8 Okt 2018

Die kranke deutsche Demokratie - 7. Folge

Submitted by Hermann

 

Die kranke deutsche Demokratie - 7. Folge

(Politischer Mord im Weserbergland) 

 

Realitaet: Hat der Buerger in Wahlen eine Chance gegen BT-Parteien? 

 

Wie macht ein parteiloser „Bürgerkandidat“ Wahlkampf, der nach 50 Jahren in seine Heimat zurückkehrt?

 

Foto: Wikimedia Commons, Inneres der ev. St. Petri-Pauli-Kirche in Bad Muender/D, Autor: Rabanus Flavus

Dies ist der Ort meiner Kindergottesdienste und Konfirmation

- - -

Sonntagabend, Bad Münder: Ich komme aus der ev. luth. Kirche zurück. Es gab ein Benefiz-Konzert, um für das Gemeindehaus zu sammeln. Vier Spieler, eine Sängerin, Jazz und Latino-Musik. Mir hat’s gefallen. Ein fetziges brasilianisches Stück rief bei mir ‚saudades‘ hervor, die typisch portugiesische Sehnsucht nach Heimatlichem. Und das in der nüchternen, spießbürgerlichen Kleinstadt Bad Münder mit seinen renovierten Fachwerkbauten und allenthalben Schmutz auf Straßen und Plätzen. Eine junge Erfurterin, die wie ich in derselben  kleinen Pension wohnt, hatte mich auf den Schmutz aufmerksam gemacht, der in Lateinamerika in vielfach gesteigerter Form einfach zum Straßen- und Landschaftsbild dazugehört. Ich kenne Erfurt nicht, wo es offensichtlich ordentlicher zugeht. Sind die ‚Ossis‘ sauberer? Leider sind mir bisher die östlichen Bundesländer nur begrenzt untergekommen, obwohl ich sie doch gern kennen lernen würde. Aber das kann ja noch kommen. Mir war allerdings auch aufgefallen, dass meine alte Heimatstadt, die ich vor fünfzig Jahren wegen Bundeswehr und Studium und später Arbeit in peripheren Ländern verließ, weniger sauber als zu Kinder- und Jugendzeit aussah.

                Nun gut, der Kirchenbesuch fand hauptsächlich deswegen statt, weil ich einmal den Ort meiner Kindergottesdienste, Konfirmation (Mein Gott, schon sechzig Jahre her!) und Weihnachtsspiele wiedersehen wollte. Dazu war das Konzert der geeignete Anlass. Und es gab einen weiteren Grund, die altehrwürde, protestantisch schmucklose Kirche wieder aufzusuchen: Ich wollte sehen, ob ich wenigstens ein bekanntes Gesicht unter den Besuchern, es waren wohl mehr als 100 Zuhörer anwesend, entdecken konnte. Aber nein, alle Anwesenden waren mir fremd.

                Hätte ich als ein über fünfzig Jahre ‚verlorener Sohn‘ der Stadt nach dem Konzert einfach das Mikrophon ergreifen sollen, um mich der versammelten Gemeinde vorzustellen und zu sagen: „Seht her, ich bin aus Sorge um das Mutter- und Vaterland aus der Ferne zurückgekehrt, um mich als Parteiloser um ein Bundestagsmandat zu bewerben.“ ?

                Selbstverständlich hätte ich das nicht tun sollen, habe ich ja auch nicht. Aber eigentlich wäre das nur recht und billig gewesen. Warum? Dazu folgende Überlegungen:

1.  Die Gründe meiner Intention, mich als Bürger in die Politik einbringen zu wollen und aus der  ‚Dritten Welt‘ zurückzukehren, habe ich bereits ausführlich erwähnt. Hier aber zusammengefasst noch einmal: Die unerträgliche Verschärfung der europäischen Krise, verursacht durch deutsche Hegemonialpolitik; dazukommend das fürchterliche Verhältnis zu Russland und die erniedrigende deutsche US-Schoßhund-Rolle. Ausschlaggebend für mich jedoch: die seit siebzig Jahren von den BT-Parteien verhinderte Souveränitäts-Rolle des Bürgers im Staat und der jüngst aufgebrochene, offen artikulierte Fremdenhass einerseits und eine völlig verfehlte Flüchtlings- und Integrationspolitik andererseits.  

2. Nach fünfzig Jahren Abwesenheit kennt mich beinahe niemand in der Heimatstadt, geschweige denn in Hameln an der Weser, wo ich das Abitur machte, und im übrigen Wahlkreis. Auch bin ich von Anfang an völlig auf mich allein gestellt, um mich, wie man auf neudeutsch sagt, zu ‚vernetzen‘. Trotz allem bestehe ich auf dem Recht, mich als Bürger in die derzeitige bedrohliche gesellschaftliche Situation einzumischen. Um meine Rückkehr vorzubereiten, schickte ich bereits Ende vergangenen Jahres meine politischen Vorstellungen an lokale Journalisten, jedoch ohne irgend ein Echo zu erhalten. Selbst meine Versuche zu Beginn März nach Ankunft im Weserbergland, die lokale Presse zu interessieren, erfuhren bislang ‚eisiges‘ Schweigen. Die Kandidaten der etablierten Parteien, die ohne eigene politische Aussagen in die Wahlkampf-Arena steigen, lediglich mit dem Verdienst auf dem Buckel, altgediente Parteisoldaten zu sein, bekommen sofort Öffentlichkeit, wenn die BT-Parteien die Presse einbestellt. Der parteilose Kandidat, der einfache Bürger, wird von der ‚vierten‘ Gewalt im Staate schlichtweg ignoriert. So funktioniert der Parteienstaat. Wir Bürger und Bürgerinnen wissen das ja schon seit ewigen Tagen. BT-Parteien und Mainstream-Medien bilden eine unheilige Allianz, vor allem seit die Grünen im staatlichen Machtapparat fest verankert sind und über das Abschöpfen öffentlicher Pfründe ihre ursprünglichen Forderungen von Bürgerteilhabe und wahrer Demokratie im Mülleimer entsorgten.

3. Was bleiben mir dann an Möglichkeiten, mich als Person und meine Ideen von einer bürgerbestimmten Republik, im Gegensatz zum Parteienstaat, und von einer humanistischen Gesellschaft bekannt zu machen, und das alles mit ausschließlich eigenen begrenzten finanziellen Mitteln? In Lateinamerika, wo es allgemein keine Parteienfinanzierung gibt, können nur finanzkräftige Kandidaten auf erfolgreiche Kandidatur hoffen. In Deutschland sollte das eigentlich anders sein. Aber die BT-Parteien-Finanzierung durch öffentliche Kassen (und da ist Herr Schäuble durchaus nicht geizig) hat eine ähnliche Wirkung. Die Kandidaten dieser Parteien haben einen Riesenapparat im Rücken und zusätzlich die Mainstream-Medien kostenlos und treu an ihrer Seite. Und fristgerecht vor Wahlen werden billige Sprüche der BT-Parteien unters Volk gestreut, man wünschte sich mehr Bürgerbeteiligung. Welch‘ Hohn spricht aus diesen Worten! Ob der Bürger darauf reinfällt wie bei vergangenen Wahlen? Die hohen Zustimmungswerte zu den beiden großen Parteien scheinen das zu suggerieren. Und will denn der Bürger gar nicht Souverän im eigenen Staate sein? Genügt ihm das Dasein in der Hammelherde, wenn das Futter stimmt? Dann könnte die Volkssouveränität doch endgültig aus dem Grundgesetz gestrichen werden, nachdem sie seit 1949 für den Bürger sowieso eine Schimäre ist. Warum sagen die BT-Parteien das nicht ehrlicherweise?                                              

                Meine bescheidenen Möglichkeiten als parteiloser Direktkandidat sind zuerst einmal die Suche nach Gleichgesinnten im Wahlkreis und das direkte Gespräch mit so vielen Bürgerinnen und Bürgern wie möglich. Dazu in der nächsten Folge mehr.

4. Die zweite Möglichkeit der Überbringung von politischen Botschaften sind die sozialen Internet-Netze. Bisher war ich ein Laie in dieser Art der Kommunikation. Wer will sich schon wissentlich der Schnüffelei aussetzen, von wem auch immer veranlasst, die im Internet-Zeitalter wie eine gefräßige Spinne über das Land zieht und nach Beute Ausschau hält? Aber will ich wenigstens einige Menschen zur Abkehr von Obrigkeits-Gehorsam und für Zivilcourage sowie unabhängiges Denken ermutigen, dann muss ich in diesen sauren Apfel der sozialen Internet-Netze beißen, ob ich das nun will oder nicht. Das war mir auch von Beginn an klar. So entstand die Idee meiner persönlichen Website (hermann-gebauer.de) und der Weserbergland-Zeitung (wbl-online.net). Beide Seiten sind jetzt online und sind mit meinen accounts auf facebook und twitter vernetzt. Mein Gott, wie sauer schmeckt dieser Apfel! Aber es bleibt mir keine andere Wahl. Fazit: Wie ist doch Demokratie in Deutschland aus dem Ruder gekommen? Oder war sie seit jeher ein Wunschbild ?

