2 Okt 2018

Die kranke deutsche Demokratie - 4. Folge

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie – 4. Folge

Fiktion: Start des „Weserbergland-Online-Magazins“ (Fortsetzung)  

 

Foto: Wikimedia Commons, Hameln, Theater und Rathaus, Autor: Martin Moeller

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Am frühen Montagabend war ein Termin mit den Spitzen der politischen  Parteien anberaumt. Bis auf die Neue Rechte waren Vertreter der fünf wichtigsten Parteien anwesend. In der Einladung hatte der RND daran erinnert, dass angesichts der kommenden Bundestagswahl von allen demokratischen Kräften im Lande versucht werden müsse, die politische Willensbildung des Bürgers ernst zu nehmen, um die Demokratie zu stärken und demagogischen Kräften entgegen zu wirken. Das beabsichtigte WOM-Projekt würde auch ganz besonders den Parteien und ihren Mitgliedern zur Verfügung stehen.

                Ebenso wie bei den Lehrerinnen und Lehrern war bei den Parteienvertretern eine erhebliche Skepsis und unterschwellige Ablehnung des geplanten Pilot-Projektes vorhanden. Das Projekt wurde indirekt als Kritik aufgefasst, ihrem gesetzlichen Auftrag zur Förderung der politischen Willensbildung, den sie mit den Medien, insbesondere den öffentlich-rechtlichen, teilten, nicht ausreichend nachgekommen zu sein. Als Jasmin in ihrer Begrüßung und Begründung zu dem Vorhaben erwähnte, Untersuchungen zu Jahresende 2016 hätten eindeutig das Misstrauen in der Gesellschaft gegenüber Politik und Medien von 80 bzw. 70% der Bevölkerung offenbart, kamen sich die anwesenden Parteien-Vertreter beinahe wie auf der Anklagebank vor. Aber wieder gelang es ihr, die Lokalpolitiker in eine sachliche Diskussion über den Testversuch des WOM einzubinden.

                „Ich glaube, ich kann hier für alle Parteien sprechen,“ sagte der Bundestagsabgeordnete einer großen Partei aus dem hiesigen Wahlkreis, „Wir alle bemühen uns um demokratische Willensbildung im Land und sind unter anderem ausnahmslos online vertreten. Wer will, kann die Websites unserer Parteien und auch unserer Jugendorganisationen im Wahlkreis anklicken und ersehen, welche Politik wir lokal, regional und national vertreten. Wir alle laden Wählerinnen und Wähler ein, Mitglied unserer Organisationen zu werden. Jedem steht es frei, sich zu informieren und sich selbst in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen. Wir haben unsere Partei- und Abgeordneten-Büros in der Stadt und haben ein offenes Ohr für alle Bürgerinnen und Bürger. Diese können sich auch telefonisch oder schriftlich bei uns melden. Sie selbst vom RND und auch die übrigen öffentlichen und privaten Medien sind gleichfalls mit uns in vieler Hinsicht am politischen Willensbildungsprozess beteiligt. Zudem wird das Wahljahr 2017 unsere Anstrengungen zur öffentlichen Meinungsbildung noch erheblich steigern. Ich sehe da keinen Grund, warum ausgerechnet in unserer Region ein zusätzliches öffentliches Meinungsmagazin gestartet werden soll.“ Die übrigen Parteienvertreter pflichteten dem Abgeordneten bei.

