3 Okt 2018

Die kranke deutsche Demokratie - 5. Folge

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie - 5. Folge

 

Fiktion: Das Weserbergland-Online-Magazin (WOM) nimmt Fahrt auf

 

Jasmins Ankunft in Holzminden

 

Foto: Wikimedia Commons, Holzminden, Altstadt mit Weserufer, Autor: Patrik Scholz

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Regina F. ist eine aparte und sportliche Frau Anfang 40, Psychologin mit eigener Praxis, verwitwet. Sie hat einen 15jährigen Sohn. Ihr weitaus älterer, vor zwei Jahren verstorbener Ehemann hatte in einem namhaften Holzmindener Chemieunternehmen eine hochdotierte Stelle in der Forschungsabteilung inne. Regina hörte in der Vorwoche vom WOM-Projekt des RND. Sie verabredete sich mit Jasmin für den kommenden Montag und gab an, als parteilose Bürgerkandidatin bei den Bundestagswahlen im Herbst antreten zu wollen. Jasmin fand sie auf Anhieb sympathisch und auf gleicher Wellenlänge wie sie. Eine gemeinsame Chemie verband beide Frauen von der ersten Minute an.

                „Sie dürfen mich ruhig mit Regina anreden.“ „Und Sie mich mit Jasmin. Regina, ich kann Ihren Mut nur bewundern, als Unabhängige gegen die etablierten Parteien anzutreten. Ich finde es ebenfalls wichtig, endlich einmal unabhängige Bürger-Meinungen in den Bundestag zu tragen. Die AfD wird sicher mit Glanz und Gloria in das ehemalige Reichstagsgebäude einziehen. Der hohe Prozentsatz an Politik-Müden und Fremdenfeinden im Lande, die bisher ihren Protest durch Stimmenthaltung ausgedrückt haben, wird schon dafür sorgen. Aber wie wollen Sie, Entschuldigung, wie willst Du im Wahlkampf den Nachteil gegenüber den großen Parteien ausgleichen? Die können sich auf ihre Ortsvereine stützen, um sich Gehör zu verschaffen. Darüber hinaus können sie zehntausende Euros aus staatlicher Parteienfinanzierung locker machen, um Plakatierungen selbst in entlegenen Ecken des Wahlkreises durchzuführen. Auch wird die Wahlkampagne viel Zeit beanspruchen, sodass Du kaum Deiner Arbeit nachkommen kannst.“

                „Du hast recht, es ist ein schier aussichtsloses Unterfangen, dass unabhängige Bürgerinnen und Bürger gegen den Parteienstaat aufstehen. Trotzdem bin ich entschlossen, gerade das zu tun. Ich habe den Vorteil, eine gute Witwenrente zu beziehen, ausreichend für meinen Sohn und mich. Da kann ich ein Jahr lang meine Praxisarbeit ruhen lassen. Dann habe ich einige Ersparnisse und werde dieses Jahr keinen Urlaub machen. Allerdings verfüge ich bisher über kein Unterstützer-Komitee, das ich brauche, um 200 Unterstützer-Unterschriften als Parteilose zu bekommen. Unter diesen Umständen wird es auch schwierig werden, Öffentlichkeitsarbeit im Wahlkreis zu machen. Zusammen mit anderen Bürgerkandidaten, so wie wir unsere parteilose bundesweite Initiative nennen, haben wir die wichtigsten politischen Programmpunkte schon einmal entwickelt. Aber bisher sind wir bei Wählerinnen und Wählern völlig unbekannt. Deshalb wird es für mich und die anderen Bürgerkandidaten entscheidend sein, über die sozialen Netzwerke unsere Standpunkte zu verbreiten und Unterstützer zu gewinnen. Wie Du sagst, haben wir keine Steuergelder zur Verfügung, um politisches Marketing zu betreiben wie die Bundestagsparteien. Aber vielleicht können wir unsere Benachteiligung durch eine gute Online-Präsenz ausgleichen. Was hältst Du davon, Jasmin, wenn ich das WOM-Projekt nutze, um auf meine Kampagne aufmerksam zu machen?“

                „Das ist ein guter Gedanke. Die Idee zum WOM wurde gerade deshalb geboren, der Politikverdrossenheit vieler Menschen mit Hilfe größerer Meinungsvielfalt und freiem Meinungsaustausch zu begegnen. Du solltest Dich sofort in das WOM einklinken und Dich aktiv an den Auseinandersetzungen beteiligen. Aber Du musst Verständnis haben, dass wir von der Redaktion Neutralität gegenüber den Nutzern bewahren müssen. Wenn ich persönlich Sympathien für Dein Engagement habe, ist das ganz meine Sache. Meinen Kollegen von der Redaktion binde ich das nicht auf die Nase. Mit der Zeit werden sich bestimmt neben parteilosen Menschen aus der Gesellschaft auch Anhänger der großen Parteien einklinken. Das ist ganz unsere Absicht. Die besten Ideen sollen im WOM ausgetauscht und fair diskutiert werden. Aber Regina, wie bist Du eigentlich darauf gekommen, zur Bundestagswahl zu kandidieren?“     