 

(Anfang April 2017)

- - -

 

Fiktion: Das Weserbergland-Online-Magazin waechst, Neue Rechte in Holzminden

 

„Ich heiße Kambale, bin achtzehn Jahre alt und komme aus der Demokratischen Republik Kongo. Meine Heimatprovinz ist  Nord-Kivu, wo ich nahe der Grenze zu Uganda in einem kleinen Dorf geboren wurde. Als ich dreizehn Jahre alt war, überfielen Hutu-Rebellen unser Dorf. Seit dem von ihnen begangenen Völkermord an den Tutsis im Jahre 1994 waren sie aus Ruanda geflüchtet und terrorisierten jetzt in unserer Provinz die Menschen. Mein Vater wurde mit anderen Männern des Dorfes getötet. Meine Mutter wurde vor uns Kindern vergewaltigt, ebenso wie meine vierzehnjährige Schwester. Danach wurden sie wie mein Vater erschossen. Meinen kleinen Bruder und mich verschleppten sie zusammen mit anderen Kindern in das Rebellen-Lager. Dort wurden wir zuerst im Gebrauch von Waffen unterrichtet. Wer sich dabei ungeschickt anstellte, wurde erschossen. Unsere ersten Aufgaben waren das Töten von Hunden und anderen Tieren. Zur Beruhigung durften wir Haschisch rauchen. Ich bekam ein deutsches G3-Gewehr. Die Rebellen sagten, die Waffen kämen aus dem Sudan und seien dort originalgetreu nachgebaut oder dorthin geschmuggelt worden. Auch mussten wir lernen, mit Walther Pistolen, deutschen Panzerfäusten und Landminen umzugehen. Kalaschnikows, hörten wir, wären aus alten DDR-Beständen nach Afrika gelangt. Deutsche Waffen, so beteuerten unsere Chefs immer wieder, seien zum Töten bestens geeignet. Ich erzähle Dir das, weil Du eine deutsche Journalistin bist und die Menschen in Deutschland wissen sollen, welches Unheil sie mit ihrer Waffenproduktion anstellen. Mein Bruder und ich wie auch andere Kinder aus unserem Dorf wurden gezwungen, an den Überfällen der Rebellen in unserer Region teilzunehmen. Wir Kindersoldaten waren immer die Ersten, die im Morgengrauen die Dörfer überfielen und die Bewohner töteten. Dabei mussten die erwachsenen Männer zuerst dran glauben. Danach kamen Mädchen und Frauen dran, die vergewaltigt und anschließend bis auf wenige getötet wurden. Die Überlebenden wurden den Kriegern als Frauen zugeteilt. Zum Schluss brachte man dann die ganz kleinen Kinder um, da sie für den Krieg nicht zu gebrauchen waren. Die halbwüchsigen Jungen wie mein Bruder und ich hatten das ‚Glück‘, mit dem Leben davon zu kommen und als neue Kindersoldaten ins Rebellenlager entführt zu werden. Die Überfälle fanden immer statt, wenn im Lager kein Essen mehr vorhanden war und deshalb Dörfer geplündert werden mussten. Nach zwei Jahren wurde ich zusammen mit meinem Bruder eingeteilt, in einem Minenfeld nach Kobalt, Gold, Coltan und anderen Mineralien zu suchen. Dabei wurden wir jetzt durch neu rekrutierte Kindersoldaten beaufsichtigt. Und wehe wir wurden schwach und förderten nicht genug zutage. Viele meiner Freunde, die einfach nicht mehr konnten, wurden kurzerhand umgelegt. Unsere Arbeitsinstrumente waren Hacken, Schaufeln, Macheten und unsere bloßen Hände. Oft buddelten wir tiefe Gänge in den Boden, die besonders in der Regenzeit Gefahr liefen einzustürzen. Ich kann gar nicht zählen, wie viele meiner Kameraden in diesen zwei Jahren lebendig unter der Erde begraben wurden. Man sagte uns, die Mineralien würden nach Uganda geschleppt, wo man sie für gutes Geld verkaufen kann, um damit neue Waffen zu erwerben. Ich wusste anfangs nicht, wofür Kobalt und Coltan wichtig sind, die vor allem chinesische Händler aufkauften. Meine Chefs meinten, ohne diese Metalle würden keine Handys und Computer funktionieren. Batterien brauchten ebenfalls diese Mineralien. Auch die Handy-Verbindung zu unserem Ober-Boss in Deutschland, der in einer Stadt namens Mannheim wohnt, könnte ohne die Mineralien nicht funktionieren. So würde unsere Arbeit in den Minen dazu beitragen, dass der Boss regelmäßig über Handy Befehle von Deutschland aus übermitteln könnte. Ich nehme an, dass auch Dein Handy und Computer nicht ohne unsere Kinderarbeit im Kongo funktionieren würden. Was meinst Du, würdest Du Dein Handy und Deinen Computer wegschmeißen und nie wieder neue kaufen, wenn Du wüsstest, unter welchen entsetzlichen Umständen ich und zehntausende Kinder im Kongo dafür arbeiten müssen? Es gibt sicher auch andere Orte in der Welt, wo Kinder wie Sklaven ausgenutzt werden, aber im Kongo ist unsere Lage besonders grausam. In diesen Minen habe ich zwei Jahre gebuddelt und davon geträumt, eines Tages aus dieser Hölle flüchten zu können. Mein Bruder und ich begannen heimlich Goldkörner zu verstecken, um das nötige Geld für eine Flucht zusammenzusparen. Da wir viel über Deutschland hörten, begannen wir davon zu träumen, in dieses Land zu flüchten. Da, wo die Waffen herkämen, wo man alle Handy- und Computer-Marken der Welt kaufen könnte und auch unser oberster Boss in einem schönen Haus leben würde, müsste das Leben wie im Paradies sein. Bei einem Kobalt-Transport begleitete ich unseren Chef über die ugandische Grenze. Dem chinesischen Händler zeigte ich heimlich meine Goldkörner, wofür er mir ein Bündel Dollarscheine zusteckte. In einer Nacht gelangten mir und meinem Bruder die Flucht aus unserem Lager. Wir schlugen uns bis zum Sudan und danach nach Ägypten durch. Unser Ziel war die Stadt Alexandria an der Mittelmeerküste, von wo aus wir nach Europa und Deutschland übersetzen wollten.“

                Der achtzehnjährige Kambale erzählte das alles mit ausdruckslosem Gesicht. Er schien das Alter eines Dreißigjährigen zu haben. Sein Bericht wurde nur kurz durch Jasmins Zwischenfragen unterbrochen. Jetzt machte er eine Pause. Seine Gesichtszüge verzerrten sich unvermittelt und er brach in Tränen aus. Sein ganzer Körper wurde wie von unsichtbarer Macht durchgeschüttelt.

                „Mein lieber Bruder! Was mache ich jetzt ohne Dich? Ich habe niemanden mehr auf der Welt,“ bejammerte er den Tod seines siebzehnjährigen Bruders. Jasmin hatte Kambale in einer koptischen Christenfamilie in Alexandria in der zweiten Hälfte des Jahres 2013 getroffen, als sie für das DA über den Militärputsch gegen die ägyptische Regierung unter Präsident Mursi und die Muslimbrüderschaft berichtete. Die Muslimbrüder wehrten sich mit Händen und Füssen gegen die Entmachtung des ersten demokratisch gewählten Präsidenten in der ägyptischen Geschichte. Der ‚Arabische Frühling‘ war von Tunesien ausgehend im Januar 2011 nach Ägypten übergesprungen und hatte zur Abdankung des Diktators Mubarak geführt, der das Land dreißig Jahre lang mit eisernem Griff regierte. Mursi und die islamistische Muslimbrüderschaft in Kollaboration mit anderen demokratischen Kräften waren gerade ein Jahr im Amt, als die traditionellen Eliten aus Militär, Justiz und Verwaltung eine sogenannte zweite Revolution entfachten, um eine neuerliche Diktatur unter ihrer Herrschaft zu installieren. Aus Rache gegen diese Entmachtung wandten sich die Muslimbrüder auch gegen die Kopten, die beschuldigt wurden, mit den Militärs gemeinsame Sache zu machen, und brannten viele ihrer Kirchen nieder. Der Pogrom der Muslimbrüder richtete sich auch teilweise gegen Schwarzafrikaner, die Ägypten als Ausgangspunkt für ihre Flucht nach Europa gewählt hatten. Beim Sturm auf eine koptische Kirche in Alexandria wurde der Bruder von Kambale getötet. Er selbst kam verletzt mit dem Leben davon und wurde von koptischen Gemeindemitgliedern gerettet und versteckt. Viele Christen hatten aus Angst vor der Verfolgung durch die Islamisten Schlepper kontaktiert und hofften auf baldige Flucht über das Mittelmeer nach Italien. Sie versprachen, Kambale mitzunehmen. 

