10 Okt 2018

Die kranke deutsche Demokratie - 8. Folge

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie – 8. Folge

 

Fiktion: Reichsbürger in Grossenwieden, Besuch in Uslar

Foto: Wikimedia Commons, Altes Rathaus in Uslar/Solling, Autor: Uwe Barghaan

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„Verdammt noch mal, Merkel muss endlich weg! Wenn ich der persönlich begegnen würde, könnte sie was erleben. Was hat sie nur aus unserem schönen Land gemacht? Ein Musel- und Neger-Land, in dem Deutsche nur noch Gäste sind. Dabei steht sie illegal einem Staat vor, der nicht souverän ist, der keinen Friedensvertrag hat und weiterhin von den Siegermächten abhängig ist. Ich bin dagegen, dass die Neue Rechte sich an der Wahl beteiligt und damit den Staat legitimiert. Ich sehe auch, dass jetzt unabhängige Bürger-Kandidaten an diesen Schein-Wahlen teilnehmen wollen. Alle Parteien und Bewegungen, die in der kommenden Bundestagswahl antreten, sind Polit-Kriminelle. Naja, immerhin ist die Neue Rechte die einzige Partei, die das Land den Deutschen zurückgeben will. Deshalb werde ich sie unterstützen. Vielleicht setzt sich diese Partei, einmal an der Macht, für den Abschluss eines Friedensvertrages ein. Dann könnte eine neue Etappe in der deutschen Geschichte eingeläutet werden. Fritz, Du kannst damit rechnen, dass ich noch einige Reichsfreunde, mit denen ich vernetzt bin, für die Neue Rechte mobilisiere. Wenn Du Zeit und Lust hast, komm mich mal wieder in Grossenwieden zum gemeinsamen Fischen besuchen.“

                Diesen Text hatte Otto gestern an seinen Freund in Holzminden, der dort die Neue Rechte mit aufbaut, gemailt. Die Nacht verbrachte er in seiner Holzhütte im natur-geschützten Gebiet ‚Welseder Bach‘ mit seinen zahlreichen Fischteichen. Immer wenn er sehr erregt war, zog er es vor, sein Zimmer im ersten Stock des elterlichen Einfamilienhauses in Grossenwieden an der Weser, nahe Hessisch Oldendorf, mit seiner einsamen, zwei Kilometer entfernten Hütte zu tauschen. Hier war sein ‚Reich‘, hier konnte ihm niemand an den Kragen, nicht einmal seine Eltern. Die hatten das verwunschene Grundstück mit dichtem Buschwerk und vielerlei Bäumen um einen der fischreichen Teiche herum erworben, als sie ihren kleinen Hof in Grossenwieden an einen wohlhabenden Bauern verkauften. In ihrem Alter hatten die Eltern es aufgegeben, das idyllische Gelände am Teich zu nutzen, was ihrem eigenbrötlerischen Sohn gelegen kam. In seiner Holzhütte hatte er die Utensilien seiner beiden Passionen, Angeln und Sportschiessen, untergebracht. Sein größter ‚Schatz‘ war eine großkalibrige Sauer-Pistole, mit der er regelmäßig in der Halle des nahegelegenen Schützenvereins trainierte. Hinter der Hütte, im dichten Gehölz versteckt, verbarg sich ein mit Plastik abgedecktes kleines Gewächshaus, in dem er ausschließlich Hanf für seine Joints anbaute, ohne die er nicht leben konnte.

                An diesem Morgen saß Otto schon vor Sonnenaufgang auf einem niedrigen Holzschemel am Uferrand seines Fischteiches und hatte seine Angel ausgeworfen. Trotz der morgendlichen Kühle zu dieser Jahreszeit, in der Buschwerk und Bäume mit zaghaftem Grün den kommenden Frühling begrüßten, fühlte er sich, eingemummelt in einem dicken Anorak, ‚sauwohl‘ in seiner Haut, hatte er doch einen Joint und eine Flasche Bier dabei. Während er auf die matt silbrig scheinende Wasseroberfläche starrte, die durch ein Schwanenpärchen in sanfte Wellenbewegung versetzt wurde, ging ihm wieder die Mail an Fritz im Kopf herum. Er war ja so froh, dass er in dieser Einsamkeit seine Ruhe vor all den Menschen hatte, die sich mit diesem ‚Schein-Staat‘ und seinen Behörden identifizierten. Zu seinem Glück fehlten ihm jetzt nur noch ein paar schmackhafte Fische, die er später nach Hause tragen würde, um mit Vater und Mutter am heimischen Küchentisch das Frühstück zu genießen. Er war überzeugt davon, dass seine Mutter die leckersten Fischfilets im Ort zubereitet. Sicher hätte sie auch noch einen Kartoffelsalat vom Vortag im Kühlschrank. Nach dem Frühstück würde er sich dann auf sein Zimmer begeben, um den Rest des Vormittags vor seinem Computer zu verbringen und im Internet seine Kontakte mit Gleichgesinnten aus dem Weserbergland zu pflegen.

