12 Okt 2018

Die kranke deutsche Demokratie - 9. Folge

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie – 9. Folge

Politischer Mord im Weserbergland

 

Fiktion: Rassismus in Holzminden und die Sicht der Jugend von der deutschen Gesellschaft

 

 

Foto: Wikimedia Commons, Filmplakat des „Untertan“ von W. Staudte mit W. Peters in der Hauptrolle, nach dem Roman von H. Mann (1914) in der damaligen DDR in 1951 verfilmt und anfangs in der BRD verboten. Autor: Rabax 63. Frage: Hat der wilheminische Untertan noch Ähnlichkeit mit dem deutschen Untertan von 2017?

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Völlig aufgelöst und mit Tränen im Gesicht stürzte Chris gegen zehn Uhr morgens ins Haus und rief nach seiner Mutter. Jasmin, die gerade vor ihrem Computer saß, lief hinunter in die Küche. „Chris, was ist los? Deine Mutter ist vor einer Stunde in die Stadt gefahren.“

                Jasmin nahm den Jungen in den Arm und versuchte ihn zu trösten. Sein Körper bebte, sein Atem ging schwer. „Gottseidank ist wenigstens Jasmin im Haus!“ Er klammerte sich regelrecht an sie und es dauerte eine Weile, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte. Allmählich spürte er Jasmins warmen Frauenkörper und nahm ihren fremdartigen Geruch wahr, der ihn so ganz anders betörte als der seiner Mutter.

                Vorsichtig löste sich Jasmin von Chris. Sie ahnte, dass er sich in seinem Pubertätsalter schwer tat, mit den Gefühlen zurecht zu kommen. Etwas Schlimmes musste heute in der Schule vorgefallen sein. Beim gemeinsamen Frühstück war er noch bester Laune gewesen und hatte sich von seiner Mutter und ihr mit einer herzlichen Umarmung verabschiedet.

                Jasmin nahm Chris bei der Hand und führte ihn ins Wohnzimmer, wo sie beide auf dem Sofa Platz nahmen. „So, nun erzähl‘ mir in aller Ruhe, was Dich bewegt.“

                Chris fing erneut an zu weinen. Schluchzend bat er, seinen Kopf auf Jasmins Schoss legen zu dürfen. Er hatte Mühe, seinen im Stimmbruch befindlichen Tonfall zu kontrollieren. Den Kopf auf den Schoss der Mutter zu betten, wenn er ihr Sorgen anvertraute,  war seit dem Tod des Vaters bis heute eine Gewohnheit geblieben. Jasmin kannte sich mit Pubertätsproblemen von Jungen nicht aus. Doch sie fühlte instinktiv, dass sie jetzt Reginas Rolle ersetzen müsste. Behutsam nahm sie seinen Kopf und ließ ihn auf ihrem Schoss ruhen.

                In unregelmäßigen Abständen berichtete Chris, was heute Morgen in der Schule passiert war. Dabei fuhr ihm Jasmin immer wieder leicht durch seine wuscheligen Haare. Sein Herzklopfen normalisierte sich mit fortschreitender Erzählung. Auf dem weichen Schoss Jasmins begann er, den steten Herzschlag dieser für ihn faszinierenden neuen Freundin seiner Mutter wahrzunehmen. „Wie das gut tut, bei ihr auszuspannen!“ dachte Chris bei sich und fasste den nötigen Mut, sich ihr ganz anzuvertrauen, wie er es bei seiner Mutter auch gemacht hätte:

                Als er heute früh in der Schule ankam, sah er zwei Polizeiautos auf dem Schulhof parken. Im Klassenraum war der ‚Teufel‘ los. Mehrere Polizisten, der Rektor, die Klassenlehrerin und die anwesenden Schülerinnen und Schüler befanden sich in einem heillosen Durcheinander. Schließlich sorgte der Rektor energisch für Ruhe und veranlasste die Anwesenden, sich zu setzen. Er selbst, die Klassenlehrerin, fünf Polizisten sowie Pierre und seine Mutter blieben vor dem Lehrertisch stehen. 

                Pierre war Chris‘ bester Freund und Klassenkamerad. Er war Schwarzer, genau genommen ein Farbiger. Sein Vater stammte aus Guinea und war in den neunziger Jahren zum Studium nach Hamburg gekommen. Nach dem Studium lernte der frisch gebackene Bauingenieur Pierres Mutter kennen, die eine Krankenschwesterausbildung durchlaufen hatte. Beide verliebten sich, heirateten und zogen nach Guinea, wo der Vater eine Anstellung bei einer Baufirma fand. 2001 wurde Pierre in Guinea geboren. Sein Vater starb kurz nach der Geburt an einer tropischen Krankheit, woraufhin die Mutter mit dem kleinen Kind wieder zurück nach Deutschland siedelte. Seitdem arbeitet sie als Alleinerziehende in einem evangelischen Krankenhaus in Holzminden. Pierre und Chris wurden gleichzeitig eingeschult und sind bis zum heutigen Tag beste Freunde. Pierre und seine Mutter wohnen im Erdgeschoss eines Wohnblocks der Baugenossenschaft.

