOM-Stelle hatte sich der Chefredakteur aus einer großen Zahl von Jobsuchenden herausgepickt. Insgeheim bedauerte seine Sekretärin die zwei Kandidatinnen und drei Kandidaten. Sie kannte ihren Vorgesetzten und wusste, dass er gern den ‚Chef‘ herauskehrte, um Anderen zu imponieren und sie einzuschüchtern. Als sich Jasmin bei ihr zum Interview meldete, wurde sie sogleich neugierig, wie Herr Jung wohl auf diese Bewerberin reagieren würde. In der Redaktion war es bekannt, dass Herr Jung ein Faible für attraktive und intelligente Frauen hatte. Da konnte es durchaus passieren, dass er seine zur Schau gestellte souveräne Contenance verlor.
„Bitte, nehmen Sie doch Platz,“ begrüßte er Jasmin und reichte ihr über den Schreibtisch hinweg seine Hand. Als er ihren warmen und bestimmten Händedruck spürte und sie erstmals aufmerksam ansah, erschrak er ob seiner Grobheit, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und bat sie, sich doch aufs Besuchersofa zu setzen. Aufgeräumt nahm er auf einem Sessel ihr gegenüber Platz und stellte sich vor.
Nachdem die Sekretärin zwei Tassen Kaffee und Kekse serviert hatte, bedeutete er dieser, er wolle in der nächsten halben Stunde nicht gestört werden, lehnte sich zurück und beschrieb in Stichworten, was es mit dem Modell-Projekt auf sich hätte, und was sich die Redaktion von der ausgeschriebenen Stelle versprach. Natürlich hatte er sich vor dem Interview noch einmal Jasmins Bewerbung durchgesehen und war gespannt auf die Kandidatin. Wie sich das Interview dann zwischen beiden entwickelte, geriet für ihn als altem Hasen zu einer ausgesprochenen Überraschung.
Schon zu Beginn des Interviews ertappte er sich dabei, wie er dem Bann der samtenen, doch festen Stimme und der Ausstrahlung der Bewerberin erlag. Er gab sich Mühe, galant und zuvorkommend zu erscheinen. Das war ein untrügliches Zeichen, dass er einer Frau gegenüber zu flirten und um sie zu werben begann. Oh, wie seine Frau dieses Benehmen eines schillernden Gockels, wie sie meinte, hasste! Sie kannte ihren Mann nur zu gut, wenn er Frauen mit einem derartigen Verhalten bedachte. Aber Gottseidank waren seine Frau und auch die Sekretärin bei diesem Interview nicht zugegen und Herr Jung nutzte die Gelegenheit, sich gut gelaunt von seiner besten Seite zu zeigen.
„Frau Jasmin, ich darf doch Jasmin zu Ihnen sagen,“ fragte er, ohne eine Antwort abzuwarten. „Lassen Sie mich noch einmal ausführlicher auf das Projekt eingehen. Ich gestehe, dass ich selbst zu Beginn nicht sehr von der Projekt-Idee überzeugt war. Doch die zuständige Direktorin und auch die Intendanz waren der Meinung, dass wir als öffentlich-rechtliche Anstalt gehalten seien, etwas gegen die Politikmüdigkeit des Bürgers zu unternehmen. Wie Untersuchungen zeigen, scheint es ein etwa zwanzigprozentiges Potenzial an überzeugten Nationalisten und Fremdenfeinden im Lande zu geben. Und die Neue Rechte versteht es besonders geschickt, seit der jüngst entstandenen Flüchtlingsproblematik, diese Menschen aus ihrer vorher unterdrückten Wut- und Hass-Haltung herauszulocken, so dass sie zunehmend zu einer Gefahr für die deutsche Demokratie werden. Mit Sorge sehen wir, dass es den privaten wie auch öffentlichen Medien nicht gelingt, den sogenannten Normalbürger in ähnlicher Weise zu mobilisieren. Das müsste jedoch unter allen Umständen versucht werden. Der Lack der Bundestagsparteien ist schon lange ab. Da dürfen wir uns nichts vormachen. Der Bürger wählt diese Parteien nur, weil es bequem ist, und er nichts anderes kennt. Und das kleine Häuflein der unabhängigen freien Geister in der Republik gefällt sich in privat organisierten, elitären Online-Magazinen, denen jegliche gesellschaftliche Relevanz fehlt. Unsere Hoffnung, die wir mit dem Modell-Projekt ‚Weserbergland-Online-Magazin‘ verbinden, ist, herauszufinden, ob die Mobilisierung des Bürgers aus seiner passiven Haltung heraus mittels eines attraktiven und kostenlosen Online-Journals gelingt. Das Journal sollte der Bürger selbst im Verein mit anderen Bürgerinnen und Bürgern unter dem Motto: ‚Bürger schreiben für Bürger‘ gestalten. Zusätzlich können täglich alle Nachrichten, über die der RND verfügt, gratis abgerufen werden. Es wird keine Bezahlschranke geben, wie bei privaten Medien üblich. Ein erfahrener Redakteur von uns wird die Administration und Moderation des WOM übernehmen. Und der befristet angestellte Journalist oder die Journalistin wird alle Freiheit und Phantasie entwickeln können, um möglichst viele potentielle Nutzer aus ihrer bisherigen bequemen Ecke herauszuholen und zum aktiven Dialog auf dem öffentlichen Meinungsmarktplatz zu ermutigen. Das Wahljahr 2017 wird sicher einen zusätzlichen Motivationsschub erzeugen, um den Bürger zu einem ‚mündigen‘ Bürger werden zu lassen. So, jetzt habe ich genug geredet. Ich bin gespannt, was Sie zu unserer Idee meinen, und wie Sie sich eine Mitarbeit in unserer Redaktion vorstellen können.“
Chefredakteur Jung hatte mehr Augen als Ohren für die Kandidatin übrig. Jasmins Aura nahm ihn gefangen, ohne dass es ihm recht bewusst wurde. Schon nach den ersten Ausführungen über ihre bisherigen Erfahrungen war Herr Jung entschlossen, ihr die Stelle anzubieten. Das konnte er zwar nicht allein entscheiden, die zuständige Direktorin hatte ein gewichtiges Wort mitzureden, aber er würde eine Empfehlung abgeben, der seine Chefin kaum widersprechen könnte. Was Herrn Jung dann völlig überzeugte, waren die Ideen, die Jasmin hatte, das Modell-Projekt praktisch anzugehen. Sie schlug vor, im Januar 2017 mit dem künftigen Administrator des WOM erst die Website fix und fertig einzurichten und anschließend einen genauen Arbeitsplan auszuarbeiten, der der Redaktion zur Stellungnahme vorgelegt würde. Sie wäre bereit, das Weserbergland, vor allem den Wahlkreis 46 Hameln-Pyrmont/Holzminden, der Länge nach ‚abzuwandern‘ und an jedem Ort mit allen gesellschaftlichen Gruppen Kontakt aufzunehmen, um sie für das Projekt zu begeistern. Dabei würden ihre eigenen journalistischen Beiträge sozusagen als Köder für den öffentlichen Meinungsaustausch ausgelegt. Sie nannte Beispiele des ‚Arabischen Frühlings‘, wo Online-Foren Auslöser öffentlicher Meinungsbildung wurden.
Als sich Jasmin verabschiedete, legte Herr Jung seinen rechten Arm kumpelhaft auf Jasmins Schulter und meinte, sie würde bald von ihm hören. Und so war es denn auch. Der RND entschied sich für sie. Beginn Dezember begab sie sich noch einmal in das Redaktionsgebäude nach Hannover, um ihren Vertrag zu unterschreiben. Dabei lernte sie auch die zuständige Direktorin kennen.
Die Weihnachtsfeiertage verbrachte Jasmin bei ihren Eltern in Berlin. Zu Silvester war sie zurück in Münster und feierte mit Tom und einigen Studienkollegen. Alle beglückwünschten sie zu diesem interessanten Job. Ihr Doktorvater gab ihr Tipps, wie sie Interviews am besten durchführen und auswerten solle. Aber er wusste auch, dass Jasmins Intuition und ihre Menschenkenntnis die besten Voraussetzungen waren, um sich auf den Weg der Suche nach der ‚deutschen Seele‘ und der Wahrheit hinter der demokratischen Fassade zu machen. Schwierig wurden ihre Auseinandersetzungen mit Tom. So stolz er einerseits auf Jasmin war, diesen Job ergattert zu haben, so haderte er andererseits darüber, dass sie ab Januar nur noch gelegentlich nach Münster zurückkommen würde.
Die Nacht des ersten auf den zweiten Januar war ihre letzte gemeinsame Nacht vor ihrer Abfahrt nach Hannover zur RND-Redaktion. Jasmin hatte ihre Sachen bei Tom untergebracht. Ihr Appartement am Rande der Stadt hatte sie gekündigt.
