28 Sep 2018

Die kranke deutsche Demokratie - 3. Folge

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie - 3. Folge

Realität: Beginn meines Wahlkampfes in Bad Münder am Deister

(geschrieben Anfang Maerz 2017)

Foto: Wikimedia Commons: Merian-Stich meiner Geburtsstadt von 1654 

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Schon die Ankunft nach mehr als fünfzig Jahren Abwesenheit aus der Stadt war ernüchternd. Sicher, ich war immer mal wieder auf  Kurzbesuch in der kleinen Stadt. Die Stadt meiner Kinder- und Jugendzeit, die Stadt meiner Pfadfinderzeit, des politischen und sexuellen Erwachens, sie hatte im Laufe der Zeit viele Veränderungen durchgemacht. Es gab eine Phase der Renovierung der Altstadt und parallel dazu die De-Industrialisierung mit dem Verlust vieler Arbeitsplätze in der Holz- und Glasindustrie und des Verschwindens von biologischer Diversität, verursacht durch subventionierte Monokulturen in der Landwirtschaft. Jetzt im März empfing mich die Stadt mit Regen, Wind und Temperaturen um die zehn Grad herum, die ich als ausgesprochene Kälte empfand. War ich doch seit Langem ein Mensch der Tropen geworden.

                Meine neue Herberge für die Monate März und April war eine preisgünstige, zentral gelegene Pension, in der ich ein kleines Zimmer angemietet hatte. Zimmernachbarn waren zumeist Montagearbeiter während der Woche. An den Wochenenden erfreuten sich Pärchen der Anonymität der Pension. Was mir erstmals widerfuhr und mich erstaunte, war die erlaubte Unterbringung von Hunden auf dem Zimmer. Offensichtlich gab es in Deutschland heutzutage viele Menschen, die auf ihr Haustier selbst auf Reisen nicht verzichten konnten. Ich wusste nicht, wie die Hauswirtin es jeden Tag schaffte, den Hundegeruch aus Zimmern und Stockwerk zu verbannen. Die zentrale Lage meiner temporären Unterkunft erlaubte es mir, alle Wege in der Stadt zu Fuß zurückzulegen. Und nach Hameln, der Kreisstadt, gibt es Bus- und Bahnverbindung. Besonders die „öffis“-Busse in Hameln-Pyrmont wurden in der Zeit meiner Wahlkampagne zu meinem bevorzugten Verkehrsmittel, wenn die Zufuss-Fortbewegung nicht mehr ausreichte.

                Schon in den ersten Tagen nach meiner Ankunft wurde mir das ganze Dilemma meines Wahlkampfes offenbar. Ich hatte damit gerechnet, rasch ein Bürgerkomitee zur Unterstützung meiner Kampagne aufstellen zu können. Kontakte, die ich von Panama aus geknüpft hatte, erwiesen sich als trügerisch. Freie Wählerinitiativen, die bei Kommunalwahlen antreten, werden nur in dieser Zeit im lokalen Rahmen aktiv. Darüber hinaus kann man von ihnen keine Unterstützung erwarten. Die wenigen Bekannten, die ich noch hatte, alle in meinem Alter, waren skeptisch, was meine Kandidatur anbelangte, außerdem waren sie überwiegend Sympathisanten etablierter Parteien. Kurzum, die Bildung eines Unterstützerkomitee in meiner Heimatstadt konnte ich in den Wind schreiben. Ich kam mir wie ein Fremder in meiner Geburtsstadt vor, und das sollte sich auch während der gesamten Wahlkampagne nur geringfügig ändern.

                Während meines Urlaubs in 2014 und 2015 hatte ich einen Projektvorschlag für Bad Münder ausgearbeitet, um dort ein Europäisches Berufsausbildungszentrum zu errichten. Die Jugendarbeitslosigkeit in südeuropäischen Ländern erreichte fast 50% und die EU stellte Milliarden Euros bereit, um eine „verlorene Generation“ zu verhindern. Und Deutschland litt unter Fachkräftemangel. Was lag da näher, als einen Lösungsansatz zu versuchen, der das deutsche Dual-Ausbildungssystem als Modell für die Bewältigung dieser Problemlagen verwendet und außerdem in der Stadt und im Weserbergland insgesamt vorhandene, doch brachliegende Kapazitäten ausnutzt, bei gleichzeitiger Förderung des europäischen Gedankens. In 2016 erweiterte ich diesen Vorschlag mit der Integration von jungen Flüchtlingen. Aber so wie ich mit diesen Vorschlägen auf eisige Ablehnung bei Landratsamt und Agentur für Arbeit stieß, so erntete ich ebenfalls zu Beginn meiner Kampagne eisiges Schweigen bei unseren sogenannten staatstragenden Parteien, bei öffentlichen Verwaltungen sowie bei mächtigen Interessengruppen wie IHK und DGB. Entwicklungs-Vorschläge von außerhalb etablierter Seilschaften verdienten keinerlei Aufmerksamkeit.  

                In meinem angemieteten Zimmer funktionierte das Internet, auf das ich mangels persönlicher Kontakte hauptsächlich angewiesen war, nur phasenweise. Dafür konnte ich mich über die Heizung nicht beklagen. Nach meinen Spaziergängen durch die abweisende Stadt hatte ich wenigstens eine Herberge, in der ich die  typischen Werktätigen an den Abenden bei Bier, Fernsehen und Bildzeitung antraf und mit ihnen ins Gespräch kam. Wieder musste ich mich an meine Studentenzeit erinnern, in der ich als Gelegenheitsarbeiter in verschiedensten Betrieben arbeitete, und in der eine gedankliche Beschäftigung mit gesellschaftlichen Fragen ‚Täglich Brot‘ war. Die Studenten-, Schüler- und Frauenbewegung zwangen dazu. Demgegenüber zwingt heute keine Bewegung zum Nachdenken, es sei denn PEGIDA, AfD und die Flüchtlingsproblematik schrecken den Bürger zeitweilig aus seiner bequemen und satten Ruhe.

