5 Okt 2018

Die kranke deutsche Demokratie - 6. Folge

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie - 6. Folge 

Fiktion:  Junge Kurdinnen in Nordsyrien, Jasmin und Regina

Foto: Wikimedia Commons, Holzminden, Herzogliches Gymnasium in Holzminden um 1897,  Ausschnitt aus Postkarte

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In ihrem nächsten Artikel wollte Jasmin beginnen, erste Fragen, die mit der Flüchtlingsproblematik zusammen hängen, zu beleuchten. Diese Problematik, die sich in Deutschland und auch im Weserbergland seit Herbst 2015 dramatisch zugespitzt hatte, berührte und verunsicherte viele Menschen in der einen oder anderen Weise, Jasmin selbstverständlich auch. Ähnlich wie sich der Judenhass vor mehr als hundertfünfzig Jahren in ganz Deutschland auszubreiten begann, brach jetzt ein offener Hass gegenüber Muslimen und teilweise gegenüber Schwarzafrikanern aus, der bis dahin zum großen Teil unter der gesellschaftlichen Decke dahinschmorte. Jasmin war sich bewusst, dass das sich rasch auswuchernde Phänomen der Xenophobie im Laufe des Wahljahres ein wichtiges Thema werden würde. Sie wollte die Diskussion darüber mit einem Beitrag über junge Kurdinnen im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei einleiten. Dabei ging es ihr unter anderem um zwei ganz elementare Fragen menschlichen Verhaltens. Die erste Frage betrifft die persönliche Freiheit des Menschen: „Sollte man selbst bei nachteiligen Konsequenzen Widerstand gegen gesellschaftliche Machtstrukturen leisten, die als ungerecht empfunden werden und sich gegenüber diesen Machtstrukturen emanzipieren? Oder sollte man doch lieber den gesellschaftlichen Macht-Status quo akzeptieren, weil das bequemer, mit weniger Nachteilen verbunden und bereits erfahren ist?“ Die zweite Frage betrifft die ethische Grundhaltung des Menschen: „Ist der Mensch gehalten, auch unter schwierigen Umständen Hilfe gegenüber Menschen in Not zu leisten? Oder ist es gerechtfertigt, Hilfe auszuschlagen, wenn kein unmittelbarer Bezug zu den Notleidenden vorhanden ist?“ Jasmin meinte, dass beide Fragen auch direkte Bedeutung für die Bürgerinnen und Bürger im Weserbergland hätten.

                Im Frühjahr 2015 war sie für das DA in Nordsyrien, im Kanton Kobanê, unmittelbar an der türkischen Grenze tätig. Der Kanton bildet zusammen mit zwei weiteren kurdischen Kantonen an der Grenze zur Türkei die Demokratische Föderation Rojava. In der zweiten Jahreshälfte 2014 war Kobanê starker Belagerung vonseiten des Islamischen Staates (IS) ausgesetzt, der Ende 2014 von den kurdischen Streitkräften YPG mit Unterstützung von US-Luftschlägen zurückgedrängt wurde. Seit Januar 2014 hatten die Kurden im Kanton Kobanê und der gleichnamigen Stadt eine Selbstverwaltung in Form eines Räte-Systems aufgebaut. Frauen waren seitdem in allen Verwaltungs- und militärischen Strukturen gleichberechtigt vertreten, verdienten gleiches Geld für gleiche Arbeit, Zwangsverheiratung wurde abgeschafft und Frauen wurden erstmals erbberechtigt.

                Jasmin berichtete über Interviews, die sie mit zwei jungen Kurdinnen in Kobanê, Nesrin und Xara, geführt hatte. Nesrin ist eine Soldatin in einer kurdischen Fraueneinheit, Xara ist Krankenschwester. Nesrins abenteuerlicher Weg der Emanzipation aus jahrtausendealten patriarchalischen Stammesstrukturen wurde von einer Soldatin der sozialistischen Türkischen Arbeiterpartei PKK im Frühjahr 2014 in ihrem Dorf nahe der Stadt Kobanê angestoßen. Schon seit einigen Jahren hatten PKK-Mitglieder, Männer und Frauen, Zuflucht vor den Attacken der türkischen Militärs in kurdischen Siedlungsgebieten im Norden Syriens gesucht. Dort organisierten sie den Aufbau der kurdischen „Partei der Demokratischen Union“ (PYD) und der kurdischen Streitkräfte YPG. Die zwanzigjährige Nesrin ließ sich von der PKK-Genossin überzeugen, dass ihre eigene Emanzipation aus den sunnitisch geprägten feudalen Stammesstrukturen nur erfolgreich sein könne, wenn sie sich der PYD und deren Frauenorganisation anschlösse. Sie selbst hätte es in der Hand, ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten und nicht länger traditionellen Zwängen und patriarchalischer Unterordnung ausgeliefert zu sein. In ihrem Dorf gab es keine Schule. Im Elternhaus sprach sie Kurdisch, aber das Assad-Regime hatte ihre Muttersprache aus dem öffentlichen Leben verbannt. Sie war bereits in jungem Alter einem Mann aus dem Nachbarort als Ehefrau versprochen worden. Doch dieser war wegen der Kriegswirren vor zwei Jahren in die Türkei geflüchtet und wollte sich nach Westeuropa, wenn möglich nach Deutschland, wo es bereits viele Kurden gab, durchschlagen. Er versprach hart zu arbeiten und Geld für seine Familie und Nesrin in die Heimat zu schicken, solange der Bürgerkrieg andauern würde.

                Die Idee der PKK-Genossin, selbst über ihre Zukunft zu befinden, führte zu Nesrins Entschluss, zunächst ein militärisches Training für junge Kurdinnen aufzunehmen und als Soldatin die vom Islamischen Staat (IS) bedrängte Heimat zu verteidigen. Nach dem Krieg würden sie gemeinsam darangehen, ein autonomes Kurdistan im Norden Syriens aufzubauen, dass allen Männern und Frauen gleiche Zukunftschancen ermöglichen würde. Das Schicksal wollte es, dass sie und viele andere junge Kurdinnen aus ähnlichen gesellschaftlichen Bezügen schon Monate später in mörderische Kampfhandlungen gegen den IS, dem es zeitweise gelang, die Hälfte von Kobanê zu besetzen, hineingezogen wurden. Diese kollektive Kriegs-Erfahrung an der Seite von gleichgesinnten jungen Frauen, die zusammen mit den YPG-Kämpfern der monatelangen Belagerung von Kobanê standhielten, bestärkte sie endgültig in der Überzeugung, dass sie Entscheidungen über ihre Lebensverhältnisse nicht länger den traditionellen Machtstrukturen ihrer sunnitischen Stammesgesellschaft überlassen würde. Auch hielte sie sich nicht länger an das Eheversprechen gebunden, das ihre Eltern einst aushandelten. Von ihrem ‚Versprochenen‘ in der Türkei hatte sie schon lange nichts mehr gehört. Nesrin sehnte den Frieden herbei und wollte dann so schnell wie möglich eine schulische und berufliche Ausbildung beginnen, entweder im Rahmen der Soldatinnen-Einheit oder auch außerhalb in der zivilen Verwaltung der autonomen kurdischen Provinz Rojava. Die Emanzipations-Bewegung der jungen kurdischen Frauen in Rojava, die zum großen Teil aus ländlichen, sunnitisch geprägten Gesellschaftsstrukturen stammten und sich aus deren traditionellen Zwängen befreiten, würde sicher auch ein Beispiel sein für Frauen anderer ethnischer Herkunft in einem zukünftig föderativ organisierten syrischen Staat. Das jedenfalls erhoffte sich Nesrin.