                „Mein Mann und ich waren lange Zeit bei den GRÜNEN aktiv tätig. Als Naturwissenschaftler wusste mein Mann genau, was für ein Schindluder mit der Natur betrieben wird, vor allem in der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie. Ich als Psychologin habe oft mit Patienten zu tun, die unter schweren Depressionen leiden. Viele Krankheitsbilder sind Ausdruck der prekären Arbeitsverhältnisse, wie bspw. Teilzeitarbeit. Andere Kranke sind HartzIVler oder Langzeitarbeitslose. Wir haben die GRÜNE Partei unterstützt, weil wir überzeugt waren, so für bessere Lebensbedingungen in der Region und im Land beitragen zu können. Dann kam kurz nach dem Tod meines Mannes Merkels einsame Entscheidung im Herbst 2015, die Grenzen für eine Million Flüchtlinge aufzumachen, ohne dass das vorher im Kabinett und vor allem auch innerhalb der Bevölkerung diskutiert wurde. Natürlich müssen wir Menschen in Not helfen, aber das muss immer eine Konsens-Entscheidung sein, keine einsame autoritäre. Die europäische Flüchtlingskrise begann ja schon in 2013. Da hätte bereits eine breitangelegte Diskussion in Deutschland stattfinden müssen. Wir sind hier in Holzminden ebenfalls mit der Flüchtlingsproblematik konfrontiert, die m. E. völlig falsch angegangen wird, von allen Parteien, einschließlich der GRÜNEN. Noch zu Lebzeiten meines Mannes kamen wir beide zu der Auffassung, den Parteien und ihren Mandatsträgern ginge es in erster Linie um ihre eigene Machterhaltung. Dabei gibt das Kapital die Richtung vor, auch hier im Kreis Holzminden. Und in diesem Zusammenhang sind auch die GRÜNEN Stück für Stück zu einer Partei verkommen, die weniger um Prinzipien streitet als um politischen Machterhalt und persönliche Vorteile von Funktionsträgern. Da bleibt dann der einfache Bürger mit seinen Anliegen auf der Strecke. Und was mich fuchsteufelswild macht, ist die Tatsache, dass sich der Bürger mit diesem Schicksal abfindet. Ich bin mir sicher, dass mein Mann mich bei meiner Kandidatur voll unterstützen würde, wäre er noch am Leben. Auch wegen seiner Warnungen über den unverhältnismäßigen Chemieeinsatz in der heimischen Landwirtschaft und seiner rigorosen Ablehnung von Massentierhaltung und Monokulturen will ich ihm zuliebe und auch meiner eigenen Auffassung einer humanistischen Gesellschaft zuliebe bei dieser Bundestagswahl antreten. Jasmin, das sind meine Motive gewesen, um mich als Bürgerin in die Politik einzumischen. Ich habe das auch ausgiebig mit meinem Sohn diskutiert. Er unterstützt mich voll und ganz. Nun würde ich gern wissen, wie Du zu diesem öffentlichen Online-Projekt gekommen bist?“

                Jasmin erzählte in Stichworten aus ihrem bisherigen Werdegang. Den teilt sie mit vielen Gleichaltrigen aus Migrantenfamilien. Ihre Eltern, die beide Ärzte sind und in Berlin eine gemeinsame Praxis haben, achteten stets darauf, dass sie ihre persisch-kurdischen Wurzeln der Sprache, Geschichte und Kultur kennt und schätzt und andererseits in der deutschen Gesellschaft zuhause ist. Deshalb fühlt sie sich wie ein Fisch in unterschiedlichen kulturellen Wassern, was noch durch das Studium der Vergleichenden Kulturwissenschaft und die journalistische Arbeit während des arabischen Frühlings in Tunesien, Ägypten und Syrien verstärkt wurde. Dann erwähnte Jasmin ihre angestrebte Doktorarbeit über die Bedingungen von Demokratie und politischer Freiheit. „Regina, ich bin ebenso wie Du schockiert darüber, dass die Menschen in Deutschland ihr Schicksal bedenkenlos in die Hände einer Handvoll Parteien, besser gesagt in die Hände von wenigen Partei-Oberen legen, ohne sich selbst als Herren im demokratischen Haus zu betrachten. Das WOM-Projekt soll ein Bürger-Emanzipationsprojekt sein und die unabhängige politische Willensbildung und Meinungsvielfalt fördern. Mal sehen, wie sich das in den nächsten Monaten bis zur Wahl entwickelt. Ich selbst werde jetzt die nächsten zwei Wochen versuchen, so viele Meinungsmacher wie möglich aus Holzminden und Umgebung zu treffen, um sie für die Nutzung der Online-Plattform zu begeistern. Ab März möchte ich dann bis zum Wahltag verschiedenste Orte des Wahlkreises besuchen und mit Menschen aus unterschiedlichsten Lebensbezügen sprechen. Wenn Du willst, ist es eine Reise auf die Suche nach der Seele der Bürgerinnen und Bürger des Weserberglandes. Es soll eine Reise werden, die mir zeigt, wie eine Emanzipationsbewegung in reichen Konsumgesellschaften des Nordens aus dem allgemeinen Untertanenstatus heraus entstehen könnte. In autoritär geführten Gesellschaften, die zudem von großer Armut geprägt sind, gelingt es manchmal kleinen sozialen Gruppen mithilfe des Internets, einen Flächenbrand der politischen Freiheit zu zünden.“

                „Wenn Du noch zwei Wochen hier in Holzminden bist, kannst Du gern bei mir wohnen. Ich bewohne mit Chris, meinem Sohn, ein schönes Eigenheim am Rande der Stadt in Richtung Solling,“ warf Regina ein. „Ich könnte Dir auch Tipps geben, wen Du hier im südlichen Teil des Wahlkreises ansprechen solltest, um das WOM-Projekt voranzutreiben. Von meinem Haus aus bist Du ganz schnell in der Stadt. Es gibt ein schönes Besuchszimmer, das Du ohne Weiteres benutzen kannst.“