                Nochmals rief ich mir die Schritte ins Gedächtnis, die mich in meine alte Heimat zurückgeführt hatten. Im Sommer 2016 hatte ich mich entschieden, als unabhängiger Bürgerkandidat bei der BT-Wahl anzutreten. Im Oktober stellte ich in einem Online-Magazin mein ausführliches Wahlprogramm vor. Danach folgte ein zusammengefasstes Programm. Den Ausschlag für meine Kandidatur gab die m. E. völlig verfehlte Politik der GROKO, die Deutschland und die EU in eine äußerst kritische Situation hineinmanövriert hatte (Sozialpolitik mit Verbreiterung von Armut als Folge der Agenda 2010, erratische Flüchtlings- und Integrationspolitik und Spaltung Europas durch Spardiktat). Das I-Tüpfelchen war der immer stärker um sich greifende übersteigerte Nationalismus und die Fremdenfeindlichkeit. Ich meinte, da trotz Alters nicht beiseite stehen und zusehen zu können, wie Weiterso und Xenophobie meine Heimat kaputtmachen.

                Sicher bereitet mein Engagement Kopfschütteln und Unverständnis, selbst unter Weggenossen, da sich eine breite Mittelschicht noch mit dem Parteienstaat und der sogenannten Sozialen Marktwirtschaft identifiziert. Noch ist die Katastrophe nicht vollends ausgebrochen, das Dach über Deutschland noch nicht in Flammen aufgegangen und die mehr oder weniger üppigen monatlichen Einkünfte und Rentenbezüge schrecken nicht aus der Geruhsamkeit auf. Für den Niedriglohnsektor sieht das allerdings anders aus, aber davor verschließt die Mittelschicht die Augen.

                Jetzt hat auch ein Herr Schulz, über den man wenig weiß, zusätzlich für Optimismus gesorgt, da endlich eine Alternative zu Frau Merkel im Raum steht, die die Mehrheit der Menschen im Lande einfach satt hat. Eine Neuauflage der GROKO steht im Raum, dieses Mal mit einem SPD-Kanzler an der Spitze. Man möchte meinen, die Soziale Marktwirtschaft und Europa werden irgendwie fortdauern, wenn auch stümperhaft und ohne jede Zukunftsvision. Jedenfalls scheint die Katastrophe abgewendet, vor allem, weil dem Islamismus durch Polizei- und Überwachungsstaat die Zähne gezogen werden sollen und sich AfD und BT-Parteien in Abschottungs-Maßnahmen gegenseitig übertreffen.

                Gegen diese unselige visionslose Entwicklung in Deutschland und Europa setze ich mit anderen unabhängigen Bürgerkandidaten auf eine längst fällige Bürger-Emanzipation, um die im GG verbriefte Souveräns-Rolle des Bürgers nach mehr als 70 Jahren Nachkriegsentwicklung zu erobern. M. E. sollte der Parteienstaat zugunsten einer Bürger-Republik mit direkter Demokratie abgeschafft werden. Wenn der Bürger nach Meinung der BT-Parteien fähig ist, unter diesen Parteien zu wählen, die alle nach Macht und Pfründen gieren, dann ist er auch fähig, über die lebenswichtigen Fragen unseres Landes mitzubestimmen.

                Was meinen Wahlkampf im Weserbergland anbelangt, so ist mir vor allem wichtig herauszufinden, wie groß das Potenzial an Menschen ist, die bereit sind, eine Systemänderung in Deutschland in Richtung auf ein humanistisches und weltoffenes Land anzugehen. Ich werde darüber auf meiner persönlichen Website (hermann-gebauer.de) und einer Online-Weserbergland-Zeitung (wbl-online.net) berichten, die allen Bürgern und Bürgerinnen für Beiträge und Kommentare offen stehen soll: Eine Zeitung von Bürgern für Bürger ohne Zwischenschaltung von Kapitalinteressen und Profi-Journalisten. Beide Websites gehen in Kürze online und sind Teil des Mottos: ‚Auf zur Bürgerrepublik!‘

 

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Fiktion: Start des "Weserbergland-Online-Maganzins" in Hameln

 

Foto: Wikimedia Commons, Rattenfaenger-Stadt Hameln, Lithographie von 1902

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Im Lehrerzimmer des ältesten Hamelner Gymnasium fanden sich Rektorinnen und Rektoren der Hamelner Gymnasien und einige Lehrerinnen und Lehrer ein, um mit Jasmin das Modell-Projekt ‚Weserbergland-Online-Magazin‘ und seine Relevanz für die Schüler des Weserberglandes zu diskutieren. Das Schreiben von RND und IPB hatten Neugier, eine gehörige Portion Skepsis und auch unterschwellig Ablehnung hervorgerufen, konnte es doch indirekt als Versagen der Schulen aufgefasst werden, die heutige Jugend nicht genügend zur aktiven Teilhabe am demokratischen WIillensbildungsprozess zu begeistern. Für Jasmin war dieses Treffen und sein Ergebnis von großer Bedeutung. Es markierte den Beginn des Einstiegs in ein Demokratie-Experiment, dass es so vorher in der Republik nicht gegeben hatte.