„Lass uns noch einmal in der nächtlichen Altstadt spazieren gehen. Du weißt ja, wie ich sie liebe. Wann ich das nächste Mal zurückkommen kann, steht in den Sternen.“ Jasmin wollte Arm in Arm mit Tom die verlassenen, Frieden ausstrahlenden Straßen und Gassen durchstreifen, die ihr in diesem Jahr nach vier vergangenen Bürgerkriegsjahren im Orient die innere Ruhe wiedergebracht hatten. Gottseidank keinen Bombenalarm mehr, keine Gefahr, die an jeder Ecke lauert, kein Elend von Kindern und Verwundeten, kein Hunger, keine erbärmlichen Unterkünfte in Flüchtlingslagern, keine Demonstrationen mehr, die von Polizei und Militärs im Keim erstickt wurden, keine verlorenen Hoffnungen auf Freiheit und eine bessere Welt. Und doch bedauerte sie es, jetzt nicht mehr die bedingungslose Freundschaft und Wärme mit verzweifelten Menschen in äußerster Not zu teilen. In den Jahren des ‚Arabischen Frühlings‘ hatte sie zum ersten Mal Menschen nackt erlebt, ohne Maske, ohne Kleider, hinter denen sie sich verbergen konnten. Auf der Schwelle äußerster Not gibt es kein Theater mehr. Da gibt es nur den Schritt in den tödlichen Abgrund oder das Geschenk des nackten Lebens und der offenen Seelen. Die kalte und doch beruhigende Nachtluft und die Nähe des Freundes an ihrer Seite würden Jasmin helfen, die bösen wie die guten Geister aus ihrer Erinnerung zu verjagen. Wenigstens für diese Nacht. Nichts wäre schöner als danach still an Toms Seite einzuschlafen!
„Jasmin, besuche mich, so oft es geht. Du weißt, wie ich mich in Dich verliebt habe. Ohne Flachs, noch nie hat mir eine Frau so viel bedeutet.“ „Oh Tom, wirst Du nun poetisch? Übertreib mal nicht. Ich werde nicht aus der Welt sein. Außerdem hast Du hier Deinen Freundeskreis. Einige Studienkolleginnen warten nur darauf, meinen Platz einzunehmen.“ Während Jasmin so mit ihm scherzte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab Tom einen beherzten Kuss auf den Mund. Ein vorüber eilender Nachtschwärmer rief den beiden zu: „Ich will auch Einen! Habt ein Frohes Neues Jahr!“ „Na, wenn das kein gutes Omen für 2017 ist! Komm Tom, lass uns in der nächst besten Kneipe noch ein Bierchen trinken.“
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Zwei Tage darauf machte Herr Jung Jasmin mit ihrem zukünftigen Arbeitskollegen, dem Administrator und Moderator des WOM-Projektes, bekannt. Ralf R. war ein gewiefter Fuchs im Metier und arbeitete jetzt als Freier Mitarbeiter des RND. Er war schon einige Jahre in Rente. Doch die war zu schmal, um seiner krebskranken Frau bestmögliche Behandlung zu ermöglichen. Er war gezwungen, hinzuzuverdienen, obwohl auch seine Gesundheit nicht mehr die beste war. Er liebte die Redakteursarbeit und war nie darauf versessen gewesen, in der Redaktions-Hierarchie hinaufzuklettern und Chefposten zu ergattern. Er war eine ehrliche Haut. Mitarbeiter schätzten seine menschlichen Qualitäten. Mit Jasmin verstand er sich auf Anhieb. Der RND hatte für das Projekt ‚Weserbergland-Online-Magazin‘ ein kleines, bestens eingerichtetes Büro in der Nähe des Hauptgebäudes angemietet. Und nicht weit vom Büro entfernt fand Jasmin für den Januar, in dem sie mit Ralf in Hannover die Arbeit des Projektes vorbereiten wollte, ein möbliertes Zimmer in einer gemütlichen Pension.