                „Es stimmt schon, alle, Parteien wie Medien aber auch Bildungseinrichtungen tun ihr Bestes, um Demokratie im Lande zu fördern. Dennoch sieht die Realität besorgniserregend aus. Wenn die überwiegende Mehrheit der Menschen gerade den am meisten verantwortlichen Organisationen und Institutionen für politische Willensbildung im Lande misstrauen, kann etwas mit der Öffentlichkeitsarbeit nicht stimmen. Die Neue Rechte hat immer mehr Zulauf. Viele Politiker der etablierten Parteien werden öffentlich beschimpft und sogar bedroht. Vor allem auch unsere Jugend hat sich von der Politik abgewandt. Die Presse wird häufig als Lügenpresse diffamiert. Aus Umfragen wissen wir, dass die etablierten Parteien als von der Gesellschaft abgehoben gesehen werden. Die von den Parteien in öffentlichen Reden hochgelobte Volkssouveränität der ‚Mündigen Bürger‘ als Zeichen unserer gesunden Demokratie, wird vom Normalbürger als reine Schönfärberei der Politik zugunsten ihres Machterhalts angesehen. Da darf man sich nicht in die eigene Tasche lügen. Wir können auch nicht leugnen, dass die Mitglieder der Bundestagsparteien gerade einmal eineinhalb Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Doch die Bundestagsparteien besitzen ausschließlich das politische Gestaltungsmonopol für den gesamten Staatsapparat. Das weiß der Bürger sehr wohl und fühlt sich eben nicht als ‚Mündiger Bürger‘, der über seine Lebensumstände souverän mitbestimmen kann. Immer mehr Menschen gelangen zur Überzeugung, dass demokratische Teilhabe nur dann möglich ist, wenn man sich auf eine jahrzehntelange Ochsentour einlässt, sich in hierarchischen Parteistrukturen hochzuhangeln, um eines Tages politisch etwas bewirken zu können. Demgegenüber ist das WOM-Modell-Projekt darauf angelegt, Menschen aller Altersstufen und sozialen Schichten einen öffentlichen Meinungs-Markt anzubieten. Den können sie angst- und kostenfrei nutzen, um ihrer Meinung über alle Bereiche des Lebens Ausdruck zu verleihen. In diesem Forum oder Meinungs-Marktplatz soll durch offene Auseinandersetzung der Bürgerinnen und Bürger untereinander ein Meinungsbildungs-Prozess eingeläutet werden, der ohne paternalistische Bevormundung von Partei- oder Medienstrukturen vonstattengeht. Ein solcher aktiver Meinungsaustausch von immer mehr Menschen der Zivilgesellschaft untereinander könnte zur Überwindung des Ohnmachtsgefühls des Bürgers führen, so jedenfalls unsere Hoffnung. Wir wissen alle, dass die Masse der Menschen bequem und mit den materiellen Bedingungen im Allgemeinen noch zufrieden ist. Das kann sich aber rasch ändern, wie wir in letzter Zeit mit Besorgnis beobachten können. Deshalb unser Modell-Projekt als Versuch, den Bürger in den demokratischen Entscheidungsprozess aktiv einzubinden. Eine so entstandene gebündelte öffentliche Bürger-Meinung könnte als Richtschnur des politischen Handelns der Parteien und der Parlamente dienen. Das würde bedeuten, dass eine derart von unten nach oben entwickelte Demokratie den Parteien wie den Parlamenten eine ganz andere Legitimation verleihen würde als bisher. Wir kämen so der im Grundgesetz verbrieften Volkssouveränität ein ganzes Stück näher. Kurz und gut baut das Projekt auf der Hoffnung auf, bisher völlig abseits stehende Bevölkerungsschichten zur Teilnahme am politischen Willensbildungsprozess anzuregen. In diesem Emanzipations-Prozess des Bürgers können Journalisten und Parteienvertreter die Funktion von Moderatoren übernehmen, aber der wahre Akteur soll der unabhängige, souveräne Bürger selbst sein. Wie gesagt, das ist erst einmal als Experiment gedacht. Wir werden die Reaktion des Bürgers abwarten müssen. Wird er unser Angebot zum freien Meinungsaustausch annehmen oder nicht? Das WOM bietet selbstverständlich die Möglichkeit, dass sich Parteienmitglieder in die Diskussion einmischen, aber eben nicht als Partei-Obere, die sagen, wo es lang zu gehen hat, sondern als Bürger wie jeder andere auch.“