                Die dreißigjährige Xara ist Krankenschwester und hatte bis zum Beginn der Schlacht um Aleppo dort in einem Krankenhaus gearbeitet. Sie und ihre Eltern stammten ebenfalls aus der Gegend um Kobanê, hatten aber bereits vor zwanzig Jahren ihren bäuerlichen Besitz verloren und mussten gezwungenermaßen nach Aleppo umsiedeln. Dort begann Xara nach ihrer Schulausbildung eine Ausbildung als Krankenschwester. Sie war verheiratet mit einem Kurden aus ihrer Heimatregion und hatte eine kleine Tochter. Ende 2013 begann die syrische Armee Fassbomben auf die Stadt zu werfen. Tausende Menschen fanden dabei den Tod, unter anderen ihre Eltern, ihr Mann und ihre Tochter. Daraufhin floh sie Hals über Kopf aus der Millionen-Stadt. In Kobanê schloss sie sich der PYD an. Trotz der Tötung ihrer Familie durch das Assad-Regime kam für sie die Flucht in ein Nachbarland nicht infrage. Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Laufe des Bürgerkrieges nahmen immer grausamere Züge an, doch sie hielt es für ihre Pflicht, das ihr Mögliche zu tun, um Menschen in bitterster Not beizustehen. In Kobanê wurde sie mehr als gebraucht, besonders seit in der zweiten Jahreshälfte 2014 die IS-Belagerung der Stadt begann. Die umliegenden Dörfer wurden bei Gegenwehr von den barbarischen IS-Kämpfern dem Erdboden gleichgemacht oder die Bevölkerung wurde regelrecht versklavt. Wer aus dem ländlichen Umland nach Kobanê entkommen konnte, hoffte auf die Flucht in die Türkei. Unter den Flüchtenden befanden sich zahlreiche Frauen und Kinder. Xara stieß in ihrem Krankenhaus auf ein fünfjähriges Waisenkind, das ihre Tochter hätte sein können und das sie so herzzerreißend ansah, dass sie es nicht fertig brachte, dieses völlig verlorene und verzweifelte kleine Wesen unbekannten Flüchtenden zu überlassen, die auf den Grenzübertritt zur Türkei warteten. Sie beschloss kurzerhand, die Kleine in ihre Obhut zu nehmen. Ihr war, als ob ihre eigene kleine Tochter ihr zurief: „Mami, lass mich nicht allein!“  Selbst Arbeitskolleginnen und Kollegen konnten Xara nicht dazu bringen, das kleine Waisenmädchen anderen Menschen auf der Flucht in die Türkei anzuvertrauen. Nach dem tragischen Verlust ihrer eigenen Familie im Bombenhagel von Aleppo gaben ihr zwei Dinge neuen Sinn im Leben. Es war einmal die Verteidigung und der erhoffte zukünftige Aufbau eines freien Rojavas, in der Frauen wie Männer aller nordsyrischer Ethnien gleichberechtigt und solidarisch nebeneinander leben und arbeiten könnten. Und es war zum anderen ihre unbedingte Hingabe für die Zukunft dieses kleinen Mädchens, das sie adoptieren wollte.

                Am Schluss ihres Artikel über die beiden Interviews in Rojava stellte Jasmin an die Leserinnen und Leser des WOM die Frage, ob die Aussagen von Nesrin und Xara irgendeinen Bezug zur Flüchtlingsproblematik und auch zur Situation von jungen Frauen im Weserbergland hätten oder nicht. Zu ihrer Freude stellte sie auch fest, dass sich weitere Nutzer für das WOM angemeldet hatten und die Online-Plattform inzwischen mehr als 5.000 Aufrufe verzeichnete. Ebenfalls waren erste positive Reaktionen auf Reginas angekündigter Kandidatur zur Bundestagswahl eingegangen.

                Als sich Regina und Jasmin am nächsten Morgen zum frühen Joggen trafen, begrüßten sie sich durch eine freundschaftliche Umarmung und einen Kuss auf den Mund. Beide waren von dieser ersten innigen Geste überrascht und erfreut zugleich als Zeichen ihrer wachsenden Freundschaft. Draußen in der frischen Februarluft wirkte die körperliche Erwärmung aufgrund des lockeren Laufes Seite an Seite wie ein zusätzliches Stimulans für den beginnenden neuen Tag. Mit Optimismus kehrten sie nach einer Stunde zurück. Beim Frühstück war Chris wie stets in der Woche auf dem letzten Drücker. Als er sich zur Schule verabschiedete, wollte ihm Regina noch einen Kuss auf die Wange verpassen. „Mama, muss das sein? Du siehst doch, dass ich in Eile bin!“ Aber insgeheim freute er sich über die gute morgendliche Laune seiner Mutter und die ihrer neuen Bekannten.

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                Freitagnachmittag. Konferenzraum eines bedeutenden Unternehmens in Holzminden. Dort findet auf Initiative eines einflussreichen Lokalpolitikers ein telefonisch kurzfristig einberufenes Treffen einiger Vertreter von lokalen Unternehmen und von verantwortlichen Mitgliedern der Konservativen Partei aus Stadtrat und Kreistag statt. Thema: ‚Weserbergland-Online-Magazin‘. Verschwiegenheit der Inhalte der Diskussion und deren Schlussfolgerungen sind dringend erbeten.