                Otto teilte ein ähnliches Schicksal wie andere Reichsfreunde und Anhänger der rechten Szene in diesem ländlichen Raum. Sie waren beinahe ausnahmslos Männer im Alter zwischen 30 und 60 Jahren, hatten eine Lehrlingsausbildung gemacht, etliche Jahre in Landwirtschaft, Handwerk oder einheimischen Industriebetrieben gearbeitet, dann aber einen abrupten Einschnitt in ihrem Berufsleben erlitten, der auf Modernisierung in der Arbeitswelt und damit zunehmender Aufgabe von Betrieben und Freisetzung von Arbeitsplätzen beruhte. Die folgende Arbeitslosigkeit hätte nach herrschender Philosophie der deutschen Leistungsgesellschaft Otto und andere Leidtragende mobilisieren sollen, angespornt von Jobcentern, um als flexible und anpassungsfähige Arbeitskräfte deutschlandweit nach neuen Lebens- und Berufsperspektiven Ausschau zu halten. Otto, und mit ihm viele andere, verweigerten sich diesen vom Kapital geforderten rigorosen Anpassungen aus verschiedensten Gründen. Einer war das zerbrochene Selbstwertgefühl, innerhalb der Heimatgemeinde plötzlich nicht mehr gebraucht und geschätzt zu werden, sozusagen zu menschlicher Ausschussware degradiert zu werden. Die von den Jobcentern angebotenen Umschulungen nutzten nur wenige erfolgreich und zumeist mit der Konsequenz, die Heimatgemeinde zu verlassen. Otto, wie auch sein Freund Fritz, die sich beide während der Lehrzeit kennengelernt hatten und die durch die Modernisierung in der Landwirtschaft auf die Straße gesetzt wurden, machten eine Umschulung für Lagerhaltung und auch Grundkurse im IT-Bereich mit. Sie waren jedoch nicht bereit, sich außerhalb der Region um Jobs zu bewerben. So fielen mit der Zeit das Arbeitslosengeld und HartzIV weg. Das konnten sie sich leisten, da sie auf den von ihren Eltern in der Wirtschaftswunderzeit hart erarbeiteten Hausbesitz zurückgreifen konnten. In den Heimatgemeinden wurden sie zu Versagern abgestempelt, die von den ‚Leistungsträgern‘ mehr und mehr gemieden wurden. Otto hatte Verbindung zu anderen Reichsfreunden, die in den nach dem Krieg mit Marshallplan-Geldern errichteten Neubaugebieten der kleinen Städte und Flecken des Weserberglandes wohnten, wie Uslar, Bodenwerder, Bad Münder, Bad Pyrmont, Hessisch Oldendorf, Coppenbrügge, Salzhemmendorf, Emmerthal, Aerzen aber auch in den Kreisstädten Holzminden und Hameln. Meistens lebten sie unauffällig in ihren Nachbarschaften. Ihnen war der Hass gemeinsam, den sie gegenüber Migranten hegten. Der Zuzug von Ausländern war in den letzten Jahrzehnten unübersehbar geworden. Da Zugezogene nicht auf elterlichen Besitz zurückgreifen konnten, passten sie sich weit flexibler den ständig ändernden Herausforderungen der Arbeitswelt an und traten in offene Konkurrenz zu den einheimischen Arbeitskräften.

                Otto wie auch Fritz bauten in den letzten Jahren ein Netz mit anderen sozial ausgegrenzten ‚Losern‘ auf und flüchteten sich in eine von der ‚Mainstream-Welt‘ kaum beachtete Parallelwelt. Was Otto als Reichsfreund jedoch von den Neuen Rechten unterschied, war der fehlende Ehrgeiz, die Mainstream-Gesellschaft durch Wahlen erobern zu wollen. Niemand sollte ihn in seinem kleinen Reich stören. Dort suchte er seinen persönlichen Frieden. Er kam zu dem Schluss, sich der gesellschaftlichen Umwelt total zu verweigern. Staat und Behörden hatten ihn seiner Meinung nach ungerecht behandelt und müssten deshalb bekämpft werden, auch wenn er nur bescheidene Möglichkeiten zum Widerstand hätte. Dazu gehörten seine Internetaktivitäten mit Gesinnungsgenossen und, wenn es darauf  ankommen sollte, die wehrhafte Verteidigung seines kleinen Reiches. Steuern und Gebühren an den ‚Schein-Staat‘ zu zahlen, kam für ihn ebenso wenig infrage. Noch hielten seine betagten Eltern die Behörden, wenn sie ihm auf die Pelle rücken wollten, von ihm fern. Doch wie würde er sich dem Staat gegenüber nach dem Tode der Alten verhalten? 

                Bis auf gelegentliche Auseinandersetzungen kam er mit Vater und Mutter einigermaßen aus. Er war sich bewusst, dass die Eltern ihn vor dem Armuts-Schicksal der meisten Langzeitarbeitslosen und Obdachlosen mit ihrem in der Nachkriegszeit durch Fleiß aufgebauten kleinen Vermögen bewahrt hatten. Die Eltern ihrerseits, obwohl sie Otto liebten und ihn gegenüber Nachbarn verteidigten, waren sich einig in der Meinung, ihr Sohn sei ein Versager mit völlig verschrobenen Ansichten. Oft hatten sie ihn aufgefordert, wie andere Menschen auch Arbeit zu suchen, sich nützlich zu machen und eine Familie zu gründen. Jedoch waren ihre Worte wie in den Wind gesprochen. Otto antwortete darauf  immer wieder, dass die Eltern die heutige Welt und ihren Sohn nicht verstünden. Er hätte zusammen mit einigen Freunden die Vision eines neuen Deutschen Reiches. Im Kleinen würden sie darangehen, diesen Traum irgendwann in der Zukunft Wirklichkeit werden zu lassen. Seine Beziehungen zu den anderen Menschen der Gemeinde, den ‚Leistungsträgern im Hamsterrad‘, wie er sie verächtlich titulierte, interessierten ihn nicht bis auf einige oberflächliche Kontakte zu den Vereinskollegen im Angler- und im Schützenverein.