                Jasmin zögerte nicht lange mit der Antwort. Sie hatte ein gutes Gespür dafür, dass sie mit Regina problemlos zurecht kommen würde und deren genaue Kenntnis der Holzmindener Szene bestens gebrauchen könnte. „Regina, ich nehme Dein Angebot an, würde aber erst Morgen kommen, da ich das Hotel noch für heute gebucht habe. Heute Nachmittag treffe ich einige Lehrlinge, die die hiesige Berufsschule besuchen. Auch werden hoffentlich Gymnasiasten und Studenten der hiesigen Hochschule da sein. Am liebsten wäre mir, ich könnte morgenfrüh zu Dir kommen. Da habe ich noch nichts vor. Morgen Nachmittag ist dann ein Gespräch mit Vertretern der lokalen Medien vereinbart. Dafür könnte ich Dein Insiderwissen gebrauchen.“   

                Dieses Mal war die Veranstaltung mit etwa hundert jungen Menschen in Holzminden weitaus besser als in Hameln besucht. Einige hatten sich bereits die Online-Plattform WOM angesehen und die Diskussionen der Hamelner Schülerinnen und Schüler verfolgt. Jasmin stellte zu Beginn den Zweck und die Teilnahmemöglichkeiten des Projektes heraus und fragte: „Ihr seid mehrheitlich enttäuscht von der Politik, weil Ihr nicht aktiv am gesellschaftlichen Entscheidungsprozess teilnehmen könnt. Das WOM versucht darauf eine Antwort zu geben. Könnte diese Online-Plattform für Euch nicht ein Instrument sein, Eure Sorgen und Wünsche öffentlich zu artikulieren, zu diskutieren und sie in Form von Forderungen an die Politik zu richten?“

                Ein Student wandte ein: „Ich bin in der Jugendorganisation einer großen Partei. Wir haben ein Online-Portal und da kann jeder kommentieren. Wir brauchen das WOM nicht.“ Die meisten Jugendlichen waren da anderer Meinung und von dem unabhängigen WOM angetan. Da wären sie keiner einseitigen Parteipropaganda ausgesetzt und könnten ihren eigenen Meinungsaustausch entfalten. Das Attraktive wäre auch, die lokalen und überregionalen Nachrichten kostenlos abzurufen. Noch am selben Abend verzeichnete Ralf sechzig zusätzliche aktive Teilnehmer an der Online-Plattform.

                Am nächsten Vormittag traf Jasmin gegen zehn Uhr bei Regina ein. Als sie aus ihrem kleinen Fiat stieg und einen ersten Eindruck vom Holzmindener Stadtrand bekam, stellte sie sich vor, hier beste Gelegenheit zum Joggen zu haben. Auf eine entsprechende Frage an Regina antwortete diese: „Wenn Du gern Waldläufe machst, was Chris und ich ebenfalls lieben, bist Du bei uns gerade richtig. Aber komm erst mal rein mit Deinen Sachen. Ich zeige Dir Dein Zimmer, danach können wir eine Tasse Kaffee trinken und unsere Pläne aufeinander abstimmen. Chris ist in der Schule und kommt zum Mittagessen zurück. Ich werde uns allen Spagetti zubereiten. Das geht am schnellsten.“

                Jasmin war über ihr geräumiges und gemütliches Zimmer mit großem Arbeitstisch vor dem Fenster mit Sicht auf Wald und Felder hellauf begeistert. Dieses Besuchs-Zimmer im ersten Stock hatte ein eigenes Bad und Toilette. Besser konnte sie es gar nicht haben. Beim Kaffee am Küchentisch gab Regina eine erste Einführung in den Holzmindener Filz, wie sie sagte. „In Holzminden kennt Jeder Jeden. Die Stadt ist fest in den Händen einiger weniger Interessengruppen. Diese sind wiederum mit politischen Parteien am Ort verknüpft, die ihre Vertreter im Stadt- und Kreisrat haben. Du findest auch keine Vereine ohne Parteien-Vertreter. Die wachen mit Argusausgen über ihr sogenanntes Territorium. Es wird für mich schwer werden, in diesem lokalen Filz eine unabhängige Unterstützer-Gruppe zu finden. Um Dir ein Beispiel zu geben: Jedes Mal, wenn sich in der Vergangenheit eine Bürger-Initiative bildete, um sich für ein öffentliches Problem stark zu machen, konntest Du sicher sein, dass sich die lokalen Parteienvertreter umgehend einmischten, um im Trüben zu fischen, d. h. um Propaganda für ihre Partei zu machen. Und was die privaten lokalen Medien anbelangt, deren Vertreter Du am Nachmittag treffen wirst, kann ich Dir im Voraus sagen, dass das WOM-Projekt auf Widerstand stoßen wird. Hier in Holzminden ist gegen den Einfluss der Industrie und der Geschäftswelt sowie der Gewerkschaften und der mit ihnen verbandelten Parteien kein Kraut gewachsen. Das spiegelt sich auch in den hiesigen Medien wider. Das Treffen am Nachmittag wird Dir schon einmal einen guten Vorgeschmack darüber vermitteln.“