                Der Initiator des Treffens, Herr Jäger, ein bekannter Landes- und Lokalpolitiker, bestens verbunden mit einheimischer Industrie, eröffnet die Versammlung. Er ist bekannt dafür, dass er seinem Namen alle Ehre macht. Niemand ist vor ihm sicher, der nicht ein konservatives und dazu christliches Weltbild vertritt. „Ich danke Euch allen, dass Ihr trotz der Kürze der Einladung gekommen seid,“ zeigt er sich zufrieden und fährt dann fort: „Ich mache mir Sorgen um die bevorstehende Bundestagswahl. Ich weiß nicht, inwieweit Ihr das neue Online-Projekt WOM vom RND verfolgt. Da scheint sich etwas zusammenzubrauen, über das wir Konservativen und auch die Sozis keine Kontrolle mehr haben. Überwiegend junge Menschen, die bisher nichts von Politik wissen wollten, kommen auf einmal aus ihrer Reserve heraus und schimpfen wie die Rohrspatzen auf die Bundestagsparteien. Wir und die Sozis werden besonders aufs Korn genommen und seien schuld an fehlenden Lebens- und Arbeitsperspektiven, bestimmten über die Köpfe der Menschen hinweg und stünden für gesellschaftlichen Stillstand im Land. Bisher waren viele Jugendliche hauptsächlich neben ihrer Ausbildung mit Computerspielen und Partys beschäftigt. Jetzt melden sie sich zu Wort und lassen ihrem Frust freien Lauf, und das meistens anonym. Wenn sich diese Masche weiter so entwickelt, werden wir etablierten Parteien im beginnenden Wahlkampf in die Bredouille kommen. Ich gebe zu, dass der RND und auch das IPB hehre Ziele verfolgen, die politische Müdigkeit und die angeblich fehlende Meinungsvielfalt zu bekämpfen. Aber dieser Schuss kann nach hinten losgehen. Damit meine ich nicht die Zustimmung zur Neuen Rechten. Die speist sich ja hauptsächlich durch die Stimmen der ‚Loser‘, der sogenannten Verlierer in unserer Gesellschaft, die selbst nichts mehr auf die Reihe bringen, von HartzIV abhängig sind und meinen, dem Flüchtling würde mehr Aufmerksamkeit zuteil als dem deutschen Bürger. Nein, ich habe Sorge, dass die junge Generation sich nicht mehr mit unserem Parteiensystem identifiziert. Zu allem Überfluss kandidiert jetzt auch Frau Regina F. aus Holzminden als Parteilose mit der klaren Botschaft, gegen die etablierten Parteien eine Bürger-Macht aufbauen zu wollen, was das auch immer heißen mag. Und viele Jugendliche scheinen darauf reinzufallen. Wir sind doch bisher bestens mit unserem Parteiensystem gefahren und der Bürger hat uns vertraut. Nicht umsonst ist unsere Kanzlerin allseits beliebt und unsere Partei wird als Stabilitätsanker nicht nur in Deutschland sondern in der ganzen EU geschätzt. Wir sind es doch, die in erster Linie der Wirtschaft den fruchtbaren Boden bereiten, den sie zum Gedeihen braucht. Ich werde beim niedersächsischen Vorstand unserer Partei vorstellig werden, auf den Rundfunkrat in der Weise einzuwirken, dass das WOM-Projekt so schnell wie möglich eingestellt wird. Die Bürgerinnen und Bürger, die vermeintlich durch ihre aktive Teilnahme am Projekt ‚mündig‘ werden sollen, werden jedenfalls nicht unsere etablierten Parteien wählen, sicher auch nicht die Neue Rechte. Und eine unabhängige Bürger-Bewegung ist in der jetzigen Situation das Letzte, was wir brauchen. Sie wird unseren Stimmenanteil erheblich schmälern. Was mich am meisten an diesem Online-Projekt stört, ist die geschickte Meinungs-Manipulation vonseiten der verantwortlichen Redakteurin, Frau Jasmin M. Einige von Euch kennen sie ja bereits. Auf diese attraktive und clevere Frau mit der Botschaft von Bürger-Emanzipation fallen die meisten Jugendlichen rein wie die Ratten auf den Rattenfänger. Sie hat iranische und kurdische Wurzeln. Was meint Ihr, wie sollten wir als Partei aber auch als Vertreter der Wirtschaft auf dieses Online-Projekt reagieren?“ 

                „In der Tat kann das Weserbergland-Online-Magazin unserer Partei in die Quere kommen,“ meinte die Fraktionsvorsitzende der Partei im Stadtrat. Wir alle hier wissen, dass wir bei jungen Wählern weniger gut ankommen, aber bisher haben die sich zum großen Teil der Stimme enthalten und wollten von Politik nichts wissen. Wenn die sich jetzt massiv für eine parteilose Kandidatin entscheiden, müssen wir aufpassen, dass sich da nicht noch weitere unzufriedene Bürgerinnen und Bürger anschließen. Und stellt Euch vor, meine Tochter, die mit dem Sohn von Frau Regina F. in eine Klasse geht, hat doch gestern ganz begeistert davon gesprochen, dass ihre Klasse entschieden hätte, ihre Zeitung im WOM öffentlich zu machen. Auch besteht die Absicht, sich mit anderen Schülerinnen und Schülern aus dem ganzen Weserbergland auszutauschen. Plötzlich haben die Jugendlichen die Idee, auch Schüler-Journalisten zu werden. Im Prinzip ist nichts dagegen zu sagen, aber wie mein Kollege sagt, wir verlieren die Kontrolle über die Jugend. Meine Meinung ist, wir sollten wachsam sein und genau beobachten, wie sich diese Online-Plattform entwickelt. Wir könnten uns da anonym einklinken und diskret unsere Sicht der Dinge vertreten. Auf jeden Fall muss auch unser Bundestagskandidat aktiv und überzeugend Frau Regina F. die Stirn bieten. Wir haben doch schließlich Werte zu verteidigen, die wir und die heimische Wirtschaft gemeinsam in Jahrzehnten aufgebaut haben. Nicht umsonst hat sich in Holzminden eine Wirtschaftsstruktur mit hohem Industrieanteil erhalten. Darauf kann unsere Partei mit Recht stolz sein. Ich finde die Idee, auf den Rundfunkrat hinzuwirken, gut. Auch werde ich mich persönlich unter einem Pseudonym beim Weserbergland-Online-Magazin anmelden und die Meinungs-Szene, die da im Entstehen ist, genauestens beobachten. Wenn nötig, werde ich mich mit Beiträgen und Kommentaren einschalten.“             

                Die anderen Teilnehmer des Treffens begrüßen ebenfalls die Idee der genauen Beobachtung der neuen Online-Plattform und wollen sich als Nutzer anmelden. Alle sind der Meinung, dass das wirtschaftliche Gedeihen des Landes auch in Holzminden verteidigt werden muss, sei es gegen die Neue Rechte, sei es gegen den ‚mündigen‘ Bürger, der sich aufmachen will, die gegenwärtige Machtverteilung im Staate nicht länger anzuerkennen. Deshalb sei das harmonische und kämpferische Zusammenwirken von den Betrieben, die in der Industrie- und Handelskammer vertreten sind, und den Mitgliedern der konservativen Partei im Wahljahr 2017 unerlässlich, so wie es ja auch bei früheren Wahlen stets der Fall war.  