                Nach dem Fang von einigen Fischen machte sich Otto auf den Weg zum elterlichen Haus nahe der Weserfähre. Es war gerade acht Uhr morgens, als er das Ökotop um die Fischteiche verließ und noch einen Kilometer durch die frisch beackerten Felder in Richtung Weser und der ersten Häuser von Grossenwieden vor sich hatte. Die weitgestreckten Felder waren allesamt dem Raps- und Maisanbau vorbehalten. Wut kam in ihm auf. Welch‘ unsinnige Subventionspolitik betrieb die EU und die Regierung? Sein kleiner elterlicher Betrieb, der aus Rentabilitätsgründen verkauft werden musste, produzierte früher fast alles, was man zum Leben brauchte, ohne teure Gerätschaften, ohne viel Chemie. Sein Vater und seine Mutter wussten noch, wie man Käse und Butter machte. Brot und Kuchen wurden im Haus gebacken. Das Federvieh, die wenigen Schweine und ein paar Kühe hatten freien Auslauf, und aus Hessisch Oldendorf kamen die Kunden und kauften frisches Obst und Gemüse. Ja, all das machte viel Arbeit und erlaubte kaum Freizeit und Urlaub. Aber bei entsprechender Förderung vom Staat hätten sie eine zusätzliche Arbeitskraft einstellen können. Wo waren denn bloß die Grünen geblieben mit der Propagierung von ökologischer Landwirtschaft? Warum konnten nur subventionierte Großbetriebe überleben? Die Lebensmittelkonzerne mit ihrer Agrarlobby hatten leichtes Spiel gehabt, die Konservativen auf ihre Seite zu locken, von den Sozis ganz zu schweigen. In Ottos Wut mischte sich Traurigkeit und Resignation als er über die Felder blickte. Gern hätte er einmal den elterlichen Hof übernommen. Aber er und seine Eltern lebten auf der Schattenseite der Welt, die von der sonnigen Moderne überrollt wurde. Nur gut, dass er noch sein kleines Reich mit Bäumen, Büschen, Vögeln, Käfern, Bienen, Hasen, Fischen, zwei Schwänen, einigen Enten und Hanf am ‚Welseder Bach‘ sein Eigen nennen konnte. Und das würde er verteidigen bis aufs Messer!

                Mutters gebratene Fische waren einzigartig, und erst der Kartoffelsalat dazu! Frisch gestärkt machte sich Otto an sein Tageswerk. Das bestand seit Beginn seiner Arbeitslosigkeit und vor allem auch seit der Streichung seiner HartzIV-Bezüge im Internetsurfen. Die täglichen Nachrichten und der Austausch mit anderen Reichsfreunden in der Region nahmen dabei die meiste Zeit in Anspruch. Jüngst war er durch Fritz auf das Weserbergland-Online-Magazin aufmerksam geworden und hatte dort unter dem Pseudonym ‚Öko-Fan‘ ein Account eingerichtet. Fritz hatte ihn ‚geimpft‘, seine Hass-Tiraden über Gott und den Staat im WOM zu zügeln, sonst bekäme er dort kein Bein in die Tür. Um die Botschaften der Reichsfreunde erfolgreich zu lancieren, müsse er geschickt vorgehen. Vor allem junge Nutzer würden Frust über den derzeitigen Zustand der deutschen Gesellschaft schieben, Politik und Medien kritisieren, hätten aber mit Abschottung gegenüber Ausländern und mit strammem Nationalismus nicht das Mindeste zu tun.

                Otto hatte eine Antwortmail von Fritz erhalten, in dem dieser sich dafür bedankte, dass er für die Neue Rechte bei den kommenden Wahlen werben würde. Die Einladung nach Grossenwieden würde er gern Anfang Mai annehmen. Sicher wären dann auch die Temperaturen so angenehm, dass das Angeln Freude bereiten würde. Wenn Ottos Mutter ein Spargelessen wie im vergangenen Jahr anrichten könnte, wäre mit Sicherheit mit seinem Besuch zu rechnen. Bis dahin werden die Kandidaturen der unabhängigen Bundestagskandidatin aus Holzminden, Frau R., und der anderen Direktkandidaten aus dem Wahlkreis Konturen angenommen haben und sie könnten sich überlegen, wie darauf am besten zu reagieren sei. Mit den Mitgliedern der Neuen Rechten gäbe es jetzt wöchentliche Treffen und ihre Aktivitäten im Internet spielten eine immer größere Rolle.

                Fritz schloss seine Mail mit folgenden Worten: „Otto, Du solltest besonders ein Auge auf die verantwortliche Journalistin des WOM, Frau Jasmin, werfen. Sie bringt es tatsächlich fertig, eine große Zahl von jungen Menschen zu begeistern und für Bürger-Emanzipation einzutreten. Wenn dadurch eine starke Bewegung für eine sogenannte humanistische, weltoffene Reform des bestehenden Demokratie-Modells zustande käme, wäre das für unsere nationalistisch ausgerichtete Bewegung ein neuer Feind am Horizont. Diese Frau hat ausländische Wurzeln aus dem mittleren Orient, ist sexy und versiert zugleich und wird nicht nur die etablierten Parteien um ihren Schlaf bringen sondern uns ebenso Schwierigkeiten machen. Wenn ich bloß wüsste, wie man sie aus dem Verkehr ziehen könnte?“ 