                Als seine Mutter in der Frühe mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren wollte, traf sie bereits einige aufgeregte Anwohner vor der Haustür, die alle auf die Hauswand starrten. Dort war mit schwarzer Farbe eine rassistische Parole mit Drohung dick aufgesprüht: „NEGER-SCHWEIN AB NACH AFRIKA! WENN NICHT, DANN…“ Dahinter war ein stilisierter Dolch zu sehen.

                Es traf die Mutter wie ein Schock. Erst wollte sie ihren Augen nicht trauen. Dann besann sie sich, eilte zurück in die Wohnung und versuchte ihrem Sohn, der sich gerade zur Schule fertig machte, diese Ungeheuerlichkeit schonend beizubringen. Doch es war keine Zeit zu verlieren. Die Mutter rief sofort bei der Polizei an, entschuldigte sich bei der Arbeit und fuhr mit Pierre umgehend in die Schule. Bisher hatte ihr Sohn nur dann und wann harmlose Hänseleien wegen seiner Hautfarbe von anderen Kindern und Jugendlichen über sich ergehen lassen müssen. Aber das gesellschaftliche Klima in Holzminden war seit dem massiven Zuzug von Flüchtlingen in den letzten beiden Jahren rauer geworden. Das bekamen nicht nur Muslime sondern auch sonstige Migranten, die schon lange in Holzminden lebten, zu spüren, ganz besonders Schwarze und Farbige.     

                Als Pierre und seine Mutter im Schulhof  ankamen, war die Polizei bereits zur Stelle und hatte den Rektor sowie die Klassenlehrerin einbestellt. Zwei Polizisten waren derweil zum Wohnblock gefahren, um den Vorfall vor Ort zu inspizieren und Aufnahmen zu machen sowie um Anwohner und Nachbarn zu befragen.

                Dieser rassistische Anwurf  und Drohung gegen einen Schüler des Gymnasiums machten Lehrer- und Schülerschaft sprachlos und zutiefst betroffen. Pierre hatte sich bisher immer in Holzminden wohl gefühlt. Dort war sein Zuhause und sein Freundeskreis. In der Schule wurde offen über Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Identität, kulturelle, religiöse und soziale Unterschiede gesprochen, aber nie hatte er sich als Farbiger ausgegrenzt empfunden. Holzminden war seine Heimat. Sollte diese durch Rassisten mit einem Mal brutal zerstört werden?

                Die ersten zwei Schulstunden wurden für alle Anwesenden im Klassenraum zum Albtraum. Der rassistische Vorfall gegenüber einem Schüler des Gymnasium sprach sich wie ein Lauffeuer herum. Während Pierre und seine Mutter auf der Polizeistation die Anzeige aufgaben und ein Polizeipsychologe eintraf, um sich um Sohn und Mutter zu kümmern, wollte Chris nur noch nach Hause und seine verzweifelte Wut mit seiner Mutter teilen. Nie hatte er vorher blanken Rassismus erfahren. Nun wurde er direkt damit konfrontiert und empfand diesen Menschenhass gegenüber seinem Freund, als sei er auch gegen ihn selbst gerichtet. Das Geschehnis war ihm unbegreiflich und beängstigte ihn zutiefst.

                Jasmin hörte sich die Geschichte voller Teilnahme und mit zunehmender Traurigkeit an. Sie verstand den Weltschmerz des heranwachsenden Jungen. Selbst war sie ebenso in einen aufschäumenden Strudel aus Rassismus und Fremdenfeindlichkeit eingetaucht. Ihre Identität als Deutsche und als Migrantenkind wurde infrage gestellt wie jetzt bei Pierre. Sie hatte jedoch den Vorteil einer jahrelangen intellektuellen Auseinandersetzung mit diesem Thema. Und zum Glück fand sie starke emotionale Unterstützung bei Eltern und im Freundeskreis, nicht zuletzt in steigendem Masse bei Regina.

                Chris hatte sich wieder gefasst und aufgerichtet. Er umarmte Jasmin leidenschaftlich und dankte ihr für das Verständnis. Er begann zu verstehen, warum seine Mutter immer mehr in Jasmins Gesellschaft aufblühte. Beide, seine Mutter und Jasmin, waren für den frühreifen Jungen die Verkörperung der idealen freien und schönen Frau, die Halt und Geborgenheit in gefährlichen Tagen spendet.

                Jasmin versprach Chris, dass sie und seine Mutter mit ihm über das Thema Rassismus und Fremdenfeindlichkeit noch ausführlich reden würden. Nicht nur in Holzminden und in seiner unmittelbaren Umgebung sei diese Problematik so wichtig und aktuell. Sie wäre es in Deutschland und der Welt ebenso. Die Zukunft der Menschheit hinge von der Behandlung dieses Themas ab, was er in Zukunft mehr und mehr verstehen würde.

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Jasmins Begegnung mit zahlreichen Jugendlichen in Uslar, die bereits mehrheitlich Nutzer des WOM waren, gestaltete sich äußerst fruchtbar. Nach einer kurzen Beschreibung des WOM und seinen Möglichkeiten für die Nutzer, ging Jasmin auf die ersten Einträge des von ihr angeregten Schreibwettbewerbes ein. Um was ging es bei diesem Wettbewerb? Er sollte unter Schülerinnen und Schülern der Oberstufen der Gymnasien und der Berufsschulen im Weserbergland ausgetragen werden. Fünf Prototypen von Menschen der