                Jasmin beendete ihren Artikel mit den traurigen Eindrücken in Alexandria und in Ägypten. Immer wieder verfolgten sie die Bilder von den verzweifelten Menschen auf der Flucht, die ihr Leben habgierigen und herzlosen Schleppern anvertraut hatten. Ihr war, als hätte sie erst gestern mit ihnen gesprochen. Wie Schlachtvieh wurden sie auf die brüchigen Boote getrieben. Hoffnung aber auch abgrundtiefer Schrecken zeichneten ihre Gesichter. Was aus Kambale geworden ist, wusste sie nicht. 2013 und 2014 hatte Deutschland jegliche Verantwortung für die im Mittelmeer ertrunkenen sowie die in Lampedusa und an anderen Mittelmeerküsten ankommenden Flüchtlinge abgelehnt. Die Erstaufnahmeländer sollten sich darum kümmern. Was ginge das Deutschland an? Dagegen meinte Jasmin, das ginge Deutschland sehr viel an. In allen deutschen Haushalten gäbe es Gegenstände, die billige Rohstoffe aus Afrika zur Herstellung benötigten. Der Kontinent, ein auf der Berliner Konferenz 1884/85 (,Kongokonferenz‘) von europäischen Mächten willkürlich zurechtgeschnittener kolonialer Flickenteppich, der vor 55 Jahren vom kolonialen Joch erlöst wurde, hatte in der darauffolgenden Zeit bis heute eine Ausplünderung seiner Rohstoffe zu verkraften, die die koloniale Ausbeutung bei Weitem übertraf. Die Vielvölkerstaaten Afrikas hatten und haben unter den Bedingungen eines kapitalistischen Weltmarktes keine reale Möglichkeit auf eigene innere Entwicklung. Die Folge sind Bürgerkriege, Korruption, Armut und Flucht. Deshalb gibt es in Alexandria und Libyen Millionen Afrikaner, die ihre einzige Überlebenschance in Europa sehen.

                Im Herbst 2015 hatte sich die deutsche offizielle Haltung gegenüber der europäischen Flüchtlingsproblematik grundlegend geändert. Dank Merkels einsamer Entscheidung, spontan eine Million Flüchtlinge aufzunehmen, wurde die deutsche Bevölkerung in zwei entgegengesetzte Lager gespalten. Der überwiegende und vor allem von Frauen getragene Teil entwickelte eine nie dagewesene ‚Willkommenskultur‘ gegenüber Flüchtlingen. Ein anderer Teil reagierte mit einem offenen Ausbruch von Fremdenhass, der bis dahin im Nachkriegsdeutschland undenkbar schien. Viele Bürgerinnen und Bürger wurden sich urplötzlich ihres tatsächlichen Untertanen-Status gegenüber einer Obrigkeit bewusst, die ihnen in ihren Gemeinden und Nachbarschaften ungefragt Flüchtlinge aufdrückte. An vielen Orten machte sich dieser Hass nicht nur verbal sondern auch durch gewalttätige Aktionen Luft. Migrantenfamilien, die inzwischen Jahre, sogar Jahrzehnte, in der deutschen Gesellschaft integriert waren, wurde bei dieser öffentlich anschwellenden Flut von Fremdenfeindlichkeit mulmig zumute. Wohin sollten diese Menschen denn jetzt gehen? Deutschland war ihre neue Heimat geworden. Sollten sie sich von nun an in diesem Land als Verfolgte fühlen?

                Jasmin überließ die Schlussfolgerungen und Antworten ihren Leserinnen und Lesern. Für sie persönlich stand jedenfalls fest: Sie würde kämpfen und versuchen, diesem heranrollenden Monster von Intoleranz und Xenophobie mit ihren Artikeln entgegen zu treten. Es müsste doch möglich sein, den gesunden Menschenverstand und die Empathie der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger für ein harmonisches, freiheitliches und demokratisches Gemeinwesen zu wecken. Deswegen hatte sie sich für das Projekt Weserbergland-Online-Magazin beworben und wollte ihre ganze Kraft zum Gelingen des Projektes einsetzen.                     

- - -

Horst, 35 Jahre, Facharbeiter in einem Elektro-Unternehmen, Ilse, 45 Jahre, Verkäuferin in einem Supermarkt, Erich, 65 Jahre, Maurer, in Rente, Willy, 50 Jahre, selbständiger Malermeister und Fritz, 28 Jahre, Landwirtschaftsgehilfe, arbeitslos, treffen sich in Willys Einfamilienhaus am Stadtrand von Holzminden. Sie sind die Kerntruppe der Neuen Rechten in Holzminden und besprechen, wie sie sich zur Bundestagswahl vorbereiten wollen. Es gibt noch keine Ortsgruppe. Im Stadtrat und Kreistag ist die Partei bisher nicht vertreten. Aber bei der kommenden Bundestagswahl soll sie groß herauskommen. 

                Willy ergreift das Wort: „Habt Ihr schon vom Weserbergland-Online-Magazin gehört? Das gibt es jetzt seit etwa drei Wochen. Es ist vom RND und dem Institut für Politische Bildung eingerichtet, ist kostenfrei und stellt regionale und überregionale Nachrichten werbefrei zur Verfügung. Es ist auch möglich, dort zu veröffentlichen und zu kommentieren unter dem Motto: ‚Bürger schreiben für Bürger‘. Bisher haben sich schon haufenweise Nutzer angemeldet. Auch die parteilose Bürgerkandidatin aus Holzminden hat ihr Wahlprogramm vorgestellt und wirbt um Unterstützer. Unsere Partei ist auf Landes- und Bundesebene strukturiert und bekannt. Hier in Holzminden und im Wahlkreis haben wir bisher keine Parteistrukturen. Was meint ihr, sollten wir tun, um Bürgerinnen und Bürger zu erreichen?“

                „Wir als Mitglieder der Neuen Rechten laufen leider, vor allem in unserer gut bürgerlichen und ländlichen Umgebung, mit dem Nazi-Stigma herum,“ wendet Fritz ein. „Wenn ich bspw. außerhalb meiner vier Wände verlauten lasse, dass ich da Mitglied bin, wird mir sofort von allen Seiten mit der Nazi-Keule der Kopf eingeschlagen. Ich nehme an, das ergeht Euch nicht anders. Ich schlage vor, wir besinnen uns erst einmal ganz genau darauf, warum wir zur Neuen Rechten gekommen sind. Die Gründe dazu werden von vielen Menschen auch hier in Holzminden geteilt. Wir sollten das in unserer politischen Arbeit so verständlich wie möglich an Familienmitglieder, Freunde und Vereinskameraden herantragen, ohne gleich fahnenschwenkend durch die Landschaft zu trampeln. Das wird nur Feindschaft gegen uns wecken. So eine unabhängige Online-Plattform wie das WOM ist erst einmal auch für uns ein Forum, auf dem wir uns öffentlich äußern sollten. Aber Vorsicht vor hasserfüllter Hetze, die leider einige Mitglieder gar zu gerne verspritzen.“ 

                „Fritz, Du hast gut reden,“ echauffiert sich Ilse. „Du wohnst umsonst bei Deinen Eltern, arbeitest nicht, bekommst HartzIV und hast den guten langen Tag Zeit, online herum zu surfen, wie viele gutbetuchte Jugendliche aus Holzmindener Mittelstandsfamilien oder auch wie viele junge Flüchtlinge hier. Ich weiß, Du trägst an Deiner Arbeitslosigkeit keine Schuld. Die Landwirtschaft hier kann man vergessen. Du hast als Landwirtschaftsgehilfe einfach den falschen Beruf gewählt. Die völlig verkehrte Subventionspolitik, von den GRÜNEN mit angeleiert, und die Interessen großer Nahrungsmittelkonzerne haben alle Stellen wegrationiert. Du siehst ja selbst, was aus unserer einst vielfältigen Landwirtschaft in unserer schönen Heimat geworden ist. Wenn Du meinst, wir könnten auf dieser neuen Online-Plattform unsere Inhalte verbreiten, um mehr Menschen zu erreichen, stimme ich Dir zu. Aber wie gesagt, welche Inhalte bringen wir da rein? Auf Bundesebene hat die Partei schon mal ein Programm auf die Beine gestellt. In ostdeutschen Ländern gehen unsere Mitglieder massenhaft und lautstark mit Parolen gegen kulturelle Überfremdung, für die Erhaltung unserer schönen Heimat und den Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität auf die Straße. Dass die Ossis uns beim Protest gegen die Regierung viel voraus haben, ist verständlich. Schließlich hat man nach Abschaffung des SED-Regimes damit gerechnet, dass jetzt die Bevormundung der Menschen aufhört und dass sie selbst mitbestimmen könnten wie die Wessis, wo’s langgehen soll. Bis viele ehemalige DDRler dahinterkamen, dass hier im Westen der Bürger in der Praxis genauso Untertan geblieben ist. Ich finde, wir sollten erst einmal von unserer eigenen Realität ausgehen und die Gründe für eine AfD-Mitgliedschaft aufzählen.“

                „Ilse, Du hast recht. Dann leg mal los, warum Du in der Neuen Rechten bist,“ schlug Willy vor.