                Frau Regina und Frau Jasmin sind tatsächlich Frauen, die nicht nur intelligent sondern darüber hinaus anziehend sind. Das musste Otto unumwunden zugeben. Im WOM zogen sie mit ihren Beiträgen und Kommentaren die Aufmerksamkeit der jungen Generation mühelos auf sich. Sie verbreiteten Hoffnung und Illusion, dass der Bürger selbst Herr seiner Entscheidungen sein könnte. Als Lehrling war er einst auch mit Optimismus in die Zukunft gestartet. Auf dem Hof seiner Eltern hatte er die Geheimnisse der Landwirtschaft entdeckt und stellte sich vor, später einmal im Einklang mit der Natur ein Arbeits- und Familienleben an der schönen Weser aufzubauen, das sich lohnte zu leben. Aber er hatte inzwischen den brutalen Zwang des Kapitalismus erfahren, in der ein kleiner Bauer Beschränkungen  ausgeliefert ist, die nicht länger im Bereich eigener Entscheidung liegen. Wie können diese beiden Frauen den Menschen glauben machen, sie selbst hielten ihr Schicksal in eigener Hand? Wieder stieg eine unbändige Wut in ihm auf. Ein tiefer Graben trennte ihn von all diesen jungen, optimistischen und hoffnungsvollen Menschen, denen auch er sich einst zugehörig gefühlt hatte, und die da im WOM miteinander kommunizierten. In Rage gekommen fragte er sich, was dieser Journalistin mit ausländischen Wurzeln einfallen würde, sich in deutsche Verhältnisse einzumischen? „Man sollte sie flachlegen und durchvögeln nach Strich und Faden und danach in das Heimatland ihrer Väter zurückschicken! Hier hat sie nichts zu suchen.“            

                Otto hielt es nicht länger vor seinem Computer aus. Innerlich gereizt und erhitzt bis zum Äußersten stieg er hinunter in die Küche und sagte der Mutter, er ginge bis zum Mittagessen zur Weserpromenade und zum Fährhaus. Einen Joint hatte er sich vorsichtshalber eingesteckt. Dieser war schon lange sein treuer  Begleiter, der vor allem herhalten musste, wenn er sich in unerträglicher Erregung befand. Auf die verwunderte Frage seiner Mutter, die dabei war, das Mittagessen vorzubereiten, was er denn bei diesem ungemütlichen Wetter an der Weser vorhabe, knurrte er: „Mutter, ich weiß, was ich tue. Ich habe einiges mit Kollegen vom Anglerverein zu besprechen. Wenn Du und Vater schon essen wollt, ist mir das auch recht.“

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Regina und Chris empfingen Jasmin mit offenen Armen als sie gegen acht Uhr abends aus Hannover kommend in Holzminden eintraf. Regina hatte für jeden eine Fertigpizza aufgebacken und eine Flasche Rotwein entkorkt. Bei bester Laune besprachen sie, was sie am morgigen Sonntag zusammen unternehmen könnten. Regina schlug einen Besuch in Uslar vor, das Jasmin in der kommenden Woche genauer kennenlernen wollte. Auf dem Hinweg könnten sie einen Rundgang im Wildpark Neuhaus  und im Erlebniswald Schönhagen machen. Der Vorschlag wurde angenommen. Auch Chris freute sich darauf, mit den beiden Frauen einen gemeinsamen Tag zu verbringen.

                Am Sonntagmorgen brachen Jasmin und Regina wie gewohnt in aller Herrgottsfrühe zum Jogging auf, um sich für die Fahrt nach Uslar fit zu machen. Als beide Frauen den nahen Wald erreichten und sich allein mit der Natur wussten, konnten sie gar nicht anders als inne zu halten und sich zu umarmen. Was war es, das sie zueinander trieb und ihre Gemüter erhitzte? Die beiden Frauen herzten und küssten sich wie frisch Verliebte, die ihre  Begierden zu zügeln nicht imstande waren. Während ihrer gestrigen Begegnung mit Ralf und Helmut in Hannover musste Jasmin immer wieder an Regina denken. Und dieser ging es nicht anders mit ihrer Sehnsucht nach der neuen Freundin. Unter der warmen Sportbekleidung erfühlten und bewunderten sie aufs Neue ihre begehrenden Körper und klammerten sich eng aneinander.

                „Jasmin, Du warst nicht einmal einen Tag weg und schon wurde mir die Zeit Deiner Abwesenheit ellenlang. Ich malte mir in Gedanken Dein Treffen mit Ralf und Helmut aus. Wie bist Du mit Helmut verblieben?  Geht Eure Liebesbeziehung weiter? Ich gestehe, dass ich ein wenig eifersüchtig auf ihn bin. Das sollte ich nicht sein. Wir beide sind freie Menschen. Wem wir Liebe schenken, den wollen wir nicht besitzen. Meine Eifersucht ärgert mich. Sie ist nicht nur ein Zeichen von Geliebtwerden-Wollen sondern auch von Besitzen-Wollen. Freisein von Eifersucht ist einfach gesagt. Doch meine Gefühle für Dich sind so stark, dass ich dagegen nicht ankomme.“