                Nach Jasmins Beitrag entspann sich eine lebhafte Diskussion. Dabei ging es vor allem auch um die eigentliche Wahlkampfphase, in der die Parteien ihre Meinung in Form von Programmen unters Volk bringen. Wenn jetzt die Gesellschaft selbst auf Basis ihres Meinungsaustausches zu wichtigen politischen Vorstellungen gelangen sollte und die Parteien damit konfrontiert, würden die bisherigen von oben auf die Gesellschaft herabregnenden Parteiprogramme auf die diskutierten Programme der Zivilgesellschaft stoßen. Das könnte in der Tat die Gefahr eines Machtverlustes der Parteien bedeuten und gleichzeitig einen Machtzuwachs der Zivilgesellschaft mit sich bringen. Eben dies befürchteten einige Parteien-Vertreter, aber sie verkniffen es sich, das offen auszusprechen. Es gab aber auch die Meinung, dass die von den Bürgerinnen und Bürgern ausgetauschten Meinungen einen positiven Einfluss haben könnten in der Weise, dass sie inhaltlich in Partei-Programme einfließen würden. Sicher könnte so das Vertrauen des Bürgers in die Demokratie und Politik gestärkt werden.

                Jasmin fühlte sich ziemlich erschlagen, als sie sich am späten Abend vor dem Schlafengehen einen Kräutertee zubereitete. Das Smartphone hatte sie absichtlich auf dem Zimmer gelassen, um auf der Begegnung mit den Partei-Vertretern nicht unterbrochen zu werden. Als sie nachsah, ob sie in der Zwischenzeit Nachrichten erhalten hatte, fand sie Grüße von Helmut: „Jasmin, wie ist es gelaufen? Ich hoffe doch gut. Du wirst sehen, mit Partei-Oberen ist nicht zu spaßen, wenn sie Machtverlust wittern. Aber gegenüber Frauen werden gegenteilige Meinungen allgemein weniger aggressiv geäußert. Ich habe wohl bemerkt, dass Männer wie auch Frauen in Deiner Gegenwart ‚zahm‘ werden. Deswegen bin ich auch froh, dass Du im Projekt mitarbeitest. Doch nicht nur deswegen. Am liebsten wäre ich heute Nacht bei Dir. Mein Gott, wie schön war das Wochenende! Für Dich einen Gute-Nacht-Kuss, Helmut.“

                Bevor Jasmin antwortete, erledigte sie ihre Nachttoilette, legte sich zu Bett, stapelte drei Kopfkissen übereinander, knipste die Nachttischlampe an und richtete den Wecker. Ihre Gedanken wanderten noch einmal zum vergangenen Wochenende zurück. Wieder wurde ihr Köper von den intimen Erlebnissen mit Helmut durchdrungen. Sie wünschte sich ihn ebenso herbei wie er sie. Dabei verdrängte sie abermals völlig die Tatsache, dass er der verheiratete Chef mit Familie war und sie die befristete Angestellte mit dem Freund in Münster. „Helmut, die Politikerriege in Hameln war schwer von unserem Projekt zu überzeugen. Das war vorauszusehen. Viel kommt jetzt darauf an, wie zukünftige Nutzer reagieren. Morgen versuche ich, die Schüler für das Projekt zu begeistern. Hoffentlich legen die ersten schon einen Account an. Ich werde ein Eingangs-Thema mit ihnen diskutieren und einen kurzen Beitrag dazu schreiben. Mal sehen, wie die Reaktionen bis Freitag ausfallen. Am Abend komme ich dann wie vorgesehen nach Hannover, sodass wir ab Samstagmorgen mit Ralf im Büro arbeiten können. Kann Deine Sekretärin mir ein Zimmer für zwei Nächte reservieren? Am Sonntag fahre ich nach Holzminden. Auch dort könnte sie mir bis zum Ende des Monats ein Zimmer möglichst in Stadtmitte reservieren.“ Dann überlegte sie, wie sie die Message beenden sollte. Kühle Distanz wäre wohl angebracht. Aber dann überwältigten sie wieder mit aller Wucht ihre aufkommenden Bedürfnisse und die Erinnerung an die mit Helmut verbrachte Nacht. Warum sollte sie das unterdrücken, wenn es doch zu ihr gehörte?  „Helmut, was gäbe ich jetzt dafür, wenn Du an meiner Seite wärst! Auch ich habe das Wochenende mit Dir vorbehaltlos genossen. Ich kenne mich gar nicht wieder. Dir einen Gute-Nacht-Kuss aus Hameln. Morgenabend berichte ich über das Schüler-Meeting, Jasmin.“ Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sich ihre Erregung gelegt hatte, und sie in einen tiefen Schlaf eintauchte.