                   Tatsächlich erwies sich das Meeting mit den lokalen Medienvertretern als ein harter Klotz. Allesamt vermuteten sie einen möglichen Leserschwund, wenn das WOM tatsächlich zukünftig von vielen Menschen in der Region angenommen würde. Dazu ein aufgebrachter Redakteur einer lokalen Online-Plattform: „Wenn ich es recht verstanden habe, so will das WOM dem Leser die folgenden vier Vorteile schmackhaft machen. Erstens: Es bietet kostenlose lokale, nationale und internationale Informationen eines öffentlich rechtlichen Mediums an. Zweitens: Es beansprucht, den Bürger aus seiner passiven Konsumentenrolle von Nachrichten heraus zu holen und ihn zum Bürger-Journalisten und Meinungsmacher im öffentlichen Raum zu machen. Drittens: Das WOM gehört keinem privaten Kapitaleigner und kann daher von allen Menschen unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung genutzt werden, sofern sich diese an eine Netiquette halten, die Hass- und Gewalt-Aufrufe untersagt. Viertens: Das WOM kommt ohne Werbung aus. Frau Jasmin, sehe ich das richtig? Und stimmen Sie mit mir dahingehend überein, dass ein privat-rechtliches Medium gegenüber diesen Vorteilen gewaltig im Nachteil ist und garantiert Nutzer verlieren wird?“

                Jasmin hatte mit einem derartigen Vorwurf gerechnet. Es war ihr klar, dass das WOM-Projekt die privat-rechtlichen Medien in einen harten Wettbewerb zwingen würde. Sie ging noch einmal auf die Entstehungsgründe des WOM-Projektes ein: „Alle privaten wie öffentlich-rechtlichen Medien müssen sich fragen, ob sie bisher ihren Auftrag nach bestmöglicher Information und Förderung von  Meinungsvielfalt so wahrgenommen haben, wie es in einer modernen Demokratie wünschenswert ist? Ich meine, die Antwort ist sicher Nein. Das ist wohl auch Ihre Meinung. Wenn die Medien als sogenannte vierte Gewalt im Staate ein Korrektiv gegenüber den drei anderen Gewalten sein soll, dann müssen wir uns alle anstrengen, unsere Dienste gegenüber der Gesellschaft zu verbessern. Warum werden wir als ‚Lügenpresse‘ beschimpft? Warum vertrauen 70% der Bevölkerung den Medien nicht und die Leserzahlen gehen konstant zurück? Andererseits schießen immer mehr alternative Online-Plattformen aus dem Boden. Warum ist die Politikverdrossenheit so hoch? Warum ist das Ohnmachtsgefühl des Bürgers gegenüber der Politik so stark? Warum wird in Teilen der Bevölkerung immer heftiger der Hass gegenüber Politik und Staat zum Ausdruck gebracht? Wie mir scheint geht es im ländlich geprägten Weserbergland noch recht betulich zu im Gegensatz zu anderen Regionen. Aber Sie sind doch sicherlich auch der Auffassung, dass eine stärkere Beteiligung der Bürger am öffentlichen Geschehen dieser schönen Flussregion wünschenswert ist. Und gerade deshalb hat der RND im Zusammenwirken mit dem IPB hier das Pilot-Projekt ‚Weserbergland-Online-Magazin‘ gestartet, um damit negativen gesellschaftlichen Entwicklungen vorzubeugen, die es in anderen Teilen Deutschlands bereits zur Genüge gibt. Der Ansatz unserer Bemühungen kann nur darüber gehen, dass sich der Bürger als Subjekt seiner Umgebung begreift, und dass er nicht länger paternalistisch, d. h. von oben herab, behandelt wird. Der Bürger soll nicht nur Konsument von Informationen sein, die private Medien, die von Wirtschaft und Politik beeinflusst sind, anbieten. Er soll sich emanzipieren können, indem er seine Meinung gleichberechtigt auf dem Informations-Markt präsentiert. Diese Möglichkeit wollen wir dem Bürger mit dem WOM-Projekt einräumen. Schließlich ist es doch auch die vornehmste Aufgabe von Wirtschaft und Politik, dieser Bürgermeinung nachzukommen. Da wir Medien, öffentliche wie private, ähnlich gelagerte Ziele anstreben und dabei im gegenseitigen, fairen Wettbewerb stehen, was Ausdruck einer lebendigen Demokratie ist, sollten wir voneinander lernen und uns als Förderer eines Prozesses begreifen, der zu mehr Demokratie und Mündigkeit des Bürgers beiträgt. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Erfahrungen, die wir mit dem WOM-Projekt machen werden, auch Ihnen in der Weise zugutekommen, dass Sie ebenfalls attraktive Online-Plattformen kreieren, die der Bürger honorieren wird. In diesem Sinne ist sicherlich ein regelmäßiger Erfahrungs-Austausch unter uns in Zukunft nützlich.“

                Die örtlichen Medienvertreter mussten Jasmins Argumentation anerkennen. Aber es war unübersehbar, dass sie verärgert über die neue Konkurrenz auf dem Medienmarkt waren. Bisher hatten lokale Interessengruppen und die Platzhirsche der Parteien den Meinungsmarkt in Holzminden und Umgebung unter sich abgesteckt. Mit dem WOM-Projekt könnte aber dieser Markt in unvorhersehbarer Weise durcheinander gewirbelt werden.

                In der Abenddämmerung machten Regina, Chris und Jasmin noch einen Rundgang in der Umgebung. Jasmin erzählte von ihrer Gewohnheit, morgens in aller Frühe zu Joggen, um sich rundum fit für den Tag zu machen. Die Absicht sei, dabei nicht nur die umgebende Natur zu genießen sondern auch den kommenden Tagesablauf gedanklich durchzuspielen. Regina schlug vor, sich ihr anzuschließen. Sie könnten gleich Morgen vor dem Frühstück mit dem gemeinsamen Laufen beginnen. Chris zöge es sicher vor, noch zu schlafen und erst auf den letzten Drücker zur Schule aufzubrechen.