                Reginas Nasenspitze fühlte sich in der Morgenkühle noch recht kalt an, als Jasmin mit ihren Lippen das Gesicht ihrer Freundin abtastete. Spontan nahm sie Reginas Nase in den Mund, um diese zu wärmen. Nach einer kleinen Weile antwortete sie: „Regina, mit Helmut werde ich hoffentlich während meiner Arbeit für den RND eine gute und rein freundschaftliche Arbeitsbeziehung aufbauen können. Unser sexueller Austausch war eine unmittelbare Begierde, der wir widerstandslos nachgaben. Ich habe Dir erzählt, wie ich durch Tom und Helmut meine Sexualität entdecken wollte. Bei beiden Männern, die fest in der deutschen Mehrheits-Gesellschaft verankert sind, wurde wohl auch unbewusst mein Bedürfnis geweckt, mich als Frau mit Migrantenwurzeln in dieser Gesellschaft bestätigt und versichert zu fühlen. Die offen ausgebrochenen xenophoben Tendenzen in Deutschland  seit Frau Merkels Öffnung der Grenzen im September 2015, was fast gleichzeitig mit meiner Rückkehr aus den Ländern des ‚Islamischen Frühlings‘ geschah, sind nicht spurlos an mir vorübergegangen. Sie haben mich bisweilen stark verunsichert. Mein Studium in Münster findet in einer weitgehend von rechten wie islamistischen Strömungen verschont gebliebenen bürgerlichen Umgebung statt. Jedoch gibt es immer wieder mal Ereignisse im Alltag, in denen ich mit Ressentiments von sogenannten ‚Bio-Deutschen‘ mir gegenüber konfrontiert werde. Da tut mir eine berufliche und persönliche Anerkennung von deutschen Kollegen und Freunden gut. Und das trifft auch in besonderem Masse auf meine persönliche Liebeserfahrung mit Tom und Helmut zu. Nun hat Helmuts Frau ihm wiederholt Vorhaltungen gemacht, er kümmere sich zu wenig um sie und die beiden Töchter. Instinktiv ahnt sie, er könnte sich in seiner Ehe langweilen und nach Abenteuern suchen. Wir haben uns darüber ausgesprochen. Ich machte ihm klar, dass ich überhaupt kein Interesse daran hätte, seine Ehe auseinander zu dividieren. Ich wünsche mir eher, dass sich unser Abenteuer letztendlich positiv auf seine eheliche Beziehung auswirkt, und er neues Interesse an seiner Frau gewinnt. Unsere sexuelle Erfahrung war schön. Damit wollen wir es bewenden lassen, ohne daraus eine große Story zu machen. Regina, ich habe das Gefühl, wie ich Dir bereits andeutete, dass sich meine Beziehung zu Dir nicht nur aus Eigenliebe speist. Da vermischt sich etwas in meinen Gefühlen und in meinem Kopf, dass ich noch gar nicht abschätzen kann. Aber fürs Erste bin ich einfach dankbar, dass ich Dich kennen gelernt habe und damit auch mich weiter erfahre. Nie habe ich früher daran gedacht, ich könnte in mir selbst eine lesbische Ader haben. Frauen fand ich zwar von jeher schöner als Männer, aber eine körperliche Begierde zu Frauen, wie ich sie jetzt Dir gegenüber empfinde, war mir fremd. Du bist für mich exotisch und ein Sinnbild nordischer Schönheit. Ich bin für Dich wohl ebenfalls fremdartig und deshalb anziehend. Nun hat es uns beide mit Haut und Haaren gepackt, wie Du siehst. Sicher hat auch unsere geteilte Leidenschaft für Freiheit und Liebe einen Teil Schuld daran, dass wir uns zueinander hingezogen fühlen.“

                Bei diesen Worten fielen sich beide Frauen ein letztes Mal um den Hals, bevor sie sich voneinander lösten und ihren Morgenlauf fortsetzten.  

                Der Letzte, der zum Frühstück erschien, war Chris. Er schien bester Laune zu sein, war frisch geduscht und begrüßte beide Frauen mit einer Umarmung und einem Bussi auf die Wange. Verwundert und erfreut zugleich blickten seine Mutter und Jasmin zu ihm auf. Sie waren nicht gewohnt, ihn in so aufgeräumter Stimmung schon am Morgen anzutreffen. Das schien für den kommenden Ausflugstag ein gutes Omen zu sein.

                In den beiden letzten Jahren entwickelte sich Chris zu einem gut aussehenden und sportlichen Teenager, der in seiner Schul- und Klassengemeinschaft so manche heimliche Bewunderin hatte. Wenn seine Mutter ihn ab und an von der Schule abholte, zogen beide allenthalben bewundernde Blicke auf sich. Selbst Lehrerinnen und Lehrer gestanden unumwunden ein, dass Mutter und Sohn ein schönes Paar abgaben. Chris entwickelte schon früh ein besonderes Verhältnis zu seiner Mutter. Seinen Vater hatte er stets für den scharfen Verstand verehrt, seine Mutter jedoch rief bei ihm andersartige Gefühle hervor. Sie verkörperte für ihn die ideale Frau, der gegenüber er eine kindliche sexuelle Neigung verspürte. Obwohl er im Pubertätsalter eine Loslösung von seiner Mutter entwickelte, ertappte er sich immer wieder, wie er seiner Mutter hinterher sah, sie heimlich beobachtete und sie mit anderen Frauen verglich. Er war stolz auf sie und ließ gegenüber Freundinnen und Freunden nichts auf sie kommen. Auch hatte er nach dem Tod seines Vaters begonnen, sich als Beschützer seiner Mutter zu fühlen und zu versuchen, ihr wieder Freude am Leben zu stiften. Seitdem Jasmin bei ihnen zu Besuch war, blühte nicht nur seine Mutter sondern auch er auf. Jasmin hatte auch ihn in ihren Bann gezogen und Phantasien in ihm geweckt, wie er sie vorher nur gegenüber seiner Mutter wahrgenommen hatte. Mit den beiden Frauen gemeinsam am Frühstückstisch zu sitzen, war wie ein Geschenk für ihn, für das er sich mit einer Umarmung bedanken wollte. 