„Jasmin, hast Du bereits einige konkrete Ideen, wie Du ab Februar das Projekt im Weserbergland angehen willst? Von der Redaktion des RND wurden bereits Schulen und Ausbildungsstätten, öffentliche Institutionen, lokale Medien, politische Parteien und wichtige Vereine über das Pilot-Projekt vorab informiert. Wir haben das Ganze unter dem Motto ‚Größere Meinungsvielfalt und Mehr Demokratie‘ gemäß unserem gesamtgesellschaftlichen Auftrag angekündigt. Das wird Dir die Kontaktaufnahme in der Region erleichtern.“
Ralf hatte sich und Jasmin eine Tasse Kaffee gekocht und sie bereits mit der neu eingerichteten Website des WOM bekannt gemacht. „Ralf, ich denke, meine Rundreise im Weserbergland und im Wahlkreis Hameln-Pyrmont/Holzminden sollte zuerst in den beiden Kreisstädten Hameln und Holzminden beginnen, wo ich Kontakt mit der lokalen Verwaltung, lokalen Medien, den Parteien und den Interessengruppen aufnehmen will. Ich werde mich und das Modell-Projekt vorstellen und um rege Nutzung werben. Das könnte im Februar über die Bühne gehen. Sicher, all diese Institutionen, Organisationen und Vereine werben mit ihrer eigenen Website. Aber dort kann der Bürger allenfalls Kommentare einstellen. Öffentlicher Meinungsaustausch wie im WOM angeboten: Fehlanzeige? Von März an bis zum Wahltag würde ich dann gern die wichtigsten Orte des Wahlkreises ansteuern und dort versuchen, vor allem den sogenannten Normalbürger, der nicht in Parteien organisiert und der Politik überdrüssig ist, für unser Demokratie-Projekt zu gewinnen. Wir werden sehen, inwieweit sich der bisher passive Bürger aus seinem Schneckenhaus herauswagt und in eine öffentliche Auseinandersetzung mit anderen Menschen bereit ist einzusteigen. Ich werde so viel wie möglich Interviews führen und sie im WOM veröffentlichen, wo sich dann hoffentlich der Normalbürger als Leser, Schreiber und Kommentator einloggt, um gleichfalls aktiv Stellung zu beziehen. Wir werden sehen, ob er seine bisherige Passivität über Bord wirft. Es wäre toll, wenn sich die Menschen angewöhnen würden, gleich morgens früh, noch vor der Arbeit oder Schule die WOM-Website aufzuschlagen, um die neuesten Nachrichten zu überfliegen. Vielleicht haben sie dann am Abend nach getaner Arbeit genügend Interesse, bei der aktiven Mitgestaltung des Meinungsmarktes mitzuwirken. Viel wird darauf ankommen, ob und wie die für die Mehrheit der Menschen wichtigen Themen auf die Tagesordnung kommen.“
Ralf, der zeitlebens als leidenschaftlicher Redakteur versucht hatte, so unabhängig und wahrhaftig wie möglich über das Zeitgeschehen zu berichten, hatte immer bedauert, wie uninteressiert die Masse der Bürgerinnen und Bürger gesellschafts-relevante Nachrichten aufnehmen. Er war sich bewusst, dass das politische System in der Republik Schuld daran hatte. Die Menschen würden nicht an den für sie wichtigen Entscheidungen beteiligt. Letztere würden entweder durch die wirtschaftliche oder politische Elite getroffen, und die Medien hätten dieses System abzusegnen und nicht zu hinterfragen. Am eigenen Leib hatte er des Öfteren erfahren müssen, dass seine Vorgesetzten in der Redaktion Vorgaben machten, wie er seine Arbeit zu erledigen hätte. „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht,“ und der Redakteur sei gehalten, diese Ruhe nach bestem Wissen und Gewissen zu fördern. Gesellschaftliche Unruhe sei nachteilig für die Wirtschaft und könnte für Parlament und Regierung unvorhersehbare Konsequenzen haben. Jasmins Begeisterung für das WOM-Projekt steckte ihn an, wenigstens einmal als Redakteur sozusagen auf der Seite des kleinen Mannes zu stehen und nach Kräften zu seiner Emanzipation beizutragen. Doch das könnte Unwägbarkeiten zur Folge haben. Mehr für Jasmin als für ihn. Er stellte sich vor, gegenüber Jasmin eine väterliche Rolle einzunehmen, um ihren jugendlichen Schwung einerseits mit seiner Erfahrung zu unterstützen und sie andererseits vor Gefahren und Fallen, die sich auftun könnten, zu schützen.
Mitten in der angeregten Diskussion klingelte Jasmins Telefon. Die Sekretärin von Chefredakteur Jung war am Apparat. Jasmin möchte doch bitte in einer Stunde zu einem Arbeits-Mittagessen in ein bekanntes nahegelegenes Restaurant kommen.