                „Gut, ich will es kurz machen. Wie ihr vielleicht wisst, gibt es bei mir zwei Hauptgründe. Ich bin alleinerziehende Verkäuferin im Supermarkt und rechne mir jetzt schon aus, dass ich im Alter eine jämmerliche Rente haben werde, dank Agenda 2010. Ich habe Glück, in einer relativ billigen Sozialwohnung zu leben. Einen Wagen kann ich mir nicht leisten. Wie ich mal im Alter zurechtkommen werde, das steht in den Sternen. Der soziale Abstieg ist so sicher wie das Amen in der Kirche, und das haben wir den etablierten Parteien zu verdanken, erst Rot-Grün und jetzt GroKo. Ich kann die Merkel mit ihrem Weiterso und dem Gelaber vom schönen Leben in Deutschland nicht mehr sehen und nicht mehr hören. Als ehemalige Sympathisantin der Sozis habe ich die Schnauze voll von allen sogenannten etablierten Parteien. Auch von der Linken. Da wird ebenfalls von oben herab diktiert, was für uns gut sein soll. Jetzt kommt der zweite Grund. Ich hatte alle Hoffnung auf eine erfolgreiche Karriere meiner Tochter gesetzt, die in der Schule immer recht gut war, und die mich vielleicht im Alter etwas unterstützen könnte. Nun stellt Euch vor, meine siebzehnjährige Tochter hat sich ausgerechnet in einen jungen Türken in ihrer Schule verliebt. Musste das sein? Sie faselt jeden Tag davon, dass der Islam doch gar nicht so schlecht sei. Sie wäre schon ein paar Mal in der türkischen Familie gewesen und alle seien sehr nett zu ihr. Als ich sie fragte, wie denn die Mutter in der Familie lebte, antwortete sie mir doch ganz naiv, die würde zwar selbst nach zwanzig Jahren in Deutschland kaum Deutsch sprechen, sich aber rührend um die sechs Kinder kümmern, tolles Essen machen und dem Vater, der in einem Baubetrieb arbeitet, den Rücken freihalten. Die Eltern wissen zwar nicht viel über Deutschland, aber ihre türkischen Sitten und Gebräuche bewahren sie so, dass ein großer Zusammenhalt unter allen Familienmitgliedern existieren würde. Das sei ganz anders als bei uns. Was ich überhaupt nicht fassen kann, ist, dass mir meine eigene Tochter Vorwürfe macht, sie sei in einer gescheiterten Familie aufgewachsen. Das tut verdammt weh. Jetzt hat sie auch schon mit dem jungen Türken geschlafen. Mensch, wenn meiner Tochter einmal die Augen aufgehen, auf was sie sich da eingelassen hat und will aus der Beziehung aussteigen, was passiert denn dann? Ach, ich wage gar nicht darüber nachzudenken.“

                „Ilse, ich kann das gut nachfühlen,“ warf Erich ein. „Die Rentensituation, die Du zuerst erwähnt hast, ist ein wunder Punkt, der jetzt schon die Menschen auf die Barrikaden bringen müsste. Als Behinderter, der nur 29 Berufsjahre aufweisen kann, der Wittwer ist und wegen seiner kleinen Rente auch in einer Sozialwohnung lebt, ist das Leben ebenfalls kein Zuckerschlecken. Ich komme zwar gerade so zurecht, kann mir aber die Rundfunk- und Fernsehgebühren nicht mehr leisten. Letztens kam wegen Nachzahlungen, die sie mir aufgebrummt haben, der Gerichtsvollzieher ins Haus. Ich habe mich selbstverständlich geweigert zu zahlen, habe ja auch keinen gesparten Pfennig auf der Kante. Da wollten sie an meine Rente ran, oder ich müsste in den Knast. Den ziehe ich vor, wenn’s hart auf hart kommt. Ich habe meine Nachbarn mobilisiert und einen Journalisten, als sie mich abholen wollten. Es gab ein Riesentrara auf der Straße, und ich konnte vorerst in der Wohnung bleiben, sollte aber einen neuen Antrag stellen und mir einen Anwalt besorgen. Ilse, ich hoffe, dass es bei Dir später nie so weit kommen wird. Jede Nacht träume ich jetzt davon, wie ich bis zum Lebensende zurechtkommen soll. Gottseidank ist meine Gesundheit noch einigermaßen. Ich mache jeden Tag Spaziergänge mit meinem Hund Fiffi. Er ist der einzige wirkliche Freund, den ich habe. Doch was mich am meisten aufgeregt hat, war, dass im restaurierten Nachbarblock, der einem Privateigentümer gehört und in dem lange Zeit beste Wohnungen leer standen, jetzt haufenweise Flüchtlingsfamilien mit Kindern und auch Einzelpersonen einquartiert wurden. Diese Wohnungen können sich sehen lassen. Sind besser als meine Sozialwohnung. Und außerdem kamen von überall her Möbel-Spenden. Das Sozialamt macht’s möglich, und wir Deutschen gucken durch die Röhre. Jetzt ist hier um unseren Block laufend Betrieb. Unsere Ruhe ist futsch und viele ältere deutsche Menschen, Frauen und Mädchen, trauen sich nur noch in Begleitung aus dem Haus. Wie soll das weitergehen? Die jungen Flüchtlinge stehen jeden Abend rauchend zusammen und jeder surft mit seinem Handy. Wer weiß, ob unter ihnen ‚Schläfer‘ vom Islamischen Staat sind. Wir Deutschen haben einen Antrag bei der Polizei gestellt, diese Flüchtlinge genau zu beobachten und regelmäßig eine Streife vorbeizuschicken. Aber die haben zu wenig Personal dazu. Wenigstens kommt einmal in der Woche ein Sozialarbeiter oder ein Flüchtlingslotse vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Für mich wäre es am besten, ich würde eine neue preiswerte Wohnung in einem rein deutschen Viertel finden. Oder besser noch, unsere Regierung würde alle Flüchtlinge, Musels wie Neger, wieder in ihre Heimat zurückschicken.“

                „Und Du, Horst, wie siehst Du Deine Situation,“ fragte Willy. „Auf gut Deutsch gesagt, beschissen! Ihr wisst ja, dass ich als Facharbeiter in einem der größten Elektrobetriebe in der Region arbeite. Zum Glück lebe ich als Geschiedener im Hause meiner Eltern, das diese gleich nach dem Krieg unter großen materiellen Opfern gebaut hatten. Ich muss jeden Monat eine saftige Unterhaltszahlung an meine geschiedene Frau zahlen. Unsere gemeinsame Tochter lebt bei ihr. Meine Ex findet immer wieder Ausreden, nicht arbeiten zu können. Sie will selbst für unsere kleine Tochter sorgen, das wäre das Beste für das Kind. Wie gesagt, meine einzige Rettung ist die Tatsache, dass ich bei meinen Eltern wohnen kann. Mein Vater, ein ehemaliger Maurer, ist jetzt nach über 45 Jahren Berufstätigkeit in Rente. Meine Mutter hatte nur in den letzten Jahren ein bisschen als Reinemachefrau dazu verdient. Aber dank des abbezahlten Hauses leben sie ganz gut und betätigen sich viel im Garten. Als einziges Kind werde ich einmal dieses Haus erben. An eine neue Freundin oder Frau mag ich nicht denken. Frauen haben kein Interesse an mir, da ich bei den Eltern wohne und mir keine eigene Wohnung leisten kann. So werdet Ihr verstehen, dass ich ab und zu in den Puff gehe, wenn ich es allein nicht mehr aushalte. Was meine Zukunft anbelangt, so sieht es düster aus. Meine einzige Rettung ist das Haus meiner Eltern. Wenn die verstorben sind, kann ich vielleicht das Haus günstig verkaufen oder vermieten und in eine kleine Mietwohnung umziehen. Doch was mich am meisten nervt, sind die Arbeitsverhältnisse. Ich war jahrelang in der Gewerkschaft engagiert und habe viele Streiks verantwortlich mitinitiiert. Jetzt sind neue einheimische und ausländische Facharbeiter und Meister angestellt worden, die nicht organisiert sind und uns vom Betrieb aus vorgesetzt werden. Dazu greift das Unternehmen auf immer mehr Leiharbeiter zurück und droht, dass das Stammpersonal, zu dem ich gehöre, eines Tages zurückgefahren werden könnte. Man hätte starke in- und ausländische Konkurrenz und eine langfristige Beschäftigungs-Garantie gäbe es nicht. Die schwierige Arbeitssituation würde zusätzlich durch Digitalisierung verschärft.  Ich sitze mit anderen Worten auf einem angesägten Stuhl, der jederzeit zusammenkrachen kann. Auf meine Mitsprache im Betrieb, wie noch vor fünfzehn Jahren, wird eh kein Wert mehr gelegt. Ich habe einfach zu funktionieren. Aus, basta! Ja und zu dieser betrieblichen Situation kommt jetzt die politische. Da heißt es ebenso basta. Geht einmal alle vier Jahre schön wählen, Agenda wählen und dabei wissen, dass diese immer mehr Menschen das Genick brechen wird. Wie sagt unsere Kanzlerin so schön: Es gibt keine Alternative. Doch wir antworten: Frau Merkel, es gibt eine Alternative, und das sind wir!“