                Der Ausflug nach Uslar führte die Drei zuerst zum nahegelegenen Wildpark Neuhaus. Der Solling war zu dieser Jahreszeit gerade aus dem Winterschlaf erwacht. Das betraf sowohl die Pflanzen- als auch die Tierwelt. Jasmin hatte sich vorgenommen, neben ihrer journalistischen Arbeit den ländlichen Zauber des Weserberglandes zu erleben, welches als eine der schönsten Flusslandschaften Deutschlands gilt. Der Wildpark in Neuhaus erwies sich als der rechte Einstieg in das Erlebnis des sagenumwobenen Weserberglandes. Hameln und Holzminden als wichtigste Städte in der Region hatten bereits Jasmins Neugierde geweckt. Jedoch war die Jahreszeit zu ungemütlich, um auf ihren Autofahrten noch einen Blick für Höhenzüge und Täler zu haben.

                Als sich die Ausflügler nach ihrer Ankunft im Wildpark auf einen Rundgang begaben, der sie durch Mischwald sowie Wiesen und Weiden mit ihrer einheimischen Fauna führte, atmeten sie den aufkeimenden Frühling mit all seinen betörenden Gerüchen tief in sich ein. Der nächtliche Regenguss hatte das Seine dazu beigetragen, dass Böden und Pflanzen untereinander mit ihren jeweiligen Ausdünstungen wetteiferten und den Spaziergängern Lebenslust und Erwachen einhauchten. Zu Ende ihres Rundganges war ein Besuch des aus Holz errichteten Wildparkhauses, das wie ein Museum gestaltet war und Flora und Fauna des Ökosystems Solling erläuterte, ein Muss. Regina meinte, es sei unerlässlich, im Sommer noch einmal einen Ausflug zum Wildpark zu machen, wenn sich Pflanzen- und Tierwelt in ihrer Hoch-Zeit befinden. Dann sollte auch ein Besuch der Falknerei nicht fehlen.

                Von Neuhaus aus ist der Erlebniswald Schönhagen nach einer viertelstündigen Autofahrt zu erreichen. Regina und Chris waren hier bereits einige Male mit Wolfgang gewesen. Wie begeistert hatte Chris hier als kleiner Junge zusammen mit seinem Vater im See am Campingplatz gebadet! Aber in den beiden letzten Jahren stand sein und Reginas Sinn nicht nach einem Besuch des Erlebniswaldes. Das sollte sich am heutigen Sonntag gründlich ändern. Chris war den beiden Frauen auf ihrer Wanderung durch den Wald immer voraus. Ihm hatten es die verschiedenen hoch in den Bäumen versteckten Baumhäuser des Baumhaushotels und der hölzerne Klimaturm, der gemeinsam bestiegen wurde, angetan. Was für ein Erlebnis wäre eine Übernachtung in einem der Baumhäuser, dachte Jasmin bei sich? Wo könnten Freiheit und Liebe besser gelebt werden als hier? Wo könnten die Geheimnisse und Wunder des Waldes eher sinnlich und geistig wahrgenommen werden? Als sie diese Idee gegenüber ihrer Freundin  äußerte, drückte ihr Regina zustimmend die Hand. Irgendwann müssten beide hierher zurückkommen.

                Die Holzmindener Ausflügler kamen gerade rechtzeitig zum Mittagessen in der Altstadt von Uslar an. Unweit des Alten Rathauses am Eingang zur Langen Straße parkten sie Reginas Auto. Es war Jasmins erster Besuch in der malerischen kleinen Stadt im Herzen des Naturparks Solling-Vogler. Typische historische Fachwerkhäuser, wie es sie überall in der Region zu bewundern gibt, begrüßten sie auf Schritt und Tritt. Vom unverwechselbaren Alten Rathaus, dem Wahrzeichen der Stadt, ging es geradewegs in die Fußgängerzone Lange Straße. Regina wollte Jasmin und Chris eine besondere Freude bereiten und lud sie zum Essen in das Restaurant des besten Hotels am Platze, dem Hotel Menzhausen, ein. Noch konnte man nicht zu dieser Jahreszeit draußen vor dem Hotel, dem ältesten und sorgfältig restaurierten Fachwerkbau, speisen. Dafür machten sie es sich im romantischen Hotelrestaurant gemütlich. Sie suchten sich einen Tisch aus, der dem Blick der meisten Gäste entzogen war. Chris genoss es sichtlich, inmitten zweier anziehender Frauen Platz zu nehmen. Noch wurde das Trio von den zahlreichen Gästen nicht erkannt. Das war auch besser so. Jasmin müsste in Zukunft peinlichst darauf achtgeben, nicht als Sympathisantin von Reginas Bundestagskandidatur eingestuft zu werden. Das könnte ihr zum Schaden gereichen. Das WOM-Projekt kann nur aufgrund seiner Überparteilichkeit überleben. Es darf nicht zum Angriffspunkt der etablierten Parteien werden. Vor allem die beiden sogenannten Volksparteien, Konservative wie Sozis, würden beim Aufsichtsrat des RND intervenieren, das Online-Projekt einzustellen. Diese Parteien haben die Macht im Land und lassen nicht mit sich spaßen, wenn es um mögliche politische Einbußen geht. Jasmin wusste das nur zu gut. Sie hatte mit Ralf und Helmut mehrfach darüber gesprochen. 

                Am frühen Nachmittag waren die Drei von ihrer erlebnisreichen Tour wieder zurück. Regina und Jasmin begannen ihre Vorbereitungen für die kommende Woche. Für beide stand das Surfen im WOM an vorderster Stelle. Regina hatte ein erstes Unterstützer-Meeting in Holzminden vorgesehen. Jasmin würde sich in Uslar mit Berufs- und Gymnasialschülern treffen und dabei ihre Idee eines Schreib-Wettbewerbes vorstellen.