                Tags darauf fanden sich etwa 40 Schülerinnen und Schüler aus den Oberstufen aller Gymnasien in der Aula ein. Jasmin präsentierte die Website des neuen Weserbergland-Online-Magazins auf einer großen Wandtafel und erläuterte den Zweck und die Vorteile des Projektes für seine Nutzer. Das WOM sollte eine innovative Online-Plattform werden, die von den Nutzern, und ganz besonders auch von der Jugend, selbst gestaltet werden sollte. Der Nachrichtenteil des RND würde übernommen und kann kostenlos abgerufen werden. Das Neue für den Nutzer sei die Möglichkeit, eigene unzensierte, und wenn gewünscht auch unter Pseudonym erstellte Beiträge zur öffentlichen Diskussion zu stellen. So würden in dieser Online-Zeitung nicht nur Journalisten das Sagen haben sondern in erster Linie der Bürger selbst.

                Nachdem Jasmin das WOM als Modell-Projekt für die Förderung der politischen Willensbildung vonseiten des öffentlich-rechtlichen RND in dieser Weise vorgestellt hatte, fragte sie die Schülerinnen und Schüler, was sie davon hielten, und ob sie Interesse an einem derartigen Online-Portal hätten. Sie selbst wollte einen ersten Beitrag einstellen, der sich auf die zukünftigen Lebensperspektiven von jungen Menschen im Weserbergland bezöge. Die Interessenten an der aktiven Teilnahme am WOM müssten zunächst einen Account anlegen, der von einem Administrator genehmigt und verwaltet würde und könnten danach mit Kommentaren und eigenen Beiträgen loslegen, wie es ihnen passte. Alle anwesenden jungen Leuten klickten auf ihren Smartphones die WOM-Homepage an und überflogen die angebotenen Nachrichten. Etwa die Hälfte war spontan bereit, das Modell-Projekt zu testen und einen persönlichen Account anzulegen, welcher sogleich von Ralf genehmigt wurde. Jasmin versprach, bis Morgen einen kurzen Artikel in der Rubrik ‚Alltag‘ zu veröffentlichen. Sie hoffte, dieser würde die Jugendlichen zu einem ersten Meinungsaustausch animieren können.

                Auf ihrem Zimmer angelangt, machte sich Jasmin sofort an eine Alltagsgeschichte aus dem Hamelner Raum. In der ersten Woche in der Rattenfängerstadt Hameln hatte sie in einer Imbissstube einem jungen Pärchen gegenüber gesessen, mit dem sie ins Gespräch kam. Sie jobbte als Aushilfe in einer Bäckerei und er fuhr Pizza aus. Sie lebte mit ihrer jüngeren Schwester bei ihrer geschiedenen Mutter, einer Verkäuferin. Er war einer von fünf Kindern einer Einwandererfamilie. Beide hatten sich auf einem Hamelner Gymnasium kennengelernt und das Abitur im letzten Sommer bestanden. Aber während etwa die Hälfte ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler bereits ein Studium außerhalb des Weserberglandes begonnen hatten, blieben sie daheim in Hameln, weil ihre Eltern ihnen kein Studium ermöglichen konnten. Und einen Bafög-Kredit wollten sie auf keinen Fall beantragen. Das Risiko, nach den Studienjahren einen hohen Kredit zurückzahlen zu müssen, wollten sie nicht eingehen. Die Jobs brachten ihnen etwa 1.000 Euro im Monat ein und machten sie unabhängig von ihren Eltern. Sie beneideten diejenigen, die studieren konnten und die schon während der Schulzeit Ferien verbrachten, von denen sie nur träumen konnten. Die schulischen Leistungen des jungen Paares waren keineswegs schlechter als die der Mitschüler der betuchten Hamelner Familien in den schnieken Wohngegenden. Aber sie waren einfach in die „falschen“ Familien hinein geboren. Trotz ihrer misslichen Lage hofften sie darauf, irgendwann doch noch eine öffentlich geförderte Ausbildung machen zu können. Vielleicht würden die nächsten Wahlen Parteien an die Macht bringen, die die sozialen Diskriminierungen wenigstens teilweise beseitigen würden. Am besten wäre es, wenn endlich eine Bürger-Initiative entstünde, die sich die Errichtung einer Weserbergland-Universität auf die Fahnen schriebe.   