                Nach einem gemeinsamen Abendimbiss setzte sich Jasmin vor ihren Laptop, um Helmut, Ralf und Tom zu schreiben. Letzteren wollte sie am kommenden Wochenende in Münster besuchen, darauf hatte er bestanden. Danach verfasste sie noch einen kurzen Beitrag für das WOM. Es ging um eine 78jährige Rentnerin, die als ehemalige Bäuerin mit einer Minirente auskommen muss, die hinten und vorn nicht reicht. Da sie in ihrer Jugendzeit eine Krankenschwester-Ausbildung absolviert hatte, konnte sie ihr äußerst geringes Renten-Einkommen bis jetzt durch Beschäftigung als Altenpflegerin aufbessern. Aber das käme für die Zukunft wegen körperlicher Beschwerden nicht länger infrage. Gottseidank kann sie noch einige Stunden am Tag auf ein behindertes Kind aufpassen. So reicht ihr Einkommen gerade so aus, um die Miete für ihre kleine Sozialwohnung zu bezahlen und einen Rausschmiss zu vermeiden. Diese Bäuerin teilt ihr prekäres Lebensniveau weit unter der offiziellen Armutsgrenze von 1.100 Euro im Monat mit vielen älteren Landfrauen. Ab den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte sie und ihr wegen Krankheit eingeschränkt arbeitender Mann alle möglichen Varianten der Landwirtschaft kennengelernt, je nach Art der Subvention, die der Staat im Laufe der Jahrzehnte über die Bauernschaft ausschüttete. Ihre drei Kinder mussten neben der Schule auf dem Hof mitarbeiten. Fremde Hilfskräfte konnten sie nicht bezahlen. Mit der Zeit nahm der Chemieeinsatz immer größere Ausmaße an. Die einstmals vorhandene Diversität in der landwirtschaftlichen Produktion und ihre Verarbeitung in der Region veränderte sich zugunsten von Monokulturen und Massentierhaltung. Kleine Betriebe mussten an große verkauft werden. Heute ist der Städter froh, wenn er noch frische Eier von freilaufenden Legehennen beim Bauern aus der Umgebung kaufen kann. Alle anderen Lebensmittel sind Massenware und werden aus entfernt liegenden Nahrungsmittel-Fabriken in die Supermärkte der Region gekarrt. Diese Wende in der landwirtschaftlichen Produktion hat die Bäuerin schweren Herzens über 50 Jahre ausgehalten. Jetzt geht es nur noch um würdiges Altern und um Vermeidung, Kindern und Enkelkindern auf der Tasche zu liegen. Diese sollen im Rentenalter bloß nicht wie sie einem immer grösser werdenden Armutssektor angehören, der in wenigen Jahren ein Drittel der Bevölkerung umfassen wird.  Am Ende des Beitrages fragte Jasmin, wie sich Jugendliche heute ihr eigenes Altern und die Zukunft der ländlichen Weserbergland-Region vorstellten. Als sie den Beitrag in das WOM einsetzte, sah sie, dass bereits ein reger Meinungsaustausch besonders von Jugendlichen begonnen hatte. Das WOM erschien auch auf „facebook“ und wurde dort von mehreren facebook-Gruppen aus dem Weserbergland erwähnt. Sie war gespannt darauf, wie die aktiven Nutzer des Online-Portals die ersten Eintragungen von Regina aufnehmen würden. Morgen wollte diese ihre ersten Programmvorstellungen erläutern und auf ihre eigene Website aufmerksam machen.

                In der Morgendämmerung brachen Jasmin und Regina in warmer Trainingskleidung zum Jogging auf. Bald erreichten sie den nahegelegen Wald. Sie trabten locker im Gleichschritt nebeneinander her, der zur Unterhaltung einlud. Regina beschrieb die hiesige Industrie- und Geschäftsstruktur und den Einfluss bestimmter Betriebe auf die lokale politische Landschaft. Da herrschte auch ein eingespieltes Verhältnis mit örtlicher Verwaltung, mit Betriebsräten und Gewerkschaften. Sie riet Jasmin, diplomatisch mit den Vertretern der Betriebe umzugehen, denn diese sehen sich zusammen mit den Parteien-Oberen als die ungekrönten Häupter öffentlicher Meinungsmacht. Die hiesige Wirtschaft und der Arbeitsmarkt ist von ihren Entscheidungen abhängig. Der Bürger sollte froh sein, solange die Wirtschaft nicht abwandert oder Pleite macht.  

                „Jasmin, sieh mal her! Da gucken schon die ersten Schneeglöckchen aus dem Boden.“ Beide Frauen waren trotz der kalten Morgenluft allmählich warm geworden und waren neugierig, wie sich der Frühling entwickeln würde. Gäbe es noch einmal Schnee? Der Winter war eigentlich zu warm gewesen. Es war überhaupt übertrieben, von Winter im eigentlichen Sinne zu sprechen. Das ging schon die letzten Jahre so. Eis und Schnee in Norddeutschland und im Mittelgebirge waren beinahe Fehlanzeige. Der Klimawandel ließ sich nicht aufhalten, und das wurde auch im Weserbergland am frühzeitigen Aufbruch der Natur deutlich.