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Jedes Mal, wenn sich Herr Jäger ins WOM einloggte und die neuesten Einträge der immer zahlreicher werdenden Nutzer verfolgte, verzerrte Zornesröte seine Gesichtszüge und ließ ihn die seit Beginn seiner Parteikarriere einstudierte Contenance verlieren. Seine Frau monierte immer häufiger sein Verhalten und hielt ihm vor, er benähme sich wie ein Gehetzter, der gegen imaginäre Feinde anträte. Obwohl er in einem bedeutenden Holzmindener Unternehmen Arbeit ohne Ende hatte, nahm er sich am Montagnachmittag frei, um einflussreiche Sozis in Hameln zu treffen. Sein dringendes Anliegen war, den wichtigsten politischen Gegner zu gewinnen, um gemeinsam dem WOM-Projekt den Garaus zu machen. Die sich ausbreitende Begeisterung der Jugend an partei-unabhängigen Positionen schlug ihm gewaltig auf den Magen. Das könnte die Wahl der Direktkandidaten der beiden stärksten Parteien im Wahlkreis entscheidend beeinflussen. Auch die Sozis müssten Interesse daran haben, dass sich in der Region keine Tendenz gegen die etablierten Parteien breit machen würde. Am vergangenen Samstagabend hatten die Konservativen ihren Direktkandidaten zur Bundestagswahl gekürt, der derzeitig Vorsitzender der Partei in Hameln ist. Jäger hoffte, der treu gediente Parteifunktionär könnte endlich das Direktmandat der Konservativen im Wahlkreis gewinnen. Doch leider hatte dieser stets behäbig auftretende Kandidat ‚Null-Charisma‘. Jäger machte sich keine Illusionen, er könnte bei der Jugend einen Stich machen. Anders dagegen der junge Direktkandidat der Sozis als selbsternannter Vertreter der Jugend. Doch wie im WOM anschaulich verfolgt werden konnte, hatten die traditionellen Parteien bei der Jugend einen schweren Stand. Bisher bliesen die beiden Kandidaten der sogenannten Volksparteien lediglich typische nichtssagende Allgemeinplätze in die Frühjahrsluft, da sie auf die Ausarbeitung und Verabschiedung ihrer offiziellen Parteiprogramme warten mussten. In diesem frühen Stadium der Wahl dürfen sie sich nicht erdreisten, eigene Vorstellungen unter das Wahlvolk zu streuen. Ihre Parteioberen würden erst zu Beginn der heißen Phase des Wahlkampfes nach den Sommerferien, wenn die von Experten ausgearbeiteten und von den Parteiführungen abgesegneten Programme stünden, den Startschuss für die Propagierung von konkreten politische Zielvorstellungen geben. Diese in den Augen der Jugend undemokratische und paternalistische Vorgehensweise der Parteien waren mit ein gewichtiger Grund für Politikmüdigkeit. Jäger witterte zukünftige Unbilden zum Nachteil der etablierten Parteien.  Die sich stürmisch entwickelnde Auseinandersetzung um politische Ziele im WOM spiegelte ein großes Einvernehmen zwischen der parteilosen Kandidatin und einem bedeutenden Teil der jugendlichen Nutzer wider.

                Wie schon in Holzminden vor Parteikolleginnen und Kollegen, griff Jäger auch in der Diskussion mit den Sozis den RND mit scharfen Worten an: „Dieses WOM-Projekt ist mir ein Dorn im Auge. Wie konnten der RND und das IPB im Wahljahr nur auf eine solche Idee kommen? Als ob die lokalen Medien nicht ausreichend wären, um die Menschen in der Region für Politik zu interessieren! Auch unsere Parteien und unsere Jugendorganisationen mobilisieren die Menschen in jeder ‚Heißen Phase‘ vor der Wahl und verbreiten die jeweiligen Parteiprogramme. Dieses meiner Meinung nach dumme Geschwätz, die Menschen seien politikmüde und verlangten mehr Demokratie wird doch immer wieder am Wahltag widerlegt. Nicht umsonst wird unsere Kanzlerin seit mehr als elf Jahren unangefochten von den Menschen als Regierungschefin gewünscht und geschätzt. Und Ihr als Koalitionspartner in der GROKO könnt Euch ebenfalls nicht beklagen. Die staatliche Finanzierung für unsere beiden Parteien hält uns seit 1949 erfolgreich an der Macht. So sollte es auch bleiben. Bei uns im Weserbergland ein Demokratieförderungs-Projekt zu starten, ist doch vollkommener Blödsinn. Der Schuss könnte gewaltig nach hinten losgehen. Vor allem die Jugendlichen scheinen aufmüpfig zu werden und gegen die angebliche Arroganz der Macht der GROKO-Parteien zu wettern. Das ist selbstverständlich Wasser auf die Mühlen der Neuen Rechten. Ich habe das ungute Gefühl, dass sich deren Sympathisanten geschickt getarnt ebenfalls im WOM tummeln. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, hatte ich bereits eine erste Eingabe an den Aufsichtsrat des RND zur Einstellung des Projektes gerichtet. Die Vertreter ihrer Partei auf Landesebene haben mein Anliegen jedoch nicht unterstützt und gemeint, gerade die etablierten Parteien hätten die Chance, auf der Online-Plattform für ihre Standpunkte zu werben. Doch die Jugend scheint die Plattform vor allem zu nutzen, um ihrem Zorn uns gegenüber freien Lauf zu lassen. Wenn wir lokalen, direkt betroffenen Parteienverantwortlichen jetzt gemeinsam eine neue Eingabe an den Aufsichtsrat richten würden, könnten wir eventuell Erfolg haben, das WOM-Projekt zu stoppen. Es ist offensichtlich, dass immer mehr potentielle Wählerinnen und Wähler im WOM eigene politische Vorstellungen entwickeln, die unserem jahrzehnte-bewährtem Credo von parlamentarischer Demokratie widersprechen. Schließlich machen wir als gestandene Parteien aus politischer Verantwortung heraus seit jeher gute Politik fürs Land und seine Menschen. Dafür steht unsere Kanzlerin und die GROKO.“ 