                Jasmin veröffentlichte diese Alltagsgeschichte noch vor Mitternacht im WOM und schickte Ralf eine kurze Notiz über WhatsApp. Ebenfalls benachrichtigte sie Helmut über das Schülertreffen und wünschte ihm eine Gute Nacht. Vor dem Einschlafen schlürfte sie einen heißen Kräutertee mit Honig. Zufrieden über diesen Tag fiel sie in einen tiefen, traumlosen  Schlaf.

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Bis zum Freitag entspann sich bereits eine lebhafte Diskussion unter immer mehr Schülerinnen und Schülern der Hamelner Oberstufenklassen über Jasmins Alltagsgeschichte. Dabei wahrte sie selbstverständlich die Anonymität des verliebten Paares. Etwa hundert Jugendliche hatten inzwischen einen WOM-Account. Ralf konnte auch verfolgen, dass die Website jeden Tag von mehr Lesern aufgerufen wurde. Offensichtlich sprach sich das kostenlose Online-Angebot wie ein Lauffeuer herum und regte die Jugendlichen nicht nur zum Lesen an sondern  auch zum aktiven Mitdiskutieren. Sicher waren auch Lehrerinnen und Lehrer unter den Lesern des WOM, die neugierig darauf waren, wie ihre Schülerinnen und Schüler auf das neue Online-Magazin reagieren würden.                                           

                Als sich Jasmin am Freitagabend in ihrem Hannoverschen Hotel nahe der Redaktion eincheckte, fand sie eine Nachricht von Helmut vor. Er lud sie zu einem Schluck Wein in eine Bar in der Altstadt ein. Dort könnte sie ihn schon einmal vorab von ihrer Erfahrung mit den Schülern berichten, bevor sie Morgen im Büro mit Ralf ein Resümee ziehen würden. Jasmin wusste wieder nicht recht, wie sie Helmut begegnen sollte. Er war in Hannover ein ziemlich beschriebenes Blatt. Aber sie vertraute darauf, dass Helmut schon wissen würde, wie sich beide verhalten müssten, um möglichen Klatschgeschichten vorzubeugen.

                Helmut hatte eine versteckte Ecke in der Bar gefunden, wo beide ungestört miteinander reden konnten. Noch in der Redaktion hatte er zuhause angerufen, um zu sagen, er müsse noch bis Mitternacht arbeiten. Kaum hatten sich beide gesetzt und einen Drink bestellt, begannen sie die Hände des Anderen unter dem Cocktail-Tisch zu suchen. Wieder machte Jasmin die gleiche Entdeckung wie am Wochenende vorher, dass die Anwesenheit von Helmut jeden Widerstand gegen sein Begehren zunichtemachte und sie ihrerseits nichts anderes herbeisehnte, als ihn in den Arm zu nehmen. So schlug sie auch bald vor, zusammen ins Hotel zurückzukehren. Er hatte seinerseits auf diese Einladung gewartet, und so stürzten sie eilig aus der Bar und fanden sich bald darauf in ihrem Hotelbett wieder. „Jasmin, was ist mit Dir geschehen?“ fragte sie sich selbst, als sie sich seinem starken Körper anvertraute. Ihre Antwort darauf: „Ich weiß nur, dass ich meine Lust erfahren will, dass ich sie ganz erfahren will. Wie tief ist mein Grund?“