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                Am Freitagabend machte sich Jasmin auf den Weg nach Münster. Regina gab ihr zu verstehen, dass sie sich darauf freuen würde, sie in der kommenden Woche wieder bei sich zu beherbergen.  Sie wünschte Jasmin eine gute Fahrt und ein möglichst entspanntes Wochenende mit Tom.

                Während der Fahrt nach Münster gingen Jasmin die unterschiedlichsten Szenen der letzten drei Wochen durch den Kopf: Leidenschaftlicher Abschiedskuss in Münster von Tom zu Beginn ihrer Arbeit im Weserbergland; stürmische Liebeserlebnisse mit Helmut in Hameln und Hannover; kollegiale Arbeit mit Ralf; beginnende Freundschaft mit Regina in Holzminden und dazwischen der spannende Einsatz um das WOM-Projekt. Wird Letzteres tatsächlich dazu beitragen, den Bürger aus seiner politischen Lethargie zu wecken und die Meinungsmacht der Medien durch die Meinungsmacht des Bürgers zu relativieren? Jasmin hatte die Vorahnung, dieses Online-Projekt würde ihr mehr abverlangen als die journalistische Arbeit während des ‚Arabischen Frühlings‘. Denn zu ihrer beruflichen Passion der Suche nach den Bedingungen politischer Freiheit und Demokratie gesellte sich ihre erwachende Lust auf sexuelle Liebe und ihr Selbstverständnis über ihr Frausein. In welcher Weise und Ausmaß würden beide Leidenschaften von ihr Besitz ergreifen?

                Tom hatte Jasmins Rückkehr mit steigender Ungeduld erwartet. Er war enttäuscht, dass Jasmin nicht jeden Abend an ihn geschrieben hatte oder ihn anrief. Er sah wohl, wie sich Jasmin mit Haut und Haaren in das Projekt stürzte und konnte sich gut vorstellen, wie sie jeden Abend todmüde ins Bett sank. Trotzdem wünschte er sich mehr Aufmerksamkeit von ihrer Seite. Dieses Wochenende sollte für beide, so hoffte er, ein einziges Liebes-Fest werden. Er nahm sich vor, die Beziehung zu Jasmin offizieller zu machen. Nun gut, für die Arbeitskollegen an der Uni und seine Freunde waren beide ein festes Paar. Aber er wollte sie auch seinen Eltern vorstellen; auch würde er gern Jasmins Eltern kennenlernen.          

                Als Jasmin gegen neun Uhr abends Tom in seinem Appartement aufsuchte, war sie überrascht über das warme Ambiente, das Tom vorbereitet hatte. Einige Duft-Kerzen waren angezündet und ein leichtes Abendessen stand bereit: Tomatensuppe mit gemischtem Salat und Toast, dazu gekühlter Chardonnay. Er wusste, dass Jasmin am Abend nur wenig zu sich nahm.

                Nach der ermüdenden Fahrt im Feierabendverkehr wollte Jasmin erst einmal eine erfrischende Dusche nehmen und hatte Mühe, Toms stürmische Begrüßungs-Umarmungen abzuwehren. Als sie dann beide am Tisch saßen, prosteten sie sich zu, kosteten die vorzügliche, aus frischen Früchten zubereitete Tomatensuppe und Jasmin begann, über das Projekt im Weserbergland zu berichten. Tom hatte sich beinahe täglich in die Online-Plattform eingeklinkt und die Entwicklung des Meinungsaustausches verfolgt. Er war stolz auf Jasmin, wie es ihr gelang, vor allem junge Menschen für das Projekt: ‚Bürger schreiben für Bürger‘ zu begeistern. Das gelang ihr besonders mithilfe ihrer eigenen Artikel und durch ihre Kommentare zu den Beiträgen der Nutzer. Von den Trollen und der Anmache gegenüber Jasmin erfuhr er erst jetzt durch Jasmins eigene Erzählung, da Ralf dafür sorgte, dass sich der beginnende Meinungsmarkt bei aller Offenheit unterschiedlichster Anschauungen in gegenseitigem Respekt entwickelte. Jasmin berichtete auch von den Schwierigkeiten in den Diskussionen mit den lokalen Interessengruppen, vor allem etablierte Parteien und lokale Medien, deren Vertreter mehrheitlich dem Projekt kritisch gegenüberstanden.

                „Das war zu erwarten,“ meinte Tom „und ich kann mir vorstellen, dass der Widerstand von dieser Seite, falls das Projekt weiter so gut läuft, noch viel stärker wird.“ „Dessen bin ich mir voll bewusst. Aber irgendwann muss doch dieser Parteienstaat aufgerüttelt werden. Wenn der Bürger weiter schläft wie bisher, gibt es nur die Alternative des ‚Weiterso‘ oder einer ‚Neuen Rechten‘. Wann werden Bürgerinnen und Bürger endlich einmal ihre Geschicke in die eigene Hand nehmen? Tom, es ist einfach zum Verzweifeln mit der satten bürgerlichen Bequemlichkeit. Aber bevor ich mich aufrege, gib mir noch einen Schluck Portwein zum Abschluss des Abendessens. Und Dank dafür, genau das brauchte ich nach der Autofahrt.“

                Es war reichlich spät geworden und Jasmin war müde. Für den morgigen Samstag hatte sie sich vorgenommen, einige Studienkollegen und auch ihren Doktorvater zu treffen, um sich mit ihnen über den bisherigen Verlauf des WOM-Projektes auszutauschen. Sie wollte dann ausgeschlafen sein und bat Tom, von seinem Drängeln nach Zuwendung Abstand zu nehmen. Sich einfach an ihn zu kuscheln, wäre jetzt das Schönste für sie. Sie hätten ja noch zwei Tage vor sich. Tom nahm Rücksicht auf Jasmins Wünsche, streichelte ihr übers Haar, schmiegte sich an sie und beide wurden bald von der süßen Schwere des Portweins in tiefen Schlaf versetzt. 