                Unter den Teilnehmern des Treffens gab es anfangs Verwunderung, dass der RND eine so junge Journalistin mit dem Projekt betraut hatte. Doch das Erstaunen wandelte sich alsbald in Respekt und bei jüngeren Lehrkräften in Bewunderung. In charmanter und kompetenter Art wehrte sie die Skepsis gegenüber dem Modell-Projekt ab. Selbst überzeugte Parteigänger der großen Parteien konnten das überwiegend negative Bild, das Jugendliche von der Politik und den Politikern haben, und das immer wieder in Untersuchungen bestätigt wurde, nicht leugnen. Ein Engagement für die Gesellschaft haben Jugendliche durchaus. Doch das betrifft eher Umweltfragen und Unterstützung humanitärer Anliegen als Engagement für politische Parteien. „Woran liegt das? Was machen Schulen falsch oder ungenügend? Und was macht die Politik falsch,“ fragte Jasmin.

                „Ich meine nicht, dass wir viel falsch machen,“ antwortete eine Lehrerin, die eine politische Arbeitsgemeinschaft für die Oberstufe anbietet. „Wir problematisieren die gesellschaftlichen Geschehnisse im Unterricht. Wir haben Schülerzeitungen, in denen die Schüler die ihnen wichtigen Fragen diskutieren können. Umfragen ergeben auch, dass neben dem Elternhaus die Schule die wichtigste Informationsquelle für junge Leute ist, mehr als die Medien. Da können wir also nicht so viel falsch gemacht haben.“

                „Wenn ich an meine Schulzeit in Berlin zurückdenke, und das ist gar nicht so lange her, muss ich sagen, dass wir als Schüler und Schülerinnen immer nur das von Eltern und Schule eingetrichtert bekamen, was sozusagen herrschende politische Meinung im Lande war, was der Mainstream war, oder was als ‚political correctness‘ beschrieben wird. Ausnahmen davon hatten Seltenheitswert. Meine Eltern haben mir über die 60er, 70er und 80er Jahre erzählt, dass damals die Jugend gerade diesen Mainstream, den politischen Hauptstrom der kapitalistischen Gesellschaft, infrage stellte und das gesamte Spektrum an gesellschaftlichen Möglichkeiten kennenlernen und ausprobieren wollte. Ich glaube heute werden Fragestellungen, die über die herrschende Meinung hinaus gehen, viel zu wenig in den Raum gestellt. Das verursacht Frustrationen bei der Jugend und sie wendet sich von Politik und politischen Parteien ab. Das vom RND und dem IPB angedachte WOM-Projekt will gerade die Jugend zum Fragen, zum Diskutieren und Agieren aufrufen. Es sind dann nicht mehr Eltern, Lehrer, Journalisten und politische Parteien, die Themen vorgeben und lediglich Kommentare zulassen. Es sind die jungen Bürger selbst, die unvoreingenommen die ihnen lebenswichtigen Fragen aufwerfen und so aus ihrer bisherigen Konsumentenhaltung herauskommen. Junge Menschen wollen ernst genommen werden und mitgestalten. Es geht schließlich um ihre Zukunft. Und im Rahmen des Weserbergland-Online-Magazins sollen sie ihrer Phantasie und ihren Vorstellungen von der Zukunft angstfrei nachkommen können. Das kann in Wort, in Bild und auch Video geschehen. Da sind keine Grenzen gesetzt. Zu Hass und zu Gewalt aufzurufen sowie persönlich zu verunglimpfen wird jedoch unterbunden. Und um persönliche Ängste zu umschiffen, am öffentlichen Meinungsmarkt teilzunehmen, soll die Möglichkeit geschaffen werden, unter einem Pseudonym zu veröffentlichen. Jeder Teilnehmer des Magazins wird auch über alle Nachrichten und Informationen des RND kostenlos verfügen können. Für Werbung ist kein Platz auf der Website.“

                „Das WOM-Projekt hört sich theoretisch erst einmal überzeugend an,“ warf der gastgebende Rektor ein. „Aber ob unser ländlich geprägtes Weserbergland die geeignetste Region ist, um so ein Demokratie-Experiment zu starten, wage ich zu bezweifeln. Sicher wäre eine Großstadt wie Hannover oder Göttingen ein besserer Nährboden für ein derartiges Projekt, da dort in der Regel die Menschen aufgeschlossener gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen sind als beispielsweise bei uns.“

                „Das hatten wir uns anfangs auch überlegt. Aber gerade die traditionellen gesellschaftlichen Bedingungen, die eine Region wie das Weserbergland mitbringt, hat uns in der Auffassung bestärkt, mehr Demokratie gerade hier zu versuchen. Das wird nicht leicht sein, denn die regionalen Interessengruppen haben das überschaubare gesellschaftliche Leben noch voll in der Hand. Andererseits liegt es in ihrem Eigeninteresse, wenn diese schöne Flusslandschaft eine dynamische Zukunftsperspektive entwickeln würde.“  

                Das Treffen mit den Vertretern der Gymnasien endete mit dem Beschluss, die interessierten Oberstufen-Schülerinnen und -Schüler in der kommenden Woche zu einer Veranstaltung mit Jasmin einzuladen, in der die Journalistin das Weserbergland-Online-Magazin vorstellen würde. Es wäre ratsam Smartphones mitzunehmen, um das Angebot vom RND und dem IPB sogleich ausprobieren zu können.