                Jetzt ging das Wort an Willy. „Ihr wisst, dass ich gleich nach der Wende als junger Mann aus Thüringen ins Weserbergland kam. Als Malergeselle träumte ich in Thüringen immer von einem eigenen Geschäft und wollte nicht länger von unserem Betrieb und der Partei bevormundet werden. Die Ausländer bei uns konnten wie die SED-Bonzen in eigenen Geschäften Westwaren kaufen. Der DDR-Sozialismus wurde den Ausländern gegenüber als nachahmenswert propagiert, doch wir einfachen Leute mussten uns mit einheimischer Ware begnügen. Da kam schon einmal ganz schön der Hass gegen die Ausländer auf, die vom Regime bevorzugt behandelt wurden. Der Wechsel nach Holzminden erwies sich als Vorteil. Ich kam bei einem Meisterbetrieb unter und schaffte schon nach drei Jahren meinen Meisterbrief. Im Jahr 2000 machte ich mich selbstständig. Inzwischen war ich verheiratet und meine beiden Kinder wurden geboren. Mit der Selbstständigkeit musste ich lernen, hier in Holzminden und Umgebung Aufträge zu bekommen. Ich trat in die Partei der Liberalen ein und lernte nach und nach das Geflecht aus Beziehungen und politischen Seilschaften kennen. Das spielt besonders bei öffentlichen Ausschreibungen eine entscheidende Rolle. Für die Liberalen war ich dann auch in einer Legislaturperiode im Stadtrat und lebte meinen persönlichen Traum von politischer und beruflicher Freiheit. In meiner Naivität meinte ich anfangs, hier im Westen hätte der Einzelne unbeschränkte Freiheit, aus sich zu machen, was in einem steckt und auch die unmittelbare gesellschaftliche Umgebung beeinflussen zu können, um Veränderungen herbeizuführen. Mir ging es besonders um die faire Vergabe öffentlicher Ausschreibungen und die Förderung des Handwerks durch Steuererleichterungen und subventionierter Kreditvergabe. Allerding biss ich auf Granit. Besonders die Konservativen, die IHK und die Handwerkskammer sowie die Liberalen mit ihrer traditionellen Seilschaft ließen mich in meinen Reform-Bemühungen fallen wie eine heiße Kartoffel und machten mir klar, dass ich als Reingeschneiter aus der ehemaligen DDR kleine Brötchen zu backen habe. Ich könnte froh sein, dann und wann bei öffentlichen Aufträgen bedacht zu werden. Es wurde mir schnell klar, dass der westdeutsche Pluralismus nichts anderes ist als eine Seilschaften-Diktatur, wobei der Unterschied zur ehemaligen DDR der ist, dass im Westen fünf Seilschaften statt einer zur Auswahl stehen. Freiheit, wenn überhaupt, gibt es nur im Filz mit der Seilschaft. Und das ist dann keine Freiheit mehr sondern Anpassung und Unterordnung. Als ich meine Lektion gelernt hatte, trat ich aus der Partei aus und jetzt beteilige ich mich auch nicht mehr an öffentlichen Ausschreibungen. Gottseidank kennen und schätzen mich inzwischen genügend Privatpersonen, so dass ich geschäftlich über die Runden komme. Ich hoffe nur, dass nicht eines Tages Schmutz-Kampagnen der etablierten Parteien gegen mich gestartet werden, ich würde dem ‚Braunen Sumpf‘ angehören, und es wäre besser, mich zu meiden. Da kommen wir auf den konkreten Punkt zu sprechen, wie wir uns im Wahlkampf verhalten sollen. Wir stecken in dem Dilemma, dass wir mit massiver Anmache von allen Seiten rechnen und andererseits Mut aufbringen müssen, öffentlich aufzutreten.“

                „Wenn ich mal einen Vorschlag machen darf,“ äußerte sich Fritz: „Ich habe unser Gespräch aufgezeichnet. Zuhause kann ich noch mal alle unsere Argumente für die Neue Rechte durchgehen und sie in gängigen Kurz-Aussagen zusammenfassen. Bei unserem nächsten Treffen können wir uns dann so in verteilten Rollen organisieren, dass wir unter Pseudonym diese Aussagen im WOM und auch auf facebook so weit wie möglich verbreiten. Dabei sollten wir so geschickt sein, dass zumindest in der Anfangsphase unserer Kampagne die Mitgliedschaft bei der Neuen Rechten nicht unmittelbar publik wird. Wir gehen dann auf die Reaktionen unserer Posts ein und passen entsprechend unsere Strategie an. Ich habe das Gefühl, dass die Administration des WOM sehr strickt ist. Auch sind die Artikel der verantwortlichen Redakteurin so raffiniert aufgesetzt, dass viele Nutzer auf ihre vermeintlich unabhängige Position abfahren. Die hat sicher einen Migrationshintergrund und Flüchtlinge kommen bei der gut weg. Ich könnte mir vorstellen, dass uns mit dem WOM und der parteilosen Direktkandidatin, die für Bürgermacht kämpft, was wir ja auch unter anderem Vorzeichen tun, die wichtigsten politischen Gegner heranwachsen. Wir müssen da wachsam sein.“ 

                Die Gruppe war mit dem Vorschlag von Fritz einverstanden und machte aus, sich Anfang März wieder zu treffen.

- - -

Der nächste Tag wurde von Jasmin und Regina wiederum mit einem Morgen-Jogging zu früher Stunde eingeläutet. Chris war einfach nicht dafür zu erwärmen. Auch am Frühstückstisch ließ er sich wie gewohnt nur für fünf Minuten sehen und hetzte dann zur Schule.

                „Regina, wie sieht Dein Tag heute aus? Ich treffe am späten Nachmittag Vertreter einiger örtlicher Vereine und Initiativgruppen und werde versuchen, sie auch für das WOM-Projekt zu begeistern.“  

                 „Am Vormittag will ich weiter meine Internet-Präsenz bearbeiten und sehen, wie die Reaktionen auf meine Kandidatur ausfallen. Am Nachmittag treffe ich mich mit einigen Bekannten aus meiner GRÜNEN-Zeit. Ich hoffe, dass mich da einige unterstützen werden. Was Dein Treffen mit den Vereinen anbelangt, kann ich Dich nur warnen. Diese Vereine und Gruppen sind sämtlich mit Vertretern politischer Parteien durchsetzt. Wenn Du unter den Teilnehmern auch nur Eine oder Einen Parteilosen findest, hast Du Glück. Klar, die Masse der Mitglieder sind parteien-unabhängig, aber die Verantwortlichen sind fast ausnahmslos in irgendeiner Partei engagiert. Man muss versuchen, an die unabhängigen Mitglieder heranzukommen. Das ist ja auch meine Herausforderung. Ich bin gespannt, was bei Deinem Treffen herauskommt.“

                „Schade Regina, dass wir nach dem Joggen nicht gemeinsam geduscht haben. Ich hätte unsere Dusche von Gestern so gerne wiederholt, aber wenn Chris im Haus ist, geht das leider nicht.“

                „Jasmin, ich habe das Gleiche gedacht. Chris ist jetzt in der Schule. Warum springen wir nicht noch einmal unter die Dusche? Komm, ich kann es gar nicht erwarten, Dich wieder zu umarmen.“

                Beide Frauen liefen umschlungen ins Bad, wo sie sich nicht schnell genug die Kleider vom Leib reißen konnten. Unter der aufgedrehten Dusche wollten sie das gestrige Erlebnis wiederholen.