                Irgendwann in der Nacht, Jasmin konnte sich am nächsten Morgen nicht daran erinnern, muss sich Helmut aus dem Zimmer geschlichen haben. Er kam unausgeschlafen gegen 11 Uhr ins WOM-Büro, wo Jasmin und Ralf bereits bei einem starken Kaffee und Croissant über das Projekt sprachen. Alle Drei waren sich einig darin, dass der Beginn des WOM vielversprechend verlaufen war. Mehr als hundert Jugendliche waren bereits als Nutzer registriert und hatten Kommentare zu Jasmins Beitrag eingestellt. In der kommenden Woche wollten einige Schülerinnen und Schüler eigene Beiträge zu ihren Zukunftsperspektiven veröffentlichen. Insgesamt wurde die Website mehr als dreitausendmal angeklickt.

                Ralf lobte die Eingangsgeschichte von Jasmin: „Du hast mit Deinem Beitrag bei den Jugendlichen ins Schwarze getroffen. Die ersten Kommentare haben schon deutlich die sozialen Unterschiede zwischen den Jugendlichen hervortreten lassen. Einige, sicher die Besser-Gestellten, meinten, jeder sei seines Glückes Schmied. Wenn das Pärchen wirklich vorankommen wollte, müssten sie sich eben das Risiko eines Kredites zumuten, oder besser noch, eine Lehrstelle suchen. Qualifizierte Arbeitskräfte werden immer gesucht. Warum nicht mit Abitur eine Lehrstelle antreten? Ein anderer Teil der Schüler verteidigte die Position des Pärchens, wohl auch, weil ihre soziale Situation ebenfalls eine prekäre ist. Jeder junge Mensch müsse die gleichen Möglichkeiten von Bildung und Ausbildung besitzen. Das sei ein grundlegendes Menschenrecht. Sie verbanden ihre Auffassung mit starker Schelte gegen die Politik, die sich wenig um die Interessen von jungen Menschen kümmern würde und nichts gegen soziale Ungleichheit und Startschwierigkeiten unternähme. Jasmin, es wurden auch ein paar hässliche Kommentare gegen den Jungen aus der Migrantenfamilie geschrieben. Helmut, was meinst Du? Wie gehen wir damit um? Nationalistische Tendenzen und Ressentiments gegen Ausländer werden kaum im WOM zu vermeiden sein. Sollten wir alles in dieser Richtung abblocken, wird die Website ganz schnell mit dem Mainstream gleichgesetzt werden.“

                Bevor Helmut antwortete, nahm er einen Schluck schwarzen Kaffee, überlegte kurz und machte dann den folgenden Vorschlag: „Ganz üble Hetze können wir so nicht veröffentlichen. Ralf, da musst Du rigoros sein und als Administrator auf die Regeln hinweisen. Andererseits sollen Nahestehende und Anhänger der Neuen Rechten nicht pauschal ausgeblendet werden. Sie fordern gerade zur konträren Auseinandersetzung heraus. Es wird spannend werden, wie sich die anderen Nutzer dazu stellen. Das reichert die Diskussion an und könnte wie das Salz in der Suppe wirken. Wir brauchen den offenen Schlagabtausch um gegenteilige Meinungen. Die Möglichkeit, unter Pseudonym zu schreiben, wird bei vielen die Angst vor dem Gang in die Öffentlichkeit nehmen und den Meinungsaustausch bereichern. Warten wir einmal ab, wie sich unser Projekt entwickeln wird. Hoffentlich können wir im Laufe des Jahres die gesamte Breite unserer Gesellschaft für das WOM-Experiment begeistern. Sicher werden einige Teile des Niedriglohnsektors nicht auf unser Angebot eingehen, da sie auch gar nicht im Internet surfen. Ich denke da an Rentnerinnen und Rentner mit geringen Einkünften und ältere Menschen mit Migrationshintergrund. Bei Wahlen stehen sie ohnehin meistens abseits. Ralf, es liegt an uns, wie wir moderieren. Gelingt es uns, einen Stück für Stück anschwellenden Bürger-Meinungsmarkt im Weserbergland ins Leben zu rufen, wäre das in Deutschland ein Novum.“