                Jasmin war recht zufrieden mit dem Ergebnis der Veranstaltung. Sie hatte stärkere Vorbehalte vonseiten der Schulen erwartet, denn das Projekt WOM war indirekt auch eine Reaktion auf das Versagen des Bildungssektors insgesamt, junge Menschen nicht nur für künftiges Berufsleben vorzubereiten, sondern sie auch für gesellschaftliche Teilhabe und Demokratie zu interessieren. In dieser Hinsicht ist allerdings den im Bundestag vertretenen Parteien der Hauptvorwurf zu machen. Sie sollen in erster Linie für politische Willensbildung im Lande sorgen und bekommen dafür neben 150 Mio. Euro jährlich an Parteienfinanzierung noch zusätzlich 500 Mio. Euro pro Jahr für ihre parteinahen Stiftungen. Doch in der Wertschätzung nicht nur von Jugendlichen stehen Politiker und ihre Parteien stets hinten an.

                Jasmin informierte Ralf und Jung über das Treffen und die geplante Veranstaltung mit den jungen Leuten in der kommenden Woche. Weiterhin hatte sie noch Kontakte mit der Stadt- und Kreisverwaltung, mit Vertretern von IHK und DGB sowie mit den wichtigsten Organisationen der Zivilgesellschaft geplant. Jung lobte ihren Einsatz und kündigte an, am Samstag nach Hameln zu kommen, um mit ihr abschließend die Aufmachung der Website WOM zu besprechen. Die Endfassung wollte er dann der Direktorin vorstellen. Mit Ralf hatte er noch kleine Änderungen besprochen. Er würde in einem Hotel neben dem Hamelner Theater logieren, in dem seine Sekretärin ein Zimmer reservieren würde. Seine Ankunft wäre gegen 18 Uhr. Für 19 Uhr lud er Jasmin zum Abendessen im Hotelrestaurant ein, um mit ihr alle Fragen hinsichtlich des Projektes durchzugehen. Für den RND sei dieses spezifisch regionale Online-Magazin komplettes Neuland und auch für ihn persönlich ein Unternehmen, das unbedingt von Erfolg gekrönt sein müsse.

                Jungs Besuch in Hameln war Jasmin ganz und gar nicht recht. Aber was konnte sie dagegen machen? Er war der Boss und schließlich der Hauptverantwortliche für das Projekt. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, das erste Februarwochenende nach Münster zu fahren. Tom bedrängte sie immer wieder, ihn doch wenigstens an den Wochenenden zu besuchen. Er war auch neugierig, wie sich ihre Arbeit anließ. Jasmin ihrerseits sehnte sich nach zwei arbeitsfreien Tagen in Münster, das ihr im vergangenen Jahr so lieb geworden war. Einfach mal ausspannen an der Seite des geliebten Freundes!

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Wie bei ihren vorherigen Begegnungen mit Jung war sie auch dieses Mal ziemlich aufgeregt. Die beruflichen Anforderungen waren nicht der Grund. Sie fühlte instinktiv, dass ihr Chef mehr von ihr wollte als nur einen guten Job zu machen. Wie sollte sie darauf reagieren, ohne Jung zu verprellen. Auch während ihrer Journalisten-Tätigkeit im Vorderen Orient wurde sie immer wieder mit Situationen konfrontiert, in denen ihr Kollegen den Hof machten. Sie wünschte sich ebenfalls dann und wann menschliche Wärme und Geborgenheit und gab dem Verlangen von Kollegen nach. Aber es waren immer flüchtige Beziehungen in Krisensituationen zwischen Menschen ohne Abhängigkeit voneinander. Mit Jung war das anders. Er war ihr Chef und verheiratet, sie eine befristete Angestellte mit einem festen Freund.

                Jasmin hatte sich einen weinroten, eng anliegenden wollenen Pulli mit dezentem Ausschnitt und einen schwarzen, knielangen Rock angezogen, passend für die kalte Jahreszeit. Darüber warf sie einen schwarzen wärmenden Mantel und machte sich auf einen zehn-minütigen Fußmarsch zum Hotel.  

                Jung, in legerer Freizeitkleidung, saß bereits an einem für zwei Gäste gedeckten Tisch in einer ruhigen Ecke des Hotelrestaurants. Als er Jasmin erblickte, erhob er sich, nahm ihr galant den Mantel ab, reichte diesen dem Kellner und rückte ihren Stuhl zurecht. Jung hatte es so eingerichtet, dass beide auf Eck saßen, Jasmin zu seiner Rechten. Beiden war bereits ein roter Martini serviert. Im Restaurant herrschte angenehm warme Atmosphäre bei heimeliger Beleuchtung. Zimmerpflanzen in großen Töpfen sorgten für Gartenatmosphäre. Dieser Empfang tat Jasmin nach ihrem abendlichen Spaziergang durch die Kälte gut. Der erste Schluck Martini bewirkte das Seine, sodass sie der Begegnung mit Jung in gespannter Ruhe entgegensah.

                Jung war eigentlich ein recht attraktiver Mann in seinen besten Jahren, dachte Jasmin. Er war groß und sportlich gebaut, dazu ein wacher Geist, und wenn er nicht so ein fürchterlicher Macho wäre, wären Frau und Kinder sicher zu beneiden. Jasmin konnte sich bisher über ihren Chef nicht beklagen. Ihr gegenüber schien Jung liebenswert, manchmal unsicher und dann wieder sehr bestimmend, wenn es um das Projekt ging. Die Unsicherheit im persönlichen Umgang ist wohl immer so, wenn Menschen sich nicht genügend kennen. Aber Jasmin fühlte sehr wohl, dass Jungs Unsicherheit auch daher rührte, dass er nicht genau wusste, wie er ihr Avancen machen könnte.