                „Wenn doch nur jeder neue Tag so beginnen würde, dann könnte der Wahlkampf ewig andauern,“ lachte Regina und begann Jasmin zu küssen. „Ja, und wenn wir so weiter machen, werde ich womöglich meine beiden Männer vergessen,“ antwortete Jasmin. „Weil ich bei Dir wohne, bekomme ich immer mehr Lust auf mein Projekt. Was soll nur aus uns werden? Regina, kannst Du mich massieren, bevor wir uns an die Arbeit machen? Ich mag es, wie Du mich anfasst und verrückt machst.“ „Gern, aber ich will auch von Dir verwöhnt werden und mich entspannen. Warum habe ich mit meinem Mann nie die gleichen Empfindungen gehabt, die Du mir schenkst?“ „Du entführst mich auch in ein neues Land. Weißt Du, Regina, dass Du mir genau die Power gibst, die ich brauche, um mich ins Alltagsgeschehen zu stürzen?“

- - -

                Als Jasmin die recht zahlreich erschienenen Vertreter von Vereinen und Initiativgruppen traf, fühlte sie sich voller Optimismus für ihre Mission, für Freiheit, Menschlichkeit und Demokratie zu streiten. Die Anwesenden spürten die positive Energie, die von ihr ausging. Einige Vertreter waren mit dem festen Willen gekommen, das WOM-Projekt zu kritisieren und abzulehnen, weil sie spürten, dass sich da eine Dynamik entwickelte, von der man nicht im Voraus wusste, wohin sie führen würde. Als Jasmin jedoch nach ihrer Begrüßung die Rechtfertigung des RND für das Experiment und ihre eigene Begründung der Notwendigkeit einer Bürger-Emanzipation erläutert hatte, schmolz die Skepsis gegenüber dem Projekt. Jasmin zog Parallelen zur Frauen-Emanzipations-Bewegung und zur Bewegung zugunsten einer nachhaltigen Umweltgestaltung und meinte, dass Politikverdrossenheit Hand in Hand ginge mit fehlender politischer Freiheit und dem Gefühl, immer noch im Untertanen-Status verhaftet zu sein. Eine freiheitliche Gesellschaft im 21ten Jahrhundert, die im Prinzip die materiellen Bedingungen für würdiges Leben erreicht hätte, sollte auch die Bedingungen für volle demokratische Teilhabe des Bürgers im öffentlichen Raum ermöglichen. Das sei doch auch Ziel vieler Vereine und zivilgesellschaftlicher Initiativen. Sie wünschte, dass sich die Mitglieder der anwesenden Organisationen an dem WOM-Meinungsmarkt aktiv beteiligten, und dass auch die Organisationen selbst dort ihre Ziele und Auffassungen kund täten. Auf diese Weise würden Vereine und Initiativen in erweitertem Maße in die Gesellschaft hineinstrahlen und erhöhte Aufmerksamkeit erfahren.        

                Die Vertreter der Organisationen und Initiativen hatten wohl bemerkt, dass vor allem viele junge Menschen positiv auf das WOM-Projekt reagierten und dort eifrig posteten. Sie meinten denn auch, es könne nicht schaden, im WOM präsent zu sein und ihre Mitglieder auf das neue Online-Portal hinzuweisen. Das käme letztendlich ihnen in Form von neuen Mitgliedern zugute und außerdem würden ihre Aktionen und Ziele einer größeren Öffentlichkeit bekannt.

                Das Abendessen verlief in bester Atmosphäre. Chris berichtete von einer Schülergruppe, die im WOM ihre eigene Online-Zeitung aufmachen wollte. Diese sollte ebenso für Schülerinnen und Schüler anderer Schulen offen sein. Vor allem die Möglichkeit, Fotos und kurze Videos einzustellen, war verlockend. Jasmin zeigte sich erfreut, dass Organisationen bereit wären, sich im WOM gegenüber der Öffentlichkeit darzustellen und um neue Mitglieder zu werben. Regina hoffte in ein paar Tagen ein erstes Unterstützer-Komitee in Holzminden zusammenzustellen. Der Tag wurde mit einem Gläschen Portwein abgeschlossen. Chris fühlte sich seit langer Zeit wieder pudelwohl. Er prostete Jasmin zu und meinte, durch ihre Anwesenheit sei die gute Laune ins Haus zurückgekommen.

                Der letzte Samstag im Februar war für Jasmins Briefing in Hannover vorgesehen. Am Vormittag wollte sie mit Ralf den öffentlichen Auftritt des WOM im ersten Monat bewerten. Nachmittags würde Helmut dazu stoßen.  Zu dritt würden sie dann auch die Planung für den Monat März erstellen.

                Vor der Abreise nach Hannover verabschiedete Regina Jasmin mit den Worten: „Setz Dich nicht unter Stress wegen Deines Treffens mit Helmut. Du wirst sehen, alles regelt sich so, wie es kommen muss. Vertrau Deiner inneren Stimme. Und Du weißt, dass Du bei mir und Chris immer willkommen bist, wenn Dich die Arbeit wieder in die Solling-Region führen sollte.“ „Regina, ich sagte Dir schon, dass ich im März meine Rundreise hier im südlichen Teil des Wahlkreises fortsetzen möchte und habe auch diesbezüglich konkrete Ideen. Sollte mein Chef nichts dagegen haben, werde ich die kommende Woche in Uslar verbringen. Das ist nicht weit von Holzminden entfernt, und ich wäre froh, wenn ich bei Dir übernachten könnte. Ich möchte auch erfahren, wie es mit Deiner Kandidatur weiter geht. Ich habe die Vermutung, die Neue Rechte wird mit einem hohen Stimmenanteil in den neuen Bundestag einziehen. Jedes Mal, wenn in der Nachkriegszeit eine neue Partei in den Bundestag kam, wie bisher die GRÜNEN zu Beginn der 80er Jahre und die LINKE nach der Wende in den 90er Jahren, gab es im Voraus eine breite Bürger-Bewegung. Bei den GRÜNEN war das die außerparlamentarische Sammelbewegung, die durch die 68er-Bewegung initiiert wurde. Bei der LINKEN stand die Bürgerrechtsbewegung in der ehemaligen DDR Pate. Jetzt haben wir die neue Bewegung der nationalistischen Fremdenfeinde, die das Land unsicher macht, und deren Protest die Neue Rechte kanalisiert. Ihr Einzug ins Parlament ist abzusehen. Ich wünsche mir, dass Deine Kandidatur und die der übrigen unabhängigen Bürger-Kandidaten ebenso eine starke und humanistisch ausgerichtete Bürgerbewegung entfachen kann. Die etablierten Parteien, die bisher die politische Monopolmacht im Staate innehaben, werden ihre Macht auf Biegen und Brechen mit Hunderten Millionen von Steuergeldern verteidigen wollen. Die Bundestagsparteien sind inzwischen Milliarden-Unternehmen geworden mit unzähligen angestellten Parteisoldaten. Sie können sich jetzt schon ausrechnen, dass ein Einzug der Neuen Rechten in den kommenden Bundestag vor allem auf das Konto der beiden sogenannten Volksparteien gehen wird. Du wirst an Deiner Kandidatur sehen, mit welch harten Bandagen um Stimmen geworben wird. Ich sehe das WOM-Projekt als eine Möglichkeit, eine humanistisch ausgerichtete Bürger-Bewegung in Gang zu setzen. Sollte das gelingen, ginge das ebenfalls aufs Konto der Volksparteien, die wie in anderen europäischen Ländern einer Schlankheitskur unterworfen werden. Das kann ich natürlich meinem Arbeitgeber gegenüber nicht verlauten lassen. Die erhoffen sich durch das WOM eine größere Begeisterung für Politik und selbstverständlich für die etablierten Parteien, die allesamt im Rundfunkrat vertreten sind.“

- - -

                Ralf ist einfach eine liebe Seele, dachte Jasmin bei sich, als sie am letzten Februarsamstag gegen neun Uhr morgens im Büro des WOM-Projektes in Hannover eintraf. Der erfahrene Kollege hatte bereits für beide Cappuccinos und Croissants zum Frühstück besorgt, so dass sich Jasmin nach ihrer Fahrt von Holzminden wie von ihrem Vater verwöhnt fühlte. Ralf bereitete es Vergnügen, mit Jasmin zu arbeiten. Immer hatte er während seiner langen Journalistenlaufbahn gehofft, einen unabhängigen, kritischen Journalismus pflegen zu können. Aber wie alle seine Kollegen auch hatte er die eigene Kontrollinstanz im Kopf, die ihn auf die Linie des Verlages  einschwor. Und diese wiederum wurde von Partei- und Kapitalinteressen vorgegeben. Unter allen Umständen musste der gesellschaftliche Status quo zementiert werden. Ralf war auf seinen Job angewiesen und wollte ihn nicht verlieren. Er war sich bewusst, ein Journalisten-Mitläufer zu sein, der hie und da kleine Nadelstiche setzen konnte, aber im Großen und Ganzen seine eigene Kreativität und Unabhängigkeit in seinem Beruf nicht ausleben konnte. Jetzt aber hatten er und Jasmin zwar nicht selbst die Gelegenheit, der Gesellschaft einen schonungslosen Spiegel vorzuhalten, aber beide  konnten doch durch geschickte Lenkung dazu beitragen, dass der Bürger selbst seine Freiheit nutzen würde, um in der Auseinandersetzung mit anderen Bürgerinnen und Bürgern all das anzuprangern, was in der Region und im Lande schief liefe. Und vielleicht wäre es dadurch möglich, Menschen zum Nachdenken anzuregen, die bisher die Meinung der Mainstream-Medien als die absolute Wahrheit betrachteten. Das Projekt hatte vor allem Bedeutung für junge Menschen, deren Meinung noch nicht so verfestigt war wie für Männer und Frauen ab dreißig. Junge Erwachsene sind mehrheitlich noch unvoreingenommener bei der Suche nach Wahrheit als die oft verbiesterten Älteren. Vor allem Männer mit ausreichendem Einkommen sind für gesellschaftliche Veränderungen überhaupt nicht zu haben. Das war nicht nur Ralfs Erfahrung, auch Jasmin war sich dessen bewusst. Beide gaben ein ausgezeichnetes Gespann ab, um das Modellprojekt zur Förderung von Meinungsvielfalt und aktiver Teilhabe an Demokratie zum Erfolg zu führen. Ein erstes positives Ergebnis konnte die Online-Plattform bereits nach einem Monat einfahren. Weit über tausend Nutzer waren registriert und mehr als zehntausend Aufrufe verzeichnete das Weserbergland-Online-Magazin.