                Am Samstagmorgen traf sich Jasmin mit einigen Studienfreunden zu einem Brunch in einem beliebten Bistro. Alle beglückwünschten sie zu dem bisherigen Verlauf des WOM-Projektes und machten Vorschläge für weitere Diskussionsbeiträge. Jasmin forderte sie auf, sich auch am Meinungsaustausch zu beteiligen. Es war offensichtlich, dass sich die überwiegend jugendlichen Nutzer von dem derzeitigen politischen System und den Mainstreammedien nicht vertreten fühlten. Für sie war zu durchsichtig, wie die wirtschaftliche Elite die Medien und die politischen Parteien für sich vereinnahmten, mit Ausnahme der Linken und der Neuen Rechten. Aber nur eine Minderheit der Jugendlichen sympathisierte mit der LINKEN wie der RECHTEN. Beiden ideologischen Richtungen haftete der Geruch einer verwerflichen historischen Vergangenheit an, die abstieß. Eher gelang es noch der RECHTEN durch Islamophobie Aufmerksamkeit zu erlangen. Die meisten jungen Nutzer waren offen für eine Diskussion der Infragestellung des Weiterso-Systems und für neue politische Ansätze außerhalb traditioneller weltanschaulicher Schablonen. Gewiss, es gab immer wieder unter ihnen die sogenannten ‚Streber‘,  wie sie in jeder Schulklasse zu finden sind, die bereits in jungem Alter von ihren Elternhäusern in den Eintritt der Jugendorganisationen der etablierten Parteien gedrängt werden. Diese kleine Minderheit beginnt bereits im zarten Teenager-Alter von einem steuerfinanzierten, bürokratischen Job im Staatsapparat zu träumen und bereitet sich systematisch seit Schul- und Studienjahren auf eine Karriere in einer politischen Seilschaft vor.  

                Am späten Nachmittag traf Jasmin ihren Doktorvater. Auch dieser verfolgte mit großem Interesse das Online-Projekt im Weserbergland. Lange berieten beide, wie neben jungen Menschen auch andere Bevölkerungsschichten in einen aktiven Meinungsaustausch eingebunden werden könnten. Da war vor allem die Gruppe der berufstätigen Mittelschicht wichtig. Der Professor schlug vor, diese Gruppe über ihre in Ausbildung befindlichen erwachsenen Kinder anzusprechen, so dass ein Austausch über die Generationen hinweg zustande käme. Dabei müsste den beruflich abhängig Beschäftigten die Angst vor öffentlichen Stellungnahmen durch die Möglichkeit einer anonymen Beteiligung genommen werden. Freiberufler haben wegen ihrer materiellen Unabhängigkeit weniger Hemmungen sich zu äußern, ebenso auch Renten- und Pensionsbezieher. Aber beruflich Abhängige laufen Zeit ihres Arbeitslebens mit selbst auferlegten ‚Maulkörben‘ herum, um ihre Anstellungen nicht zu gefährden.  

                Jasmin sah mit Gespanntheit der kommenden Nacht entgegen. Sie konnte schwerlich den sexuellen Wünschen von Tom aus dem Wege gehen und wollte ihn auch nicht brüsk vor den Kopf stoßen. Er, der liebe Freund, hatte sich so sehr nach ihrer Rückkehr gesehnt. Sie willigte ein, mit ihm zu schlafen. Doch der frühere sexuelle Drive war bei ihr nicht mehr vorhanden. Sie musste zu sehr an ihre Erlebnisse mit Helmut denken, mit dem sie erst am letzten Wochenende zusammen gewesen war. Jetzt war ihr selbst der Körpergeruch von Tom fremd geworden. Wie bei ihren flüchtigen sexuellen Abenteuern während des ‚Arabischen Frühlings‘ erlebte sie sich jetzt wieder als Schauspielerin, die ihrem Freund Liebe vorspielte. Ob Tom das wohl merkte? Die Courage, darüber zu sprechen, hatte sie nicht.

                Am Sonntagvormittag vor Jasmins Rückfahrt nach Holzminden machten sie und Tom einen Spaziergang am Kanal. Die Landschaft, die ihr im letzten Jahr so lieb geworden war, kam ihr jetzt im nasskalten Februar trostlos vor, was hauptsächlich an den kahlen Bäumen und dem nackten Buschwerk lag. Tom rückte mit dem Vorschlag raus, seine Eltern bei Jasmins nächstem Besuch aufzusuchen. Sie entgegnete ihm, dass sie nicht wüsste, wann sie das nächste Mal nach Münster kommen könnte. Auch wäre es besser, Toms Eltern erst dann zu treffen, wenn ihre Arbeit, die sie in der gegenwärtigen Projekt-Phase über alle Massen in Anspruch nähme, in ruhigeres Fahrwasser einmünden würde. Während ihres Spazierganges konnte Jasmin nicht umhin, an ihre Waldläufe mit Regina zu denken. Sie drängte zum Aufbruch und dankte Tom für das schöne Wochenende. Als sie auf der Autobahn den ersten Parkplatz erreichte, schaltete sie ihr Handy ein, rief Regina an und machte ihr den Vorschlag, nach Ankunft noch einen gemeinsamen Waldlauf im Solling zu machen. Regina stimmte zu und sagte, sie würde sich auf Jasmins Ankunft freuen.

                Fast war es Jasmin, als ob sie wieder nach Hause käme. Regina begrüßte sie mit einem warmen Kuss und einer innigen Umarmung. Und auch Chris lehnte eine vorsichtige Umarmung nicht ab. „Regina und Chris, was meint ihr von einem lockeren Lauf in der Abenddämmerung?“ Jasmin hoffte, ihrer Gefühlsanspannung durch die sportliche Betätigung Herr zu werden.  „Mama, lauft Ihr mal allein. Mir ist es draußen zu ungemütlich.“

                Im gleichmäßigen Rhythmus trabten die beiden Frauen in der hereinbrechenden Abendstille nebeneinander her. Jasmin hatte das Bedürfnis, ihr Herz auszuschütten. „Regina, ich weiß augenblicklich nicht, wie mir geschieht. Für Tom war mein Besuch sicher eine Enttäuschung. Er hat sofort gespürt, dass ich nicht wie sonst auf seine Liebes-Wünsche abfuhr. Aber mir war danach einfach nicht zumute. Ob das auf Helmut zurückzuführen ist, kann ich auch nicht mit Bestimmtheit sagen. Mit Helmut ist es einfach nur die Libido, die mich in Aufruhr versetzt. Ich erwarte nicht mehr von ihm, und er nicht von mir. Und das ist gut so. Jeglicher Gedanke an eine feste Beziehung zu einem Mann liegt mir fern. Vielleicht ist meine Zeit dazu noch nicht gekommen. Bin wohl eine Spätentwicklerin. Das ist sicher eine Folge der Erziehung durch mein Elternhaus, obwohl in unserer orientalischen Kultur die Frau von klein auf geradezu auf ihre Mutterrolle getrimmt wird. Ich bin froh, dass ich mit Dir darüber sprechen kann. Du glaubst nicht, wie ich in Münster wünschte, wieder nach Holzminden zurückzukommen.“ „Und ich freute mich ebenso auf Deine Rückkehr. Oh, wie ich es genieße, in Dir eine gute Freundin gefunden zu haben!“