                Der Ober wollte die Bestellung aufnehmen. „Jasmin, Du bist eingeladen. Was möchtest Du essen? Vielleicht einen Krabbensalat als Entrée?“ Sie blätterte einen kurzen Augenblick in der Speisekarte. „Ich möchte etwas Leichtes. Krabbensalat d‘accord. Dazu nehme ich ein Omelett mit Kräutern und Rösti. Das wär‘s.“ „Ich werde mich da anschließen. Herr Ober, bringen sie das bitte zweimal und dazu einen fruchtigen Weißwein.“

                Während beide auf das Essen warteten und ihren Martini austranken, begann Jasmin über ihr Treffen mit den Lehrerinnen und Lehrern zu berichten. Jung meinte, die beste Strategie, um eventuelle Vorbehalte vonseiten der verschiedenen Institutionen und Organisationen gegen das Projekt zu kontern, sei die, das Projekt so darzustellen, dass es in ihrem ureigenen Interesse sei, wenn sich im Weserbergland mehr Demokratie und zivilgesellschaftliches Engagement regen würde. Die Interessengruppen könnten das WOM ebenfalls als Forum zur Eigendarstellung und zum Dialog mit dem Bürger nutzen. Jung war auch neugierig, etwas über Jasmins aufreibende Arbeit in Tunesien, Ägypten und Syrien zu hören. Dabei wurde das Essen gereicht, und die beiden stießen auf einen guten Beginn des Projektes an.

                Als Jasmin über eine Begebenheit in Ägypten erzählte, bei der sie beinahe wegen angeblicher Spionage im Gefängnis gelandet wäre, was Kollegen des arabischen Fernsehsenders Aljazeera widerfuhr, legte Jung auf einmal seine rechte Hand sanft auf Jasmins linke Hand. Innerlich zuckte sie zusammen. Wie sollte sie sich verhalten? In Bruchteilen einer Sekunde entschied sie sich, diese Geste zu tolerieren. Jungs Händedruck wirkte warm und tröstend, wie der eines guten Freundes oder Vaters, nicht unverschämt und besitzergreifend. Fast war sie dankbar für diese Berührung, nahm sie doch auch die Spannung weg, die zwischen beiden bestand. Nach kurzem Innehalten, zog sie sacht ihre Hand zurück und streifte ihrerseits flüchtig Jungs Handrücken, als wollte sie diesen streicheln. Dann wandte sie sich wieder mit Aufmerksamkeit ihrem Essen zu.

                Nach diesem kurzen Intermezzo nahmen beide in aufgeräumter Stimmung einen Espresso und einen Cognac zum Abschluss des Abendessens zu sich. Dann machte Jung, der sein Laptop mitgebracht hatte, den Vorschlag, auf seinem Zimmer die WOM-Website, so wie er sie mit Ralf arrangierte hatte, mit Jasmin zu besprechen. Sie hätte sicher zusätzliche Vorschläge zu machen, die sie gemeinsam einarbeiten könnten. Morgen müsste er nach dem Frühstück wieder nach Hannover zurück. Jasmin war einverstanden und so begaben sich beide auf Jungs Zimmer, das im zweiten Stock lag. Der Zimmerservice sollte noch zwei Martini bringen.

                Das geräumige Doppelzimmer hatte nur eine kleine Schreibkommode, dafür aber ein bequemes Sofa. Jung nahm den Laptop auf seine Knie und schlug die WOM-Website auf. Jasmin setzte sich zu seiner Linken, die Martinis in Reichweite auf einem Beistelltisch. Bevor sie sich in die Arbeit vertieften, prosteten sie sich abermals zu. So nahe waren sich beide bisher nicht gekommen. Sie spürten geradezu die körperliche Nähe des Anderen, nicht bedrohlich, eher spannungsgeladen. Beide wollten aus vollem Herzen dieses Abenteuer des Demokratieprojektes. Sie waren der Meinung, etwas müsse sich in Zukunft in Deutschland ändern, und ihr Projekt sei als Versuch zu betrachten, das erstarrte politische System aufzubrechen. Könnte doch nur eine neue humanistische und emanzipatorische Bewegung statt einer rückwärtsgewandten und fremdenfeindlichen in Gang gesetzt werden! Ein Gelingen dieses Unterfangens wäre beider und Ralfs Verdienst.

                Jasmin fand die Homepage gelungen mit dem Abruf regionaler, überregionaler und internationaler Nachrichten, die in Text, Bild und Videos angeboten wurden. Dann folgten die noch leeren Seiten, die die zukünftigen Nutzer mit eigenen Beiträgen selbst gestalten könnten: Zuerst eine Seite für Politik, dann Wirtschaft, Kultur, Alltag, Sport, Veranstaltungen und Seiten, die sich Institutionen und Organisationen nach ihrem Gusto einrichten könnten, bspw. Vereins- und Schülerzeitungen. Jasmin erklärte Jung, wie sie mit ihren eigenen Beiträgen auf den verschiedenen Seiten die zukünftigen Nutzer zum Selbstschreiben anregen würde. In der nächsten Woche wollte sie mit Schülerinnen und Schülern der Gymnasien einen ersten Test veranstalten. Sie nahm Jung den Laptop von seinen Knien und bettete ihn auf ihren Schoss, um Einfügungen zu machen.