Jung hatte in einem eleganten italienischen Restaurant einen Tisch für Zwei in einem ruhigen, warmen Nebenraum mit Blick auf einen angrenzenden Park reservieren lassen. Jasmin wurde vom Ober an den Tisch geleitet. Ihr Chef war noch nicht da. So konnte sie in Muße die ausgelegte Speisekarte studieren und die Fußgänger im Park beobachten, die sich mit vorgehaltenem Schirm gegen Wind und Regen zur Wehr setzten. Was wollte wohl Jung mit ihr besprechen? Warum dieses Treffen im Restaurant?
Der Chef schien bester Laune zu sein, entschuldigte sich für die Verspätung und orderte wie selbstverständlich zwei Aperitifs. Aus Höflichkeit widersprach Jasmin nicht, machte aber sogleich klar, dass sie das Essen mit einem stillen Wasser einzunehmen gedenke. „Jasmin, Du bist selbstverständlich eingeladen. Möchtest Du nicht doch einen Wein oder ein Bier?“ „Danke, aber während der Arbeit ziehe ich stilles Wasser vor.“ „Gut, Herr Ober, dann ein Stilles für die Dame und für mich einen Weißen. Was haben Sie denn heute als Tagesmenu?“ „Ich kann Ihnen da Champignon-Risotto empfehlen.“ Der Chef und Jasmin waren damit einverstanden und wählten noch einen gemischten Salat dazu.
„Jasmin, weswegen ich Dich zum Arbeitsessen einlud: Jeder Arbeitstag ist gedrängt voll mit Terminen und der Planung und Erstellung unseres Online-Programms. So muss ich häufig Besprechungen als Arbeitsessen außer Haus durchführen. Mich hier mit Dir zu treffen ist mir sowieso lieber als im Büro. Gut, jetzt zur Sache. Das WOM-Projekt wird hauptsächlich in Ralfs und Deine Verantwortung fallen. Ich habe vollstes Vertrauen in Euch. Du hast in Ralf einen exzellenten Redakteur an Deiner Seite, der jahrzehntelange Erfahrung mitbringt und Dir in allen Fragen beistehen kann. Ich werde mich um das Pilot-Projekt nur einmal zu Beginn jeder Woche kümmern. Andererseits ist das Projekt für uns so wichtig und innovativ, dass ich von Euch beiden am Ende jeder Woche einen komprimierten Fortschrittsbericht erwarte, den ich dann an die Direktorin weiterleite. Bei unvorhergesehenen Ereignissen stehe ich selbstverständlich jederzeit zur Verfügung und Du kannst mich anrufen, wann immer Du willst. Wie kommt ihr beiden mit den Planungen voran? Denkst Du immer noch daran, ab ersten Februar nach Hameln aufzubrechen?“
Jasmin bejahte und erläuterte Jung ihr geplantes Vorgehen.
„Jasmin, ich hätte doch beinahe etwas Wichtiges vergessen: Die von uns benachrichtigten privaten Online-Medien in der Projektregion haben sich gemeldet und ihrer Besorgnis Ausdruck verliehen, wir könnten ihnen Kunden wegnehmen, da wir unser Projekt WOM kostenlos und ohne Werbung anböten. Die privaten Medien befinden sich untereinander in einer scharfen Wettbewerbssituation und stehen allesamt unter enormem Kostendruck. Wir haben auf unseren öffentlichen Auftrag zur politischen Willensbildung beizutragen hingewiesen. Angesichts eines ungeheuren Rechtsrucks im Lande müsse unbedingt etwas gegen Politikverdrossenheit und für Erweiterung der Meinungsvielfalt unternommen werden. Größerer Wettbewerb unter Online-Medien würde auch deren Qualität verbessern. Was ich damit sagen will: Du wirst einen schweren Stand gegenüber Kollegen und Kolleginnen der privaten Medien haben. Aber lass Dich dadurch nicht entmutigen. Du hast meinen Segen und den Segen unseres Hauses.“
Der Kellner brachte das Essen, was vorzüglich schmeckte. Nach dem offiziellen Teil der Besprechung war Jung interessiert, mehr Persönliches über Jasmin zu erfahren. Er meinte, es sei immer von Vorteil, wenn Mitarbeiter mehr über sich wüssten. Das würde Umgang und Vertrauen untereinander verbessern, wovon auch die Arbeit profitieren würde. Er selbst erzählte von seiner Familie. Seine Frau und seine Töchter wären oft ungehalten über die wenige Zeit, die er seiner Familie widmen könne. Aber sollte er etwa seine Karriere aufs Spiel setzen, nur weil Frau und Töchter das verlangten? Glücklicherweise hätte seine Frau jüngst eine Stelle in einer Werbeagentur angenommen. Seitdem gäbe es weniger Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten. Auch seien die beiden Töchter seit einiger Zeit nach der Schule vollauf mit Freizeitaktivitäten beschäftigt, so dass jeder in der Familie einen unabhängigen Weg verfolge. Jasmin fragte sich, warum Jung ihr diese Einzelheiten über seine Familie offenbarte. Sie selbst machte nur wenige Andeutungen über ihr Privatleben und erweckte den Anschein, primär an ihrem professionellen Fortkommen interessiert zu sein. Sie spürte instinktiv, dass ihr Chef wissen wollte, wie sie es denn mit Männern hielte. Offensichtlich hatte er mehr als nur professionelles Interesse an ihr. Aber sie ließ sich nicht in ihre Privatsphäre hineinsehen. Das wiederum machte sie in Jungs Augen rätselhaft und umso anziehender. Er war jetzt 50 Jahre alt, fühlte sich in seiner Arbeit absolut kompetent und wollte höher hinaus. Fachlich konnte sich seine Direktorin hundertprozentig auf ihn verlassen, doch ihr war auch bewusst, dass ihr in Jung ein selbstbewusster, ambitionierter Konkurrent heranwuchs.