                Die beiden Frauen hielten einen Augenblick inne, umarmten sich mit ihren erhitzten, bebenden Körpern und konnten nicht anders, als sich einen herbeigesehnten Kuss zu geben. Sie lösten sich nicht eher voneinander, als bis sich ihre Erregtheit beruhigt hatte. Zum ersten Mal keimte in beiden ein körperliches Einverständnis auf. Ist es das, was zur Freundschaft unter Frauen dazu gehört?

                Chris wartete schon ungeduldig auf das Abendessen. Als alle Drei bei Tisch saßen und sich die beiden Frauen frisch geduscht und bei guter Laune ein Glas Rotwein kredenzten, wurde er ebenso von der guten Stimmung erfasst. „Mama, darf ich auch ein Glas Rotwein trinken? Ihr habt es nötiger nach dem Laufen, aber Du weißt ja, dass ich nach einem Schluck Rotwein besser schlafen kann. Morgen schreiben wir übrigens eine Klassenarbeit in Matte.“ „D’accord! Aber nur, wenn Du mir versprichst, die Arbeit nicht zu vergeigen.“ Regina hatte dann und wann auch schon früher ihrem Sohn ein Gläschen Rotwein am Abend gegönnt, ganz besonders wenn beide in trister Stimmung waren. Dann sollten die dunklen Gedanken verscheucht werden. Jetzt aber war mit Jasmin so etwas wie der Frühling ins Haus eingekehrt, den auch ihn erfasste.   

                Am Montagmorgen waren beide Frauen wie gewohnt in aller Herrgottsfrühe zum Joggen aufgebrochen. Sie hatten sich einen gemeinsamen Arbeitstag bei Regina vorgenommen. Jasmin wollte ausgiebig per Skype mit Ralf und Helmut die Entwicklung der Online-Plattform durchdiskutieren und ansonsten auf die Diskussionen der Nutzer eingehen. Für den Dienstag hatte sie ein Treffen mit verschiedenen Vereinen und Initiativen der Zivilgesellschaft in Holzminden ausgemacht. Reginas Absicht für den Montag war, an ihrem Programm zu feilen und einen ersten Aufruf zur Bildung eines Unterstützer-Komitees in Holzminden zu starten. Chris war wie immer spät zum Frühstück dran. Bevor er dann aus dem Haus rannte, ließ er sich dieses Mal von seiner Mutter geduldig ein Bussi auf die Wange gefallen. Sie wünschte ihm viel Glück zur Matte-Arbeit.

                Als beide Frauen allein ihren Kaffee genossen, fragte Regina: „Jasmin, wie hast Du gestern unseren Kuss empfunden?“ Statt eine direkte Antwort zu geben, rutschte Jasmin ihren Stuhl dicht an Reginas Stuhl heran und nahm ihren Kopf mit den schulterlangen blonden Haaren in beide Hände. „Wenn Du das wissen willst, müssen wir den Kuss noch einmal ausprobieren. Dann werde ich Dir antworten.“

                Beide verloren sich in einen langen Kuss, wie ihn weder Jasmin noch Regina vorher mit einem Mann erlebt hatten. Nach einiger Zeit fasste sich Jasmin und antworte mit leiser, bewegter Stimme: „So Regina, jetzt weißt Du, wie ich Deinen Kuss empfunden habe, und Du wirst den meinen sicher ebenso gespürt haben. Ich glaube, wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht ineinander verlieben. Mein Gott, was ist bloß los mit mir? Warum überfällt mich in Deiner Gegenwart zum ersten Mal ein Bedürfnis, das über reinen Sex hinausgeht. Regina, entschuldige, wenn ich so rede. Aber es kommt einfach aus meinem Innersten heraus, und ich kann nichts dagegen tun.“

                „Musst Du ja auch nicht, Jasmin, ist schon gut. Mir geht es doch genauso. Seien wir einfach froh über unsere Freundschaft. Wir brauchen sie wohl jetzt beide in diesem entscheidenden Jahr. Vielleicht wird mein Mädchentraum mit Dir einmal wahr, eine gute Freundin unter der Dusche nackt zu betrachten und zu umarmen.“ Dabei fing Regina an zu lachen und Jasmin brach ebenfalls in Gelächter aus: „Wenn zwei Frauen die Welt verändern wollen, sollten sie statt sich unter der Dusche zu vereinen lieber die gemeinsame Lektüre der Machos Marx und Engels genießen! Regina, jetzt mal im Ernst, was soll ich denn mit meinen beiden Männern machen?“ „Zerbrich Dir nicht den Kopf darüber. Kommt Zeit, kommt Rat. Ich denke auch nicht ständig über Männer nach. Zumindest nicht in diesem Jahr. Es gibt Wichtigeres zu tun.“ Regina drückte Jasmin ein fröhliches Bussi auf den Mund und meinte, jetzt sei es Zeit, an die Arbeit zu gegen.     

                Als Jasmin mit Ralf über Skype sprach, gratulierte er ihr zu dem wachsenden Erfolg der Online-Plattform. „Wie machst Du das nur? Jetzt sind schon beinahe tausend Nutzer registriert und das WOM verzeichnet über fünftausend Aufrufe. Es scheint, als ob vor allem junge Menschen auf den Dreh kommen, sich über unser Online-Magazin Luft zu machen.“