                Ralf lag eine weitere Sache auf der Seele: „Jasmin, es gab einige persönliche Kommentare über Dich, die ich selbstverständlich nicht habe durchgehen lassen. Da gibt es doch tatsächlich junge Leute, die Dich sexistisch anmachen wollten und außerdem Deinen Migrationshintergrund erwähnten. Wir müssen damit rechnen, dass Kommentare in dieser Richtung immer wieder erscheinen, doch werden sie von mir nicht freigeschaltet. Ich werde zwischendurch sicher öfter darauf hinweisen müssen, dass sexistische und fremdenfeindliche Anmache im WOM nichts zu suchen hat.“

                Die Drei hatten Hunger bekommen und begaben sich nach Abschluss ihrer Besprechung in ein nahegelegenes Pizza-Lokal. Sie waren mit dem Verlauf der ersten Woche zufrieden. In Hameln waren die wichtigsten Interessengruppen über das Vorhaben informiert und das WOM begann sich unter jungen Menschen im Hamelner Raum herumzusprechen. Jetzt konnte eine analoge Kontaktaufnahme in Holzminden beginnen.   

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Realität: Auf was habe ich mich bloß eingelassen?

 

Die Wahlkampftour im Weserbergland beginnt mit vielen Zweifeln

 

Foto: Wikimedia Commons, „Steinhof“, Verwaltungssitz der Stadt Bad Münder am Deister, wo ich am 8. März 2017 meine Bewerbung als unabhängiger Bürgerkandidat einreichte. Autor: Tortuosa

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 „Was können wir schon gegen die ‚da oben‘ machen?“ meinte der alte Mann auf meine Frage, ob er jemals an irgendeinem Gesetz mitgewirkt hätte, oder ob ihn wenigstens einmal jemand um seine Meinung zu einem Gesetzentwurf befragt hätte. Er sei doch auch Teil des Souveräns im Staate.

                Seine Ohnmacht gegenüber der Obrigkeit wirkte noch resignierter durch seinen hilflosen Blick auf seine Tasse Kaffee in der Rewe-Frühstücksecke. Er, wie auch sein etwa gleichaltriger Tischnachbar, brauchten ihre Zeit, um mich offen anzuschauen. Beide Alten waren Rentner, der eine deutlich im Niedriglohnsektor, unter der Armutsgrenze von 1.100 Euro pro Monat, der andere gerade darüber liegend.

                Die Rentner machten mich betroffen. Aber um Himmels-Willen durfte ich mir nichts anmerken lassen. Ich musste unwillkürlich an die vielen Armen in den Ländern der Peripherie denken, in denen ich gearbeitet habe. In Afrika, in Lateinamerika, selbst auf dem Balkan waren Arme überwiegend rebellisch gegenüber Obrigkeiten, denen sie ihre Misere verdankten und wirkten mir gegenüber nie derart resigniert, es sei denn, sie befanden sich im Bürgerkrieg. Was mir sogleich in den Kopf kam, war die Vermutung: „Diese Beiden sind die typische schweigende Wählerschaft der AfD, nicht die aufbegehrende, die sich in der PEGIDA-Bewegung lautstark zu Wort meldet.“

                Beinahe gänzlich aus der Fassung brachte mich die Antwort des Besserverdienenden auf meine Frage, ob das Rentenniveau der armen Rentenbezieher nicht wenigstens auf die Höhe eines Grundeinkommen von 1.100 Euro pro Monat angehoben werden müsste. Darauf kam dann doch eine einigermaßen kämpferische und stolze Antwort: „Wer in seinem Arbeitsleben wie ich 45 Jahre geschuftet hat, der kommt im Alter auch irgendwie zurecht.“

                Diese kleine Begebenheit trug sich unmittelbar nach Ankunft in meiner alten Heimatstadt Bad Münder zu, in der ich meinen Wahlkampf als unabhängiger Direktkandidat  unter dem Motto: ‚Vom Parteienstaat zur Bürgerrepublik‘ beginnen wollte.