                Nach einer guten Stunde kehrten die beiden Frauen rundum zufrieden nach Hause zurück und fanden sich bald danach mit Chris am Frühstückstisch wieder. Der löffelte sich rasch ein Müsli rein und stürzte dann aus dem Haus, um per Rad zum altehrwürdigen Holzmindener Gymnasium aufzubrechen. „Der Apfel fällt nicht weit vom Baum. Mein Sohn hat’s wie sein Vater mit den Naturwissenschaften. Ebenso ist er an gesellschaftlichen Themen interessiert und beteiligt sich aktiv an der Schülerzeitung.“ „Apropos Schülerzeitung. Ich habe den Holzmindener Schülerinnen und Schülern angeboten, ihre Zeitungen im WOM online zu veröffentlichen. Das habe ich auch den jungen Menschen in Hameln vorgeschlagen. Dann kann das gesamte Weserbergland-Publikum die Meinungsbildung der Jugend mitverfolgen. Aber Regina, was mich umtreibt, ist Folgendes: Jugendliche werden rasch auf unser Online-Angebot eingehen, nehme ich einmal an. Zumal sie auch zu hundert Prozent im Internet surfen. Die berufstätige Generation ist zum überwiegenden Teil ebenfalls im Internet unterwegs und könnte für unser WOM-Projekt gewonnen werden. Was schwierig sein wird, ist, das Interesse bei den Älteren zu wecken. Sicher, die Akademiker unter ihnen aus der Mittelschicht sind schon jetzt täglich online. Aber die vielen Alten aus der Unterschicht mit zumeist geringem Einkommen werden schwer für das Internet zu begeistern sein.“ „Jasmin, was man versuchen könnte, wäre, Internetkurse über die Arbeiterwohlfahrt in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule anzubieten. Sollten da Lehrkräfte fehlen, könnten Jugendliche ehrenhalber mit aushelfen.“ „Regina, die Zusammenarbeit mit der AWO ist eine gute Idee. Ich werde mit denen darüber sprechen. Vielleicht kann ich die im Laufe der Woche noch erreichen.“

                Jasmins Aussprache mit Vertretern der Holzmindener Betriebe im Nebenraum einer Pizzeria am Holzmindener Markt verlief wie schon mit den Medienvertretern recht holperig. Es wurden Fragen aufgeworfen wie: „Warum überhaupt ein neues Online-Angebot, und dazu kostenlos, ohne Werbung und unter aktiver Mitwirkung des Bürgers? Sind die privaten Online-Angebote, die von erfahrenen Journalisten erstellt werden, nicht ausreichend? Unsere Journalisten kennen sich bestens aus in der Holzmindener Wirtschaft und Gesellschaft und offerieren den Lesern aus der Region einen möglichst wahrheitsgetreuen Spiegel der Realität im Lande. Sicher, diese Dienstleistung für den Bürger kostet etwas, und dafür sollte er auch zahlen. Meinen Sie das nicht auch?“

                Offensichtlich hatten einige Vertreter der einheimischen Betriebe bereits im WOM gesurft und misstrauisch den sich rasch  entwickelnden Meinungsaustausch der Nutzer zur Kenntnis genommen. Es schien sich da eine Eigendynamik zu entwickeln, auf die die klassischen Interessengruppen von Wirtschaft und Politik kaum mehr Einfluss nehmen könnten.

                Jasmin ging geduldig und souverän auf all diese Argumente und Fragen ein. Sie hob besonders hervor, dass das WOM auch eine Chance für die Betriebe sei, sich in der Öffentlichkeit von ihrer besten Seite zu zeigen. Zwar seien sie nicht zu üblicher Werbung eingeladen, jedoch könnten sie die besonderen Vorteile ihrer Aktivitäten in Form von Artikeln, Fotos und Videos veröffentlichen. Das wären zum Beispiel soziale oder umweltfreundliche Aktivitäten. Auch Innovationen und Forschungsergebnisse, die die Nutzung heimischer Ressourcen zum Inhalt haben, sind von öffentlichem Interesse und sollten von den Betrieben im WOM eingestellt werden. Sie selbst würde sich freuen, über außerordentliche Leistungen der Betriebe für die Menschen und die Umwelt der Region zu berichten, wenn sie dazu eingeladen würde.

                Die Vertreter der Holzmindener Betriebe verließen die Veranstaltung mit gemischten Gefühlen. Einerseits waren sie von Jasmins Persönlichkeit und Professionalität angetan. Andererseits ahnten sie eine zukünftige indirekte Kontrolle  und Kritik vonseiten der Bürgerschaft, vor der sie sich durch verantwortliches und innovatives Geschäftsgebaren rechtfertigen müssten.