                „Ralf, ich möchte vorschlagen, dass wir oben auf der Home-Page ganz dick einen Leitspruch in Anlehnung an Descartes eintragen: ‚ICH LESE UND SCHREIBE, DESHALB BIN ICH!‘ Der Schlüssel zum ‚mündigen‘, emanzipierten Bürger liegt doch darin, dass über Lesen und Schreiben, die beide auch Denken voraussetzen, die Menschen wieder an Selbstwertgefühl und Identität gewinnen. Das sture Nachbeten dessen, was ‚Ottonormalverbraucher‘ von wirtschaftlichen und politischen Eliten vorgesetzt bekommt, kann m. E. aufgebrochen werden, wenn die Menschen wieder Lust auf Beteiligung an Meinungsaustausch im öffentlichen Raum bekommen. Das müsste schon in Schulen gefördert werden, was viel zu wenig geschieht. Und die Medien sowie der Staat haben daran kein Interesse, denn es würde die Machtfrage im Lande aufwerfen. Wer will das schon? Ich finde es toll, dass RND und IPB mit unserem Projekt die Verantwortung der öffentlich-rechtlichen Medien ernst nehmen, eine Kontrollgewalt gegenüber dem Staat sein zu wollen. So stärken wir die Emanzipation des Bürgers. Ottonormalverbraucher soll sich nicht länger hinterm warmen Ofen verstecken. Mir kam auch die Idee, wir könnten für bestimmte Bevölkerungsgruppen, z. B. Schüler, Studenten, Berufstätige, Rentner, Frauen, Männer, Alleinerziehende u. a. Schreibwettbewerbe in Form von Kurzgeschichten oder Lyrik veranstalten über Themen, die den Menschen vorwiegend am Herzen liegen. Das könnten auch Foto- oder Videowettbewerbe sein. Wenn die Schulen und auch Volkshochschulen da mitziehen würden, wäre das noch besser. Was meinst Du dazu?“ „Jasmin, das sind ausgezeichnete Ideen. Ich werde mich mit meinen Bekannten darüber aussprechen. Sollte sich das WOM-Projekt in diesem Sinne entwickeln, dann kommt auf uns beide ein ‚Knochenjob‘ zu, der wenig Raum für Freizeit lassen wird. Auf jeden Fall hast Du mich auf Deiner Seite.“

                Jasmin versuchte daraufhin, mit Helmut zu sprechen. Seine Sekretärin sagte, er hätte diese Woche so viel zu tun, dass er mit ihr erst am Wochenende reden könnte, wenn sie persönlich in Hannover anwesend wäre.

                Regina steckte ihren Kopf zur Tür herein. „Jasmin, hast Du einen Augenblick Zeit? Ich habe gerade mein Programm weiter präzisiert, vor allem im Hinblick auf die direkte Bürgerbeteiligung und mehr Demokratie. Das möchte ich am Nachmittag ins WOM einstellen. Können wir das zusammen durchgehen? Ich hätte gern Deine Meinung dazu.“ „Kein Problem. Hol nur Dein Laptop und setzt Dich zu mir.“

                Die beiden Frauen arbeiteten intensiv zwei Stunden am Kapitel Bürgerbeteiligung und Mehr Demokratie. Es war Mittag geworden. Chris würde heute erst am späten Nachmittag zurückkommen, da er eine Sportarbeitsgemeinschaft hätte. Da den Frauen die Köpfe rauchten, schlug Regina vor, eine halbe Stunde Yoga zu praktizieren und auszuspannen. Danach könnten sie rasch eine Spagetti-Mahlzeit zubereiten.

                Im Hause gab es einen Gymnastikraum mit allerlei Übungsgeräten und Bodenmatten für Yoga. Jasmin war weniger fit in Yoga. Sie musste sich von Regina einweisen lassen. Als diese mit Jasmin auf der Bodenmatte eine Übung zur Stärkung der Bauchmuskulatur ausprobierte, musste Jasmin plötzlich laut lachen. „Regina, wir haben beide recht. Frauen sind einfach schöner als Männer! Schauen wir uns mal genau an.“ Beide Frauen erhoben sich und betrachteten sich in einem Spiegel, der eine ganze Wandseite einnahm. Regina überragte Jasmin um fünf Zentimeter und war ein blonder, nordischer, Jasmin ein dunkler, orientalischer Typ. Beide hatten eine Figur, wie sie Männern den Kopf verdreht. Nicht zu dick, nicht zu schlank, mit fraulichen Rundungen, die einfach zum Verlieben sind.

                „Jasmin, wo wir schon einmal so weit sind, springen wir doch gleich unter die Dusche, wenn Du keine Angst hast. Dann können wir uns noch besser betrachten und ein lang gehegter Traum von mir geht in Erfüllung.“

                Gesagt, getan. Ohne Scham zogen sich die beiden Frauen aus, drehten die Dusche an und ließen das warme Wasser über ihre heißen, nackten Körper sprudeln. „Jasmin, darf ich Dich abseifen?“ „Warum nicht?“  

                Regina nahm den Badeschwamm und begann, Jasmin ganz langsam von oben nach unten einzuseifen. In der linken Hand führte sie den Schwamm. Ihre rechte Hand streichelte Jasmins nasse, glatte Haut und zeichnete alle Rundungen nach. Dabei betrachtete sie bewundernd Jasmins porzellan-weißen, femininen Körper und konnte sich gar nicht satt genug daran sehen. Dann war Jasmin an der Reihe, Regina einzuseifen. Jedes Mal, wenn die Frauen gegenseitig sanft ihre empfindlichsten Körperteile berührten, begannen sie wohlig zu erzittern und ihre Umarmung herbeizusehnen.

                Nach dem Einseifen war der Moment der Vereinigung unter der Dusche gekommen. Beide Körper rieben sich aneinander und ihre Hände erforschten die Geheimnisse der Freundin. Jasmin, die ihre sexuelle Lust mit Tom und Helmut beinahe explosionsartig auslebte, hatte dabei das ausschließliche Bedürfnis, sich selbst zu spüren. Sicher, Tom und Helmut waren liebenswerte Männer, denen sie vertrauen konnte. Aber sie machte sich keine Gedanken, was psychisch in den Männern beim Liebesspiel vorging. Das war jetzt mit Regina anders. Sie wollte nicht nur sich empfinden, sondern auch den Widerhall in Regina in sich aufnehmen.

                „Regina, wie spürst Du mich, wenn Du mir die Brüste, den Bauch und meine Scham streichelst? Ich fühle, dass eine strömende Wärme von Deinem Körper ausgeht und in meinen hinüberließt und alle meine Sinne einnimmt. Ich möchte Dir mein Innerstes ebenso schenken, wenn ich das vermag.“

                „Jasmin, Du gibst mir mehr, als Du ahnst. Du erfüllst mich mit Deiner ganzen Frauenkraft. Nie habe ich Liebe so in mich aufgenommen. Ich glaube, das ist Geben und Nehmen im Körperlichen und Seelischen zugleich, von dem wir Psychologen so oft sprechen und doch in der eigenen Praxis meist nie erfahren. Lass uns einfach noch ein wenig still beieinander liegen und diesen kostbaren Moment in uns aufbewahren. Schenk mir noch einen Kuss.“                   

                Die Frauen fanden ein wunderbares Wohlgefallen aneinander, dass sie vor Glück zu Lachen und zu Weinen begannen und für Momente jegliche Sorgen vergaßen. Sollte doch ihr Bestreben um Demokratie und um Freiheit in der Gesellschaft einfach mal keine Rolle mehr in ihren Gedanken spielen! Dafür aber sei das Glück über die mit der Freundin geteilte Wärme, Gleichheit, Geborgenheit und Freiheit das Wichtigste des Augenblicks. 