                Jung ließ sie gewähren und nahm dabei die Gelegenheit wahr, ihre Hände in die seinen zu nehmen und ihr Mut zu machen. Er wusste, dass auf sie die größte Verantwortung des Projektes zukäme. Von ihrer Überzeugungskraft würde das Projekt leben und gedeihen oder aber nach kurzem Start verdorren, weil möglicher Gegenwind von einflussreichen Interessengruppen die zukünftigen Nutzer entmutigen könnte. Wie Jung so ihr Profil von der Seite betrachtete, während sie in ihrer Arbeit vertieft war, zog ein Verlangen in ihm auf, wie er es selten bei sich erlebt hatte. Dieses Gesicht von exotischer Schönheit, ihre Figur, die durch ihre enge Kleidung nur umso begehrlicher erschien und vor allem der Geruch ihres Körpers, der ihn durch ihre Kleider hindurch betörte, all das bereitete ihm einen sehnenden Schmerz, den er kaum ertragen konnte. Seit der ersten Begegnung mit Jasmin hatte sich nach und nach die fixe Idee festgesetzt, er müsse diese für ihn rätselhafte Frau eines Tages besitzen. Das Treffen in Hameln war von ihm bis in Einzelheiten geplant. Er konnte gar nicht anders, als seiner Familie und dem RND vorzumachen, er müsse sich um des Projektes willen ins Weserbergland begeben. Wie ein Getriebener war er mit seinem Wagen von Hannover nach Hameln gefahren, hatte sich im Hotel eingecheckt und sich auf seinem Zimmer für die Begegnung mit Jasmin vorbereitet.

                Jasmin machte ihre letzten Korrekturen auf der Website. Dann gab sie den Laptop zurück und meinte, so könne erst einmal in der nächsten Woche mit dem Projekt praktisch begonnen werden. Sie würde sich mit den Jugendlichen ein Thema überlegen, dazu einen eigenen Beitrag schreiben und dann die Schülerinnen und Schüler zu den ersten Beiträgen und Kommentaren animieren. Dann käme es darauf an, ob sich eine eigene Dynamik für das Projekt entwickeln würde. Jung stimmte dem zu und legte den Laptop auf der Kommode ab. Beide holten sich aus der kleinen Zimmerbar noch einen Drink und stießen zum wiederholten Mal auf das Projekt an.

                Danach nahm Jung all seinen Mut zusammen und fragte Jasmin, was ihm schon lange auf der Zunge lag: „Jasmin, darf ich Dir einen Kuss geben, wenigstens einen kleinen?“ Jasmin hatte, seitdem sie eng an Jungs Seite saß, eine heraufziehende Spannung gespürt, gegen die sie sich wehren wollte, was ihr jedoch schlecht gelang. Sie antwortete wenig überzeugend: „Herr Jung, Sie sind verheiratet, ich habe einen Freund, da sollten wir es bei einer Arbeitsbeziehung belassen.“ „Aber Jasmin, ein kleines Küsschen kann doch nicht schaden.“ 

                Da er Jasmins Schweigen als stumme Zustimmung auffasste, nahm er vorsichtig ihren Kopf in beide Hände und drückte ihr einen Kuss auf ihre vollen Lippen. Diese erste intime Berührung weckte ein beiderseitiges Verlangen. Jasmin gab ihre anfängliche Verteidigung auf und erwiderte seinen Kuss. Beide begannen sich zu suchen. Hatte nicht auch Jasmin seit dem Händedruck beim Abendessen diesen Augenblick erahnt, etwa sogar herbeigewünscht?

                Als sie ihre Arbeit in Hannover begann, schwor sie sich, mit ihrem Macho-Chef keine sexuelle Beziehung einzugehen. Woher nahm sie auf einmal die Kühnheit, Jung, der ihr das Du anbot, zu fragen: „Helmut, darf ich Dich ausziehen?“ Dabei knöpfte sie, ohne eine Antwort abzuwarten, Jungs Hemd und Hose auf und tastete ihn am Körper ab, um seine Lüste zu erspüren. Er machte es ihr nach und bald stürzten sie ins Doppelbett, fielen übereinander her und gingen auf Abenteuer, die sie vorher nie erlebt hatten.

                Es war spät geworden. Jetzt ihr eigenes Zimmer aufzusuchen, stand außer Frage. Beide wollten nichts sehnlicher als umschlungen einzuschlafen, gemeinsam aufzustehen und gemeinsam das Frühstück einzunehmen. Dann würden sie weiter sehen.                     

                Am Morgen wachte Jung als Erster auf. Jasmin lag an seiner Seite, die Decke wegen der Zimmerwärme zurückgeschlagen. Wann hatte er das letzte Mal einen solchen Morgen neben einer schönen, jungen Frau erlebt? Seine eigene Frau und er waren inzwischen in die Jahre gekommen. Er hatte zwar immer wieder sexuelle Phantasien gehabt, sich auch mit seiner Frau darüber ausgetauscht. Aber jetzt hatten seine Träume einer leibhaftigen Realität Platz gemacht. Noch konnte er sein Glück nicht fassen. Seine Augen begannen Jasmin zu streicheln und zu küssen, erst ganz sanft, beschützend, beginnend mit diesem Gesicht, an dem er sich nicht genug satt sehen konnte. Dann folgte er ihrem schlanken Hals und machte Halt auf ihren Brüsten. Mein Gott, sie waren einzigartig wie ein Kunstwerk, zwei Hügel der Lust, zwischen denen sein unruhiger, egoistischer und arroganter Kopf vor dem Einschlafen Ruhe und Bescheidenheit gefunden hatte. Dann schweifte sein Blick hinunter zum Bauchnabel und über den glatten Bauch weiter hinunter zum Schönsten und Heiligsten einer Frau, wie er meinte. Hier könnte er sich für immer mit Haut und Haaren verlieren. Und dann kamen die wohlgeformten, empfindlichen Oberschenkel, die bei kleinster Berührung in Erregung gerieten. Jasmin sollte ihre Beine niemals verdecken, dachte er bei sich, und vor allem auch nicht ihre Füße mit den feingliedrigen Zehen.