                Den Nachmittag verbrachte Jasmin zusammen mit Regina. In ihrem gemütlichen und anheimelnden Haus fühlte sie sich beinahe wie in ihrem ehemaligen Zuhause, das sie seit Beginn ihres Studiums vermisste. Beide Frauen diskutierten über Reginas erste Veröffentlichung im WOM. Jasmin gab ihr Tipps, wie sie diese am attraktivsten gestalten könnte. Dann gingen beide die bereits veröffentlichten Beiträge nebst Kommentaren durch, die die Nutzer eingestellt hatten. So bekam  Regina ein erstes Feedback über das, was vor allem jungen Menschen wichtig ist. Ein Anruf bei Ralf ergab, dass jetzt über 200 aktive Nutzer angemeldet seien. Insgesamt registrierte er inzwischen mehr als 3.000 Aufrufe. Ralf hatte es auch immer wieder mit Trollen und rechten Hasspredigern zu tun, die er selbstverständlich nicht zur Teilnahme am WOM zuließ. Ein hartnäckiger Troll lästerte wiederholt über die Anstellung von Jasmin. Diese sei doch sicher Muslima und hätte in Deutschland nichts zu suchen. Jasmin reagierte tief betrübt auf solche Anwürfe. Sie hatte erstmalig nach Rückkehr ihrer Auslandstätigkeit Ende 2015 derartige offene Beschimpfungen zu spüren bekommen. Seit ihrer Kinderzeit fühlte sie sich in ihrer deutschen Heimat wohl. In der Schule und im Studium hatte ihr das nie etwas ausgemacht, wenn sie über ihre ausländischen Wurzeln, über die sie stolz war, befragt wurde. Diese Fragen wurden aus Neugier gestellt. Jetzt aber, seit Beginn der Flüchtlingskrise im Herbst 2015, machte sich ein immer offenerer Fremdenhass breit, der auch an ihr nicht spurlos vorüber ging.

                „Regina, hast Du einmal in Deinem Leben an der Reaktion der Dich umgebenden Menschen gespürt, Du seist nicht willkommen? Ein paar Mal schon ist es mir seit meiner Rückkehr nach Deutschland passiert, dass mich deutsche Männer verächtlich anmachten. Die sexistische Anmache kennen wir Frauen wohl alle, aber die Diskriminierung aus kulturellen und rassistischen Gründen treffen mich tief. Deutschland ist mein Heimatland. Hier ist mein Zuhause, und ich habe die deutsche Staatsangehörigkeit. Zwar betrachte ich mich zugleich als religionslose Weltbürgerin, die orientalische Wurzeln mit europäischem Kulturerbe verbindet, aber als Mensch will ich mir meine deutsche Heimat nicht von Fremdenhassern vermiesen lassen.“

                Jasmin hatte Tränen in den Augen, als sie die letzten Worte aussprach. Regina ergriff Jasmins Hände und schlug vor, noch einen gemeinsamen Spaziergang zum nahen Wald vor dem Abendessen zu machen. Zuerst gingen sie schweigend nebeneinander her. Nach einer Weile hakte sich Regina bei Jasmin unter. „Jasmin, ich versuche zu verstehen, wie Dich die aufkommende Xenophobie in Deutschland berührt, und dass sie Dich in Deinem Selbstverständnis verunsichert und traurig macht. Ich selbst habe so etwas noch nicht am eigenen Leibe gespürt. Wir weißen Europäer erfahren bisher selten in fremden Ländern und Kulturkreisen, dass wir nicht willkommen sind. Das könnte sich jedoch bald ändern, vor allem wenn Xenophobie bei uns immer mehr überhandnimmt. Dann werden wir Fremdenfeindlichkeit auch uns gegenüber erfahren, wie Du es jetzt schon in Deutschland, Deiner eigenen Heimat, erfährst. Doch ich hoffe, dass solche negativen Erfahrungen für Dich Ausnahmen bleiben. Du hast doch sicher viele Menschen um Dich herum, die Dich lieben und Dich als Mensch bestärken.“                  

                Beide Frauen begannen, sich gegenseitig aus ihrem Leben zu erzählen. Da konnte es nicht ausbleiben, dass das Thema Liebe angeschnitten wurde. Jasmin erwähnte, wie sie in ihren Gefühlen zwischen Helmut und Thomas hin und her gerissen war. „Du hast es gut, von zwei Männern gleichzeitig geliebt zu werden. Ich hingegen bin immer noch so traurig über den Tod meines Mannes, dass ich an neue Liebschaften gar nicht denken mag. Jedes Mal, wenn ich einen Mann attraktiv finde, kommen Bilder meines verstorbenen Mannes  Wolfgang in mir hoch, die ich einfach nicht beiseiteschieben kann. Dann sehe ich in Gedanken, wie wir beide zusammen mit Chris dieses Haus aufgebaut haben, wie wir zusammen in den Urlaub fuhren und uns gemeinsam hier in lokaler Politik engagierten. Er hatte vor mir bereits eine Familie, die aber auseinanderbrach. Chris hat eine ältere Halbschwester, doch trifft er sie nur selten. Ich glaube auch, dass Chris so schnell keinen Stiefvater akzeptieren würde. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich manchmal auch gern in den Arm genommen werden möchte,“ sagte Regina mit Bedauern.

                Da ergriff Jasmin die Initiative und umarmte Regina spontan. Eng aneinandergedrückt und wortlos spendeten sie sich gegenseitig einen Augenblick lang schwesterliche Wärme, bevor sie Arm in Arm weitergingen.

                „Jasmin, wirst Du Thomas von Deiner Beziehung mit Helmut berichten?“ „Regina, wenn ich das genau wüsste? Ich glaube, ich werde erst einmal nichts erzählen. Das mit Helmut kann jeden Augenblick beendet sein. Er ist verheiratet und eine längere Beziehung mit ihm ist so gut wie ausgeschlossen. Ich habe auch kein Interesse daran, seine Familie auseinanderzureißen. Die Wahrheit ist, dass uns beide ein sexuelles Verlangen überwältigte, dem wir nichts entgegensetzen konnten. Ich begann meine Sexualität erst mit Tom richtig zu erleben und weiß selbst nicht, wohin mich meine Sexualität führen wird. Andere junge Frauen machen diese Erfahrungen zehn Jahre eher, aber mein Elternhaus hatte mir eine kulturell bedingte, tief eingekerbte Schüchternheit in Liebesdingen mitgegeben. Vielleicht habe ich da etwas nachzuholen.“