                Nach einer Weile begann Jasmin das Wort zu ergreifen: „Regina, behalten wir dieses schöne Erlebnis ganz für uns. Niemand soll davon wissen, sonst könnte das meine und Deine Pläne in diesem Jahr zunichtemachen. Auch Chris sollte nichts erfahren. Wir haben uns beide auf ein Demokratie-Abenteuer eingelassen und müssen das verantwortungsvoll durchspielen. Aber ich meine, dass unsere Freundschaft, die nur wir kennen, uns in unserer Arbeit Flügel verleihen wird. Meine Güte, auch meine Beziehung zu Helmut kennst nur Du, und auch sie muss unter allen Umständen verschwiegen werden. Welche Gefühlswelten haben mich in so kurzer Zeit erfasst? Wenn ich es recht bedenke, bist Du mein einziger Halt in dieser Zeit. Vor Dir will ich keine Geheimnisse haben.“

                   „Jasmin, komm her und umarme mich noch einmal. Du kannst mir vertrauen, und ich weiß, dass ich Dir vertrauen kann, obwohl wir uns erst eine Woche kennen. Ich ahne, dass dieses Wahljahr uns zusammenschweißen wird, ohne dass die Öffentlichkeit davon Kenntnis erhält. Lebe die Beziehungen mit Tom und Helmut so, wie Du meinst. Ich bin da nicht eifersüchtig und mische mich nicht ein. Wir beide haben unsere gemeinsame Welt, die für Außenstehende verschlossen bleibt. Und diese Welt wird sicher von Tag zu Tag reicher werden, wenn wir uns das zugestehen.“    

                „Glaubst Du, dass unser Liebesaustausch moralisch vertretbar ist, Regina? Wie kann ich das mit freiem Willen und steigender Lust vertreten, wo ich einen lieben Freund in Münster habe und gerade mit Helmut meine Sexualität auslebte? Gehört Bisexualität zur mir oder soll ich mich ihr entsagen? Erst vor nicht einmal einem Jahr begann ich, meinen Körper und meine sexuelle Lust bewusst zu erfahren, als sei ein seit frühester Kindheit gewachsener Panzer zerplatzt. Theoretisch habe ich immer die These vertreten, dass meine persönliche Freiheit eine ganzheitliche sei, die geistige, die seelische und die körperliche. Jetzt erlebe ich diese körperliche Freiheit konkret und sie erstaunt mich immer mehr. Wie kommt es, dass ich nicht nur bei Männern sinnliche Befriedigung erfahre, sondern auch bei einer Frau, bei Dir. Und diese Befriedigung scheint mich viel tiefer zu treffen. Liegt das daran, dass wir beide gemeinsam für gleiche Ziele von sozialer Gerechtigkeit und politischer Freiheit kämpfen? Liegt es daran, dass uns ein gegenseitiges Gefallen vereint, und wir uns als Frauen schön finden? Liegt es daran, dass wir meinen, uns gegenseitig voll vertrauen zu können? Oder sollten wir besser gar keine Erklärung versuchen und uns einfach darüber freuen? Wenn meine Eltern wüssten, welche Phase ich gerade in meinem Leben durchmache, würden sie die Hände überm Kopf zusammenschlagen und mein Verhalten kritisieren. Beide haben sich in ihren Studienjahren in Deutschland vom Islam getrennt. Aber ihre orientalischen Wurzeln und die daraus entstandene Psyche halten sie bis heute gefangen.“

                „Ich sagte Dir ja, dass ich in meiner Jugendzeit diesen geheimen Wunsch in mir trug, meine damalige Freundin einmal nackt zu umarmen. Das ging mir auch später in meiner Ehe nie aus dem Kopf und mit Dir hat sich dieser Wunsch ganz von selbst erfüllt, als müsste es so sein. Jasmin, unsere Begegnung hat mit Moral oder Unmoral nicht das Mindeste zu tun. Freuen wir uns einfach, zum ersten Mal eine Liebe unter Frauen erlebt zu haben. Unser Selbstverständnis als Frau wird dadurch wachsen und unsere neue Freundschaft wird uns stärken. Das brauchen wir beide.“ 

                Regina verfasste noch am Nachmittag einen ersten Aufruf für ein Unterstützer-Komitee, das sie brauchte, um zweihundert Unterstützer-Unterschriften zusammenzubekommen. Die sind notwendig, um vom Wahlleiter als parteilose Direktkandidatin zur Bundestagswahl zugelassen zu werden. Allein würde sie das nicht schaffen. Zudem sei ein solches Komitee nicht nur in Holzminden sondern auch in anderen Gemeinden des Wahlkreises wichtig, damit sie später den eigentlichen Wahlkampf erfolgreich aufnehmen könnte. Sie appellierte auf ihrer eigenen Website und im WOM an interessierte Wählerinnen und Wähler, sich über eine persönliche Nachricht bei ihr zu melden.

                Für Jasmin war es nach dem Liebes-Erlebnis mit Regina schwierig, sich auf ihre Arbeit am WOM-Projekt zu konzentrieren. Sie bereitete sich erst einmal einen Kaffee mit einer Prise Schokoladenpulver verfeinert zu und machte es sich gemütlich in ihrem Besuchszimmer mit der Februar-Aussicht nach draußen. Ziemlich planlos surfte sie im WOM herum und gab hie und da einen Kommentar zum Besten. Sie stellte fest, dass das Thema Flüchtlinge die Gemüter vieler Nutzer erhitzte. Ralf hatte ihr geraten, einen weiteren Artikel zur Flüchtlingsproblematik zu verfassen. Er meinte, es sei manchmal unerträglich, die Hasskommentare vieler Kommentatoren, hauptsächlich von Männern, zu ertragen, die er alle sorgfältig durchlas aber selbstverständlich nicht zur Veröffentlichung zuließ. Es war offensichtlich, dass das Thema Flüchtlinge ein Hauptthema der Wahl werden würde und sicher die Neue Rechte mit Macht ins Parlament brächte. Das ließe sich auch an den Wahlvorhersagen ablesen. Nachdem der Widerhall der Begegnung mit Regina langsam abflaute, fand Jasmin ihre gewohnte Schreiblust wieder.

 

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