Als Jung und Jasmin nach dem Essen den Espresso genossen, schwiegen beide und schienen ihre Aufmerksamkeit auf das unwirtliche Wetter im Park gerichtet zu haben. Doch insgeheim fragten sie sich, was wohl jeder vom anderen dachte. Bei Jung kam außerdem ein Ärger über sich selbst hinzu, der bereits seit dem ersten Treffen mit Jasmin aufgekommen war. Warum geriet seine bei anderen Menschen gefürchtete und auch bewunderte Souveränität gegenüber einer weit jüngeren und von ihm abhängigen Kollegin ins Wanken und machte ihn unsicher? Was wollte er von Jasmin?
Nach dem Essen hatten Ralf und Jasmin eine ausgedehnte Diskussion über mögliche Themen, die in diesem Wahljahr geeignet wären, den Meinungsaustausch der Bürger anzuregen. In Meinungsumfragen hatten die Mainstreammedien bereits die wichtigsten Fragenbereiche, die die Menschen im Lande bewegten, herauskristallisiert. Darunter waren Themen wie Soziale Gerechtigkeit, Flüchtlinge und Integration, Innere und Äußere Sicherheit, Europa, Umwelt und Frieden. „Jasmin, ich rate Dir auch, die privaten Online-Medien des Weserberglandes durchzusehen, um die lokalen und regionalen Themen zu studieren, die die Menschen in dieser hauptsächlich ländlich geprägten Region interessieren. Bevor Du Deine Rundreise beginnst, sollten wir eine Aufstellung der überregionalen, regionalen und lokalen Themen fertig gestellt haben. In den Bürger-Versammlungen und Deinen Interviews kannst Du dann herausfinden, welche Themen den Menschen am meisten am Herzen liegen und sie darüber zum Meinungsaustausch anregen. Am liebsten würde ich Dich bei dieser interessanten Arbeit begleiten. Aber einer muss die Administration und Moderation des WOM bewerkstelligen. Auf jeden Fall sind wir in ständiger Kommunikation und werden aufpassen, dass uns keine Trolle und Neonazis das Projekt kaputt machen. Dagegen werden wir uns zu schützen wissen. Ohne unser Ok wird es keine Veröffentlichung von Kommentaren und Beiträgen geben. Nutzer müssen sich identifizieren und die schwarzen Schafe werden zum Meinungsaustausch nicht zugelassen.“
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Jasmin und Ralf waren nach einem Monat ein gut eingespieltes Team. Jasmins Verhältnis zu Jung war dagegen von ständiger Spannung geprägt, da sein Werben um sie zunehmend heftiger wurde. Er machte Andeutungen, sie das eine oder andere Mal im Weserbergland besuchen zu wollen, um den Verlauf des Projektes an Ort und Stelle in Augenschein zu nehmen. Jasmin war froh, am ersten Februar in Hameln einzutreffen. Sie hatte Glück, in Bahnhofsnähe eine ruhiges Zimmer in einer netten Pension für zwei Wochen anmieten zu können. Zu Fuß erkundete sie die schöne Altstadt und genoss anschließend von der Klütseite aus die Sicht auf das winterliche Hameln. Die Rattenfängerstadt hatte sie bis dahin nur einmal flüchtig mit Tom besucht.
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