                „Jasmin, hast Du jemals einer Frau gegenüber so etwas wie sexuelle Neugier verspürt,“ wollte Regina wissen. „Nein, jedenfalls nicht bisher. Und Du?“ „Jasmin, ich weiß selbst nicht, warum ich Dir gegenüber Vertrauen habe, solche intimen Dinge anzusprechen. Nicht einmal mit meinem Mann habe ich in all den Jahren meiner Ehe sprechen können wie jetzt mit Dir. Bevor ich ihn  kennenlernte, hatte ich eine Studienfreundin, mit der ich viele Interessen teilte. Wir waren so etwas wie unzertrennlich und fühlten uns zueinander hingezogen. Doch es kam zwischen uns nie zu einem intimen Austausch, weil wir beide damals meinten, wie auch all die anderen Studienkolleginnen, dass der Aufbau einer klassischen Familie mit mindestens einem Kind das erstrebenswerte Ziel im Leben sei. Die möglichen Lebensgemeinschaften, über die heute offen diskutiert wird, waren für uns vor zwanzig Jahren tabu. So hofierte mich Wolfgang in meinen ersten Semestern, und ich ging darauf ein, weil ich ihn einfach gut, souverän und erfolgreich fand. Er war von mir besessen. Bei mir war das anfangs anders, aber er war geduldig und gab mir Zeit, an unserem sexuellen Austausch Freude zu finden. Was mir aber bis heute im Kopf herumgeht, ist die Erinnerung an meine Studienfreundin. Wenn wir gemeinsam joggten und verschwitzt im Studentenheim ankamen, stellte ich mir in meiner Fantasie mehr als einmal vor, zusammen mit ihr zu duschen, ihren sportlichen Körper zu betrachten und sie unter der Brause zu umarmen.“

                „Regina, vielleicht haben alle Menschen irgendwann, ob Mann oder Frau, derartige Fantasien. Du müsstest das besser wissen als ich, da ich in sehr prüder familiärer Umgebung aufwuchs und erst vor nicht einmal einem Jahr auf die Suche nach meiner Sexualität ging. Seitdem hat sie mich allerdings mit Haut und Haaren erfasst. Von Liebe will ich da gar nicht reden. Sicher, Sympathie und Vertrauen müssen vorhanden sein. Ansonsten läuft bei mir gar nichts. Über lesbischen Sex habe ich bisher nicht nachgedacht, obwohl ich Frauenkörper schöner als die von Männern finde.“ „Das finde ich auch.“ Diese gemeinsame Feststellung brachte die beiden Frauen abermals dazu, sich aus einem plötzlichen Impuls heraus freundschaftlich zu umarmen und zu versichern.

                Inzwischen war es dunkel geworden. Chris war sicherlich schon vom Sport zurückgekommen und hatte Hunger. So eilten Regina und Jasmin rasch nach Hause. Beide hatten nach dem Abendbrot noch Arbeit vor sich. Jasmin wollte einen Artikel für das WOM schreiben und Regina hatte vor, ihre persönliche Website zu vervollständigen und dann im WOM zu surfen. Vielleicht gab es schon Reaktionen auf ihren ersten Wahlaufruf.  

                „Mama, was hältst Du von Jasmin,“ wollte Chris wissen, als er seiner Mutter nach dem Abendbrot allein gegenüber saß. „Es scheint, Ihr versteht Euch gut.“ Jasmin hatte sich bereits auf ihr Zimmer verabschiedet. „Chris, ich finde, sie ist eine tolle Frau und hat ähnliche Ideen wie ich, wie man Menschen für eine aktive Beteiligung an Politik interessieren kann. Das Projekt der Online-Plattform, das sie für den RND anleiert, ist bisher in Deutschland einzigartig. Es wird mir sicher bei meiner Kandidatur helfen. Du kannst mit Deinen Schulkameraden dort auch Eure Schülerzeitung online stellen. Macht es Dir was aus, dass Jasmin vorübergehend bei uns wohnt?“ „Nein, im Gegenteil. Seit sie hier ist, scheinst Du auch eine bessere Laune zu haben.“

                Als Regina allein vor ihrem Laptop saß, ging ihr die letzte Bemerkung von Chris durch den Kopf. Sie hatte sich schon häufiger die Frage gestellt, wie sie auf ihren Sohn, der wie sie unter dem Tod des Vaters litt, wirkte. Sie musste sich immer wieder zusammenreißen, um Optimismus auszustrahlen und beiden einzureden, sie könnten auch zu zweit genügend Freude am Leben haben. Verwandtschaft hatten sie kaum in der Nähe, doch hin und wieder bekamen sie Besuch von ehemaligen Kollegen ihres Mannes. Und Chris hatte in seiner Schule eine Menge Freundinnen und Freunde, mit denen er gern zusammen war. Regina musste zugeben, dass schon die wenigen gemeinsamen Tage mit Jasmin ihrem eingespielten Tagesablauf neuen Schwung verlieh. Sie begann sich auf die geteilten Stunden mit ihr zu freuen. Und das war Chris nicht verborgen geblieben und tat ihm offensichtlich gut. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer fremdartigen Ausstrahlung wirkte Jasmin auf Regina so anziehend und gleichzeitig vertrauenserweckend, dass sie sich wünschte, ihre Begegnungen würden, wie unter guten Freundinnen üblich, mit einer Umarmung eingeleitet.

 

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