                „Verehrter Herr Jäger, in Teilen muss ich Ihnen Recht geben“, antwortete die Vorsitzende der Sozis und fuhr fort: „Das WOM gibt durchaus Anlass zur Besorgnis, wenn man sich die Diskussionen auf der Online-Plattform ansieht. Aber wir sollten auch das Positive sehen. Unleugbar ist, dass viele Menschen, vor allem junge, von uns und auch den Mainstreammedien nicht mehr erreicht werden. Sie machen sich deshalb in der Neuen Rechten und auch hier im WOM Luft. Die Kritik an dem bisherigen politischen System muss auf den Tisch kommen. Da sind wir wohl einer Meinung. Wie sonst könnten wir darauf angemessen reagieren? Es ist die Herausforderung an uns, nicht im Elfenbeinturm stecken zu bleiben, sondern offenen Auges eine Erweiterung demokratischer Verhältnisse anzugehen. Schaffen wir das nicht, werden wir eines Tages eine außerparlamentarische Opposition wie zu Zeiten der sechziger Jahre oder wie zu Ende des DDR-Regimes heraufbeschwören. Und das könnte für die innere Sicherheit unseres Landes fatale Konsequenzen haben. Wir sehen bereits am Treiben der Neuen Rechten, dass sich ein Teil unserer Bevölkerung nicht mehr mit dem bestehenden System identifiziert. Sollten wir darüber hinaus auch unsere Jugend und den Niedriglohnsektor nicht länger in unsere parlamentarische Demokratie einzubinden verstehen, dann sehe ich schwarz. Herr Jäger, die WOM-Plattform kann uns m. E. beste Einsichten verschaffen, notwendige politische Anpassungen des Parteiensystems vorzunehmen. Der jüngst gewählte Direktkandidat unserer Partei wird zusammen mit den Ortsvereinen und der Parteijugend eine Strategie entwickeln, wie der Frustration vieler junger Menschen an unserem politischen System zu begegnen ist. Und bedenken Sie Eines: Die Bundestagsparteien haben für den Wahlkampf Millionen zur Verfügung. Außerdem: Die Mainstreammedien machen die beste PR für sie. Zudem sind die in den Gemeinden existierenden Ortsvereine vor dem entscheidenden Wahltag die treuesten Trommler der Parteien. Und schließlich kann sich der Bürger gar nicht vorstellen, dass etwas in unserem Lande politisch direkt von ihm durchgesetzt wird. Bei allem Protest wird er uns doch wieder ins Parlament wählen und uns die politische Macht anvertrauen. Seien Sie nicht unruhig darüber, dass die einzige parteilose Kandidatin ein Diskussionsforum im WOM findet. Sie wissen so gut wie ich, dass nach 1949 nicht ein einziger parteiloser Direktkandidat in den Bundestag gewählt wurde. Das wird bei dieser Wahl nicht anders sein. Mit der Kandidatur von Frau Regina F. erfahren wir wenigstens, wie ihre politischen Thesen aufgenommen werden, und wir können bei Bedarf unseren eigenen Wahlkampf danach ausrichten. Sie wird ja im Übrigen von der hiesigen Presse verschwiegen. Wenn sie ein paar Stimmen bekommt, macht das den Kohl auch nicht fett. Ganz im Gegenteil entfällt damit das Argument, parteilose Kandidaten würden systematisch aus dem demokratischen Willensbildungs-Prozess ausgeschlossen. Was Ihre Bedenken anbetreffen: Hier in Niedersachsen wissen wir alle zur Genüge, wie besorgt Sie um die Demokratie sind. Sie haben sich seit jeher um die Innere Sicherheit des Landes durch die Verfolgung von Feinden der Demokratie verdient gemacht, auch wenn Sie m. E. bisweilen über das Ziel hinausgeschossen sind. Was das WOM-Projekt anbelangt, so sind wir Sozis hier in Hameln und im Land entschlossen, das Projekt weiter zu begleiten und in unserem Sinne zu nutzen. Ihre Partei wird ebenfalls davon profitieren. Davon bin ich überzeugt. Und die kleineren Bundestagsparteien werden die Plattform auch nutzen. Was die Neue Rechte anbelangt, so haben Sie sicher bemerkt, dass gerade die heutigen Jugendlichen mit Xenophobie und Deutschtümelei nichts am Hut haben. Ich kann der jungen Journalistin, die das Projekt verantwortlich begleitet, für ihre außerordentliche Arbeit nur beglückwünschen. Wie sie es versteht, Menschen für Politik und mehr Demokratie zu begeistern, das verdient meine absolute Hochachtung. Davon können wir uns alle eine Scheibe abschneiden.“  

                Zähneknirschend fuhr Jäger wieder nach Bodenwerder zurück. Im Geiste hörte er bereits die abwertenden Kommentare seiner Frau und seiner Parteifreunde über sein fruchtloses Ansinnen, das WOM-Experiment gemeinsam mit dem politischen Gegner baldmöglichst zu Fall zu bringen. Jedoch hatte er solche Situationen als ausgefuchster Politiker mehrmals durchmachen müssen und nahm sich vor, sich nicht geschlagen zu geben. Das war er sich selbst, seiner Partei und der parlamentarischen Demokratie schuldig, wie er meinte. 

 

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