                Als er dort auf seiner visuellen Wanderung angekommen war, schlug auch Jasmin die Augen auf. Ihre Blicke kreuzten sich. Sie richtete sich halb auf, um ihm einen Morgenkuss auf die Lippen zu drücken. Dann legte sie ihren Kopf auf seine muskulöse, blond behaarte Brust, schob langsam ihren Körper auf den seinen, nahm seinen Kopf in beide Hände, blickte ihn geradezu in die blauen Augen und wünschte ihm einen guten Morgen. „Hat Herr Chefredakteur gut geschlafen?“ Dabei rutschte sie auf ihm übermütig einige Male hoch und runter, bis beider Sinne abermals bis zum Äußersten gereizt waren wie in der Nacht zuvor. Wieder vergaßen sie alles um sich herum, krallten sich aneinander und wollten nur noch den anderen genießen.     

                Jasmin hatte erst in ihrer Beziehung mit Thomas bewusst begonnen, ihre Sexualität zu entdecken. In den Jahren zuvor war ihr Bock auf Männer so lala. Das lag wohl auch an der wenig lustbetonten Beziehung ihrer Eltern, die noch in traditionellen Wertbezügen aufgewachsen waren. Und Jasmin, die ausschließlich in Deutschland großgeworden war, konnte ihre sex-bezogenen deutschen Freundinnen und Freunde nie so recht verstehen. Zurückhaltung in körperlichen Dingen begleitete sie selbst über die Studienjahre hinweg. In der beinahe asketischen Lebensweise ihres Elternhauses war das Thema Sexualität ein Tabu. Erst Thomas hatte sie langsam von der Scheu vor ihrem eigenen Körper befreit, und es war ihr, als sei der Moment ihrer persönlichen sexuellen Revolution  gekommen. Dazu trug wohl auch ihr Alter bei, dass sie nun ihren Begierden angstfreien Lauf lassen konnte. Sie war schließlich zur Überzeugung gelangt, sie hätte ein selbstverständliches Recht auf Sexualität, ohne dabei gleich an Liebe und feste Bindungen zu denken.  

                Nach dem sich beide derart „Guten Morgen“ gewünscht hatten, nahmen sie eine gemeinsame Dusche. Auch hier klammerten sie sich aneinander, als wollten sie sich nicht wieder loslassen. Aber der Hunger nach einem ausladenden Frühstück besiegte schließlich ihre körperliche Lust aufeinander. Die Pflichten des Alltags riefen sie in die Realität zurück. Am Frühstückstisch wollte Jung von Jasmin wissen, wie sie sich denn ihren zukünftigen Umgang mit ihm vorstelle. „Helmut, das frage ich Dich ebenso. Ob wir einen ‚One-Night-Stand‘ verbracht haben, kann ich jetzt nicht sagen. Das wird die Zeit zeigen. Auf jeden Fall war es schön, den Abend, die Nacht und den Morgen gemeinsam mit Dir zu verbringen. Aber wir sollten uns nicht daran gewöhnen und auch vor allem Andere nichts von  unserer Beziehung wissen lassen. Du hast Verantwortung für Deine Familie. Ich habe in Münster einen lieben Freund. Ich weiß nicht, wie ich ihm jetzt nach unserem Erlebnis gegenübertreten werde. Wir beide haben uns im vergangenen Frühjahr kennen und lieben gelernt. Ich möchte diese Beziehung nicht aufgeben. Helmut, vielleicht wäre es das Beste, wir versuchten einfach in guter Freundschaft und gegenseitiger Unterstützung das Projekt zum Erfolg zu führen. Ende des Jahres hört mein Vertrag auf. Danach werde ich weiterhin an meiner Doktorarbeit schreiben.“

                Jung sah ein, dass Jasmins Auffassung die einzig richtige sei. Er konnte sich jetzt auch in dieser wichtigen beruflichen und familiären Phase seines Lebens keine Liebes-Eskapaden leisten. Doch er war sich bewusst, dass Jasmin drauf und dran war, seine bisherige innere und äußere Härte auf die Probe zu stellen. In ihrer Gegenwart entdeckte er sich als anderer Mensch, weicher und  mitfühlender. Jasmin gegenüber konnte er gar nicht so entgegentreten wie anderen Frauen und Männern. Was hatte sie nur an sich, dass er in ihrer Gegenwart zu einem Mann geriet, den er bisher nicht kannte? Und sich vorzustellen, dass er sie in Zukunft wie bisher als ‚Chef‘ zu behandeln hatte, das vermochte er nicht.