                Inzwischen sind fast zwei Wochen vergangen. Die Wohnsitzanmeldung nach 40 Jahren Auslandstätigkeit musste bekräftigt werden, der Kreiswahlleiter übermittelte die Formulare zur Direktkandidatur, und ich reichte meine offizielle Bewerbung in der Stadtverwaltung ein. Meine persönliche Website (hermann-gebauer.de), meine facebook- und twitter-Seiten wurden für den Wahlkampf aktualisiert und eine Online-Weserbergland-Zeitung (wbl-online.net), in der Bürgerinnen und Bürger kostenlos lesen, schreiben und kommentieren können, wird ebenfalls in Kürze eröffnet. Gottseidank bin ich nicht der einzige unabhängige Direktkandidat.  Es werden sich in mehr als 250 Wahlkreisen parteilose Direktkandidaten unter der Bezeichnung: ‚BÜRGERKANDIDATEN – für Gemeinwohl und Volksentscheid‘ um ein Mandat für den kommenden Bundestag bewerben. 

                Doch was nützt all die Arbeit an Programmerstellung und administrativen Voraussetzungen zur BT-Kandidatur, wenn Unabhängige, die die Bürger-Macht und Direkte Demokratie anstreben, von der geballten BT-Parteien-Macht erdrückt werden? Das beginnt mit finanziellen Wahlkampf-Mitteln, das geht über das Tot-Schweigen vonseiten der Mainstream-Medien, ganz besonders auch auf lokaler Ebene, das führt über die gefühlte Ohnmacht nicht nur des Niedriglohnsektors sondern auch, und das betrübt mich am meisten, des betuchten Mittelstandes, der betreten schweigt, wenn die Frage aufkommt: „Was habt Ihr in den 60er und 70er Jahren für eine bessere und humane und friedvolle BRD gekämpft? Und was ist aus der Bürger-Freiheit geworden? Ist sie dem schnöden Mammon und klebrigem Parteien-Filz geopfert?“ 

                Ehemalige Schulkameraden und Studienkollegen schweigen. Betreten? Schuldbewusst? Wissend, dass sie größtenteils ihren Lebensstandard der neokolonialen Ausbeutung der Peripherie zu verdanken haben? Oder ganz einfach die Meinung haben: „Der Hermann ist ein sozial-romantischer Spinner?“

                Nur wenige Freunde bekennen sich offen dazu, für Volkssouveränität, Bürger-Macht, Humanismus und Direkte Demokratie einzutreten. 500 Jahre nach der Reformation, 250 Jahre nach der Aufklärung, 70 Jahre nach Verkündung der universalen Menschenrechte und Beginn des Prozesses weltweiter Frauen-Emanzipation steht der Prozess weltweiter Bürger-Emanzipation in den Sternen. Sollte nicht wenigstens in 2017 dazu ein Anfang gemacht werden? In stolzen deutschen Landen klopfen sich die BT-Parteien anerkennend gegenseitig auf die Schultern, wie sie doch die Bürgerinnen und Bürger geschickt von deren Souveräns-Rolle ausgrenzen um des Erhalts ihrer selbstsüchtigen politischen Macht willen. Wie viele saftige Stellen gibt es doch im Staatsapparat nach jeder Wahl zu verteilen?

                Welche Insekten haben mich da gestochen, dass ich mich in meinem Alter aufmache, im deutschen Parteienstaat herumzustochern, um für Bürger-Freiheit, Humanismus und Soziale Gerechtigkeit, Weltoffenheit, Pazifismus und Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen zu streiten? Wie auch immer mein Wahlkampf ausgehen wird, allein die Ohnmacht vieler Menschen gegenüber der Obrigkeit, allein die Wohlbefindlichkeit einer Weiterso-Mittelschicht, die sich selbstverständlich das Recht auf satten Konsum auf Kosten der Habenichtse der Welt herausnimmt, bestärken mich, den Wahlkampf zu führen. Auch wenn er endet, wie ein jetzt durch Schulz übermütig gewordener SPD-Genosse meint: „Wenn Du mehr als 7% der Stimmen bekommen solltest, gebe ich Dir einen chilenischen Wein aus. Im umgekehrten Fall wirst Du blechen, und das ist jetzt schon gewiss.“  Sei’s drum.

 

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