                „Ralf, was meinst Du zum bisherigen Start unseres Projektes? Befinden wir uns auf dem richtigen oder auf dem Holzweg?“

                „Jasmin, ich bin einfach überwältigt, wie sich das Experiment Bürger-Emanzipation über unsere Online-Plattform angelassen hat. Ehrlich gesagt, ich habe nicht damit gerechnet. Es ist fast so, als ob da plötzlich ein Ventil nach langen Jahrzehnten von Bürger-Bevormundung geöffnet wurde und einem öffentlichen Meinungs-Marktplatz Tür und Tor aufsperrte. Der Bürger nimmt endlich seine Freiheit wahr, all das an Meinung herauszulassen, was er bisher nur im Familien- und Freundeskreis sowie am Stammtisch zu äußern wagte. Was jetzt durch unser Projekt geschieht, ist die Widerspiegelung gesellschaftlicher Strömungen, die bisher unter der Oberfläche brodelten und die geradezu auf ihre Freisetzung warteten. In diesem jetzt offen zutage tretenden Meinungsspektrum, das nicht mehr durch etablierte Parteien und Mainstreammedien wie eh und je bestimmt wird, kristallisieren sich die folgenden Tendenzen heraus: Die wohl wichtigste ist die Suche der Jugend nach einer Antwort darauf, wie die Gesellschaft aktuell tatsächlich beschaffen ist, d. h. jenseits der vom Parteienstaat verordneten Sichtweise. Des Weiteren begibt sich die Jugend auf die Suche nach der Zukunft, die von ihr selbst gestaltet werden will. Inwieweit junge Menschen dabei andere unabhängige Bürgerinnen und Bürger mit auf ihre Reise nehmen können, bleibt abzuwarten. Bisher sehe ich nur zögerliche Ansätze. Aber darüber müssen wir später noch diskutieren, wie über die Jugend hinaus weitere Bevölkerungsschichten für eine Verbreiterung der Demokratie gewonnen werden können. Eine zweite Gruppe, die das WOM für sich ausnutzt, so wie ich das in den letzten beiden Wochen beobachten konnte, sind die sogenannten Fremdenfeinde. Auch wenn sich die meisten nicht offen zu erkennen geben, ist doch an ihrer Reaktion besonders auf Deine Flüchtlings-Artikel klar zu erkennen, dass im Weserbergland, wie in Deutschland allgemein, eine Welle der Fremdenfeindlichkeit verbunden mit Sympathie-Äußerungen gegenüber der Neuen Rechten mit Macht heranrollt. Interessant ist, dass gerade die Jugend der stärkste Widersacher gegen Rechtstendenzen ist. Fast könnte man meinen, die Suche der Jugend nach eigener Identität wird durch die Herausforderung vonseiten der Neuen Rechten erst so richtig angefacht. Das hätte ich in dieser Deutlichkeit nicht erwartet, war und ist doch die landläufige Meinung über die Jugend die, dass sie uninteressiert gegenüber gesellschaftlichen Zuständen sei. Dann ist da eine dritte Tendenz immer stärker spürbar: Das scheinen mir die Mitglieder bzw. Anhänger der etablierten Parteien und der Wirtschaft zu sein, die mit Argwohn die Meinungen der Jugend und auch der Neuen Rechten begleiten. Sie mischen sich immer mehr durch Kommentare ein und beginnen auch, ihre sogenannte ‚Weiterso-Politik‘ mit Beiträgen zu rechtfertigen und anzupreisen. Dabei halten sie sich jedoch bedeckt, was ihre Parteizugehörigkeit anbelangt. Ich nehme mal an, dass im Laufe dieses Wahljahres das WOM ein heiß umkämpfter Meinungs-Marktplatz wird, auf dem alle politischen Tendenzen ihre Argumente zur Diskussion stellen und der Bürger der souveräne Protagonist wird, der unabhängig abwägt und eigene Vorstellungen in die politische Arena einbringt. Ich bin jedenfalls gespannt, denn das könnte ein völlig umgekehrtes Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Politik hervorbringen, in dem Sinn, dass der Bürger fordert und die Politik entweder darauf eingeht oder ansonsten abgestraft wird. Bisher hieß die Losung immer: ‚Bürger friss unsere Programme und Politik, auf dass es Dir wohl ergehe!‘ Jasmin, dass ich das noch im Alter erfahren darf, lässt mein Herz höher schlagen. Und ich weiß, wie viel wir Dir zu verdanken haben.“

                „Danke für Deine Einschätzung und Dein Lob. Aber ich mache ja nur meine Arbeit so gut ich kann, und Du hast mindestens das gleiche Verdienst am Gelingen des Projekts wie ich. Was Bürger-Emanzipation anbelangt, sind wir beide einer Meinung. Hoffentlich werden RND und IPB nicht weiche Knie wegen ihrer Courage kriegen und das Projekt stoppen.“ 

                „Jasmin, wie stellst Du Dir die Arbeit ab kommender Woche vor? Wirst Du jeden Tag ein wenig Zeit haben, mir bei der Administration beizustehen? Wie Du siehst, gibt es täglich zahlreiche neue Anmeldungen. Ich komme kaum hinterher, die nachzuprüfen und freizuschalten. Das betrifft ebenso Kommentare und Beiträge. Wenn wir nicht aufpassen, haben wir statt fairen Meinungswettbewerb bald einen Kriegsschauplatz speziell für die Neue Rechte. Einige Kommentare sind derart hasserfüllt, dass einem Angst und Bange werden kann. Ich tue mein Bestes, aber der Erfolg des Projektes lässt mich kaum zur Ruhe kommen.“

                „Das kann ich nachfühlen. Ich könnte ein bis zwei Stunden pro Tag dafür reservieren, mit Dir die Rolle des Administrators zu teilen. Wenn es in Zukunft nicht anders geht, sollten wir Helmut vorschlagen, dass ein Volontär mindestens halbtags bei uns aushilft. Was meine weitere Arbeit anbelangt, so habe ich vor, meine Rundreise durch das Weserbergland in Uslar zu beginnen und dann Stück für Stück von Süden nach Norden weiter zu gehen. Hameln und Holzminden sind bereits bestens über unser Projekt informiert. Jetzt werden wir in den kleineren Gemeinden und Dörfern des Wahlkreises für die Online-Plattform werben. Ich möchte auch ab nächster Woche damit beginnen, sogenannte Schreibwettbewerbe zwischen Schulen und Bildungseinrichtungen zu initiieren. Das könnte von der Analyse des derzeitigen Gesellschaftszustandes ausgehen und weiter geführt werden mit konkreten Zukunftsszenarien für das Weserbergland und den Bund. Wenn nach den Sommerferien die heiße Phase des Wahlkampfes eingeläutet wird und die etablierten Parteien ihre Programme auf das Wahlvolk herabregnen lassen, wäre es schön, wenn wenigstens Teile der Wählerschaft eine genaue Idee davon hätten, was sie denn von der Politik einfordern wollen. Wir können das mit Helmut am Nachmittag im Einzelnen besprechen.“

                „Etwas wollte ich noch mit Dir besprechen, bevor Helmut kommt. Jasmin, was mir Kopfschmerzen bereitet, sind die gehässigen Anwürfe von Fremdenfeinden gegen Dich. Du wirst es selbst erfahren, wenn Du die Anschreiben an unsere Redaktion durchgehst. Ich eliminiere diese Anmache immer sofort, aber es tut mir weh, wie meine eigenen Landsleute so fremdenfeindlich sein können. Der Pogrom gegenüber Flüchtlingen und Ausländer wird auch Dir gegenüber deutlich. Du erinnerst Dich. Ich hatte Dir das schon früher gesagt. Ich möchte einfach nicht, dass Du darüber mit der Zeit zerbrichst. Ich kann mir vorstellen, welche Gefühle Du als Deutsche mit ausländischen Wurzeln haben musst, wenn Du so attackiert wirst. Ich schäme mich für diese Landsleute, die nichts aus der Geschichte gelernt haben. Bitte, sieh der Wahrheit weiter standhaft ins Gesicht und lass Dich nicht entmutigen! Mindestens 80% der deutschen Bevölkerung denken nicht so wie diese Fremdenfeinde und Du bist Teil dieser überwiegenden Mehrheit und hast ein Recht, Dich hier zuhause zu fühlen. Ich wäre froh, wenn die sogenannten ‚Bio-Deutschen‘, übrigens ein fürchterlicher Begriff, Deine Qualitäten und Deine Empathie für die Menschen hätten.“  

                Die Zeit bis zu Helmuts Eintreffen nutzten Ralf und Jasmin, ein Resümee über den Projektfortschritts, die auftretenden Probleme und die Planung für die nächsten Wochen anzufertigen.                         