                „Jasmin, Du hast recht mit allem, was Du sagst. Die Zeit wird zeigen, wie wir miteinander zurechtkommen. Jetzt muss eine Phase der gemeinsamen und solidarischen Arbeit beginnen. Wir sollten das Projekt so gut es geht hinbekommen. Ralf wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Unsere Umgebung wird nicht erfahren, was zwischen uns vorgefallen ist. Jedoch wird es mir gewiss nicht leicht fallen, Dir unbefangen zu begegnen. Dazu war unser gemeinsames Abenteuer zu intensiv und schön. Das war für mich eine ganz neue Erfahrung. Übrigens Jasmin, ich brauche noch Deine WhatsApp-Adresse. So können wir jederzeit miteinander kommunizieren.“

                Während er sprach, nippte Jasmin gedankenverloren an ihrer Tasse Kaffee. Mit der linken Hand streichelte sie unterm Tisch seine Schenkel wie zum Abschied, was ihn augenblicklich verwirrte. Nach einem kurzen Innehalten erhob sie sich energisch von ihrem Stuhl und meinte, es sei jetzt Zeit aufzubrechen. Die Kellner hatten begonnen, die Tische abzuräumen, und sie hatte vor, den Rest des Tages zur Recherche über alles, was mit dem Weserbergland zusammenhing, zu nutzen. Jung erhob sich gleichfalls. Im Foyer des Hotels verabschiedeten sich beide reichlich förmlich voneinander, doch mit einem Händedruck, der für die Zukunft gegenseitiges Vertrauen versprach. Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch und eilte hinaus in den Wintermorgen. Einen Lift von Helmut schlug sie aus. Auf dem Fußmarsch in die kleine Pension wollte sie mit sich allein sein.

                Nachdem sie es sich mit einer Tasse Kräutertee gemütlich gemacht und den Laptop in Gang gesetzt hatte, sah sie noch rasch auf ihrem Smartphone nach, ob sie über WhatsApp Nachrichten erhalten hatte. Tatsächlich, drei neue Nachrichten wurden angezeigt. Die letzte von Helmut: „Bin gerade auf einer Tankstelle. Kann mich kaum auf den Verkehr konzentrieren. Muss an Dich denken. Dank für die schöne Zeit mit Dir. Bis bald und eine liebe Umarmung! Wir werden das Ding drehen.“ Die nächste Botschaft kam von Tom: „Liebe Jasmin, Du fehlst mir sehr. Wann werden wir uns das nächste Mal sehen? Wie läuft das Projekt?“ Und schließlich Jasmins Mutter: „Was macht Deine Arbeit in Hameln? Ich wünsche Dir viel Erfolg. Pass auf Dich auf!“

                Jasmin war hin und hergerissen. Nach einer kleinen Pause antwortete sie der Reihe nach: „Helmut, muss gleichfalls an Dich denken. Noch einen schönen Sonntag. Habe Dich lieb.“ Dann: „Tom, hier läuft alles nach Plan. Viel Arbeit. Gebe Dir Bescheid, wann ich nach Münster kommen kann. Liebe Grüße!“ Zum Schluss: „Mutter, alles sehr spannend. Sobald ich kann, schicke ich Dir und Vater eine Mail.“

                Sie war in eine verzwickte Situation geraten. Das, was sie unter allen Umständen vermeiden wollte, nämlich mit ihrem Chef ins Bett zu steigen, war eingetreten. Und das war nicht nur Jungs Schuld. Sie hätte der Versuchung widerstehen können. Wahrscheinlich mit Konsequenzen für ihre Arbeit verbunden. Aber was soll’s? Helmut hatte sie begehrt und sie wurde von ihren Sinnen völlig überrumpelt. Noch immer spürte sie die Nachwirkungen ihres Liebesabenteuers in ihrem ganzen Körper. Wollte sie die körperliche Vereinigung mit ihm bis zum letzten auskosten? Was war nur los mit ihr? Schon die Beziehung zu Thomas hatte sie hungrig nach Sex gemacht, aber auch hungrig nach Zärtlichkeit, Geborgenheit, nach dem Gefühl des Beschütztwerdens. Hing das mit ihrem vierjährigen Einsatz im Arabischen Frühling zusammen, wo sie häufig lebensbedrohenden Gefahren ausgesetzt war und kaum zur Ruhe und zu sich selbst kam? Immer waren aufregende Geschehnisse und andere Menschen, meistens in Notsituationen, wichtig. Sie wusste wenig von sich selbst. Jetzt wollte sie alles über sich erfahren, was sie in der Gesellschaft erreichen könnte und auch, was ihre Liebesfähigkeit anbetraf. Der jetzige Job gab ihr dazu eine einmalige Gelegenheit. Aber musste ausgerechnet ihr Macho-Chef, wie sie ihn anfangs bezeichnete, ihre Neugierde über ihre Sexualität weiter anfachen? Warum nur hat ihr Verstand sie im entscheidenden Moment verlassen und sie nackt ihrer Libido ausgeliefert? Aber sie wollte sich keine Vorwürfe deswegen machen. Im Gegenteil. Die erwachende Libido gehörte ja ebenso zu ihr wie ihr reger Verstand und ihr mitfühlendes Herz. „Also, keine Gewissensbisse,“ sagte sie sich, „mein Karma wird schon wissen, wie es weiter geht.“

 

                Und was Thomas anbelangte: Bei ihrem nächsten Besuch in Münster, aller Voraussicht nach in zwei Wochen, wird sie wissen, wie es mit ihm weiter geht. Am kommenden Wochenende, bevor sie von Hameln nach Holzminden wechselt, wird wohl noch ein Treffen mit Ralf und Helmut in Hannover stattfinden, auf dem das Resümee der ersten Online-Woche des Projektes gezogen wird, das sie mit den Schülerinnen und Schülern der Hamelner Gymnasien einzuläuten beabsichtigt. Ob sich dann eine Gelegenheit ergeben wird, mit Helmut allein zu sein, wird abzuwarten sein. An ihr sollte es nicht liegen.             

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