                Helmut platzte am Nachmittag verspätet in das Projekt-Büro. Er entschuldigte sich mit unvorhergesehenen familiären Verpflichtungen, die seine Terminplanungen vor allem an Wochenenden oft durcheinanderbrächten. Er hätte auch nur zwei Stunden Zeit für sie, da seine Frau und seine beiden Töchter für den Abend Theaterkarten besorgt hätten. Die Familie forderte vom Vater ein Minimum von Zeit und Aufmerksamkeit ein, dem er sich nicht verschließen könnte. Auch Ralf hatte für den frühen Abend etwas vor und bat um Verständnis, schon nach einer Stunde zu gehen. Er und Jasmin hätten das Resümee über den Projektfortschritt bereits an Helmut gemailt.  

                „Ralf und Jasmin, ich bin bezüglich unseres Projektes einigermaßen auf dem Laufenden, da ich jeden Abend selbst im WOM herumstöbere. Ich muss Euch beiden ein Riesenlob aussprechen. In meinen kühnsten Träumen hätte ich nicht gedacht, dass wir in derart kurzer Zeit so viele Menschen mobilisieren können, ihre rechtlich verbriefte Meinungsfreiheit wahrzunehmen und im besten Sinne Demokratie zu leben. Jetzt teile ich Euch etwas mit, dass unter uns bleiben muss: Dem WOM-Projekt weht schon in dieser frühen Phase Widerstand von einer politisch mächtigen Fraktion entgegen. Unsere zuständige Direktorin wurde von einem Rundfunkratsmitglied darüber informiert, dass ein bekannter Konservativer aus Bodenwerder, der hinlänglich als Jäger von vermeintlichen Demokratiefeinden bekannt ist, die Spitze seiner Partei gegen das Projekt in Stellung bringen möchte. Zufällig heißt er auch noch Jäger. Sein Argument ist Folgendes: Seine Partei und die anderen Bundestagsparteien würden ebenso wie die Medien alles tun, um die politische Willensbildung in der Gesellschaft zu fördern. Gerade jetzt im Wahljahr seien die Parteien darauf konzentriert, Programme für den Bürger auszuarbeiten und dann zur öffentlichen  Abstimmung zu stellen, sodass es überflüssig sei, dass der Bürger selbst anfängt, sich auf einer offenen Plattform über politische Fragen Gedanken zu machen. Das könnte der Bürger immer noch tun, wenn die Parteien ihre Programmarbeit abgeschlossen hätten und den Bürger informieren würden. Besonders nach den Sommerferien würden alle Wählerinnen und Wähler im Lande über die Absichten der Bundestagsparteien ausreichend informiert werden und könnten sich eine eigene Meinung bilden. Herr Jäger und seine Parteifreunde hätten mit Befremden die im WOM massenhaft entstehenden Diskussionen wahrgenommen. Wie sollen die Parteien da mitwirken, wenn sie selbst ihre eigenen Programme noch gar nicht ausgearbeitet haben? Und der Direktkandidat der Konservativen wagt gar nicht, an der öffentlichen Diskussion im WOM teilzunehmen. Er könnte ja später von der Parteiführung zurückgepfiffen werden, da die Partei-Oberen und die Partei-Experten intern selbst noch drüber ringen würden, was sie denn dem Bürger an Politik vorschlagen werden. Stellt Euch vor, unsere Direktorin hat sich überhaupt nicht einschüchtern lassen. Gerade die Konservativen, und bei den anderen Bundestagsparteien wird es nicht anders sein, täten gut daran, den unbeeinflussten Bürgerwillen vor der Wahl kennen zu lernen und gegebenenfalls in ihren Programmen darauf einzugehen. Außerdem ist ja wohl der Direktkandidat jemand, der auch eine eigene Auffassung zu den wichtigsten gesellschaftlichen Fragen haben sollte und diese auch ohne Abnicken der Parteiführung äußern kann. Er sei doch keine Marionette der Partei-Granden. Das, was sich an offenem Meinungsaustausch im WOM entwickelt, sei ganz im Sinne einer lebendigen Demokratie. Ralf und Jasmin, ich will damit nur sagen, dass wir volle Rückendeckung durch den RND und auch dem IPB haben und uns in der Arbeit nicht beeinflussen lassen sollen. Unsere Vorgesetzten haben mit Erstaunen wahrgenommen, wie besonders junge Menschen aus ihrer bisherigen Reserviertheit herauskommen und sich am öffentlichen Meinungsaustausch beteiligen. Sie haben unserem Projekt das vollste Vertrauen ausgesprochen und hoffen, wir hätten weiterhin viel Erfolg. Was das IPB anbetrifft, so sind deren Verantwortliche ebenfalls voll des Lobes und meinen, gerade so ein Modellprojekt hätte in der Medienlandschaft bisher gefehlt. Wir werden folglich auf unserer Linie weiterarbeiten und lassen uns einfach von Politikern wie diesem Herrn Jäger, der darüber hinaus ganz massiv Kapitalinteressen vertritt, nicht einschüchtern. Ich kenne ihn bereits zur Genüge aus früheren Querelen mit dem RND. Am besten ist, gar nicht weiter auf ihn einzugehen. Nur müssen wir wissen, vor allem Du Jasmin, dass Du auf Deiner Rundreise durch den Wahlkreis immer wieder mit Menschen wie ihm konfrontiert sein wirst. Sei gewiss, dass wir alle Dich in Deiner hervorragenden Arbeit unterstützen.“            

                Als Ralf sich verabschiedet hatte, hatten Helmut und Jasmin noch eine Stunde Zeit, um im nahegelegenen Café einen Tee zu trinken. Helmut erzählte ihr, dass seine Frau sich in der letzten Zeit vermehrt über ihn beschwert hätte. Wie stets hätte er wenig Zeit für die Familie, sei aber darüber hinaus gereizter als gewöhnlich und mit seinen Gedanken häufig abwesend. Das hätten auch die Töchter gemerkt. Frau und Töchter gemeinsam würden ihn unter Druck setzen, mehr für die Familie da zu sein.

                Jasmin merkte instinktiv, wie verunsichert und verlegen ihr Chef ihr gegenüber war. Wie selbstverständlich nahm sie seine rechte Hand in ihre und meinte in beruhigendem Ton: „Lieber Helmut, bitte lass Dich durch unsere Freundschaft nicht irre machen. Wir beide sind uns keine Rechenschaft schuldig. Was zwischen uns geschehen ist, war schön und das geht niemanden etwas an. Wir sollten daraus keine Affäre machen, die uns beiden schaden könnte. Ich verstehe Deine Frau und Deine beiden Töchter besser als Du denkst. An ihrer Stelle würde ich auch um Dich kämpfen. Von meiner Seite aus wäre es töricht, Dich in eine Beziehung zu locken, die Dir nur Schwierigkeiten bereiten würde. Dazu schätze ich Dich zu sehr. Also, lass uns gute Freunde sein und uns in der Arbeit gegenseitig unterstützen. Ein erfolgreiches Projekt wird uns beiden nützen. Jetzt genieße einen schönen Abend mit Deiner Familie und lade sie nach dem Theater zu einem Glas Wein ein. Das wird Euch allen gut tun. Ich werde noch heute Abend nach Holzminden zurückfahren und mich Morgen auf die Arbeit in Uslar vorbereiten. Dazu brauche ich einen freien Kopf und die Gewissheit, dass Du und Ralf hinter mir stehen, der RND sowieso.“

                Helmut fühlte sich mit einem Mal erleichtert und sah mit Freuden dem Theaterabend entgegen. Jasmin war eine verdammt tolle Frau, dachte er bei sich. Als Junggeselle würde er alles darangeben, sie zu erobern. Er nahm sich vor, sie mit Kräften zu unterstützen. Zum Abschied konnte er nicht umhin, sie in den Arm zu nehmen und ihr einen Kuss zu geben. Jasmin lachte und sagte liebevoll spöttisch: „So, jetzt ist es aber an der Zeit, dass Du Dich auf den Weg machst.“        

                Kurze Zeit später saß Jasmin in ihrem kleinen Fiat, ließ den Motor an und machte sich auf den Weg zurück nach Holzminden. Sie freute sich nach einem langen Tag darauf, Regina und Chris wiederzusehen. Es war wie ihre Fahrt nach Hause.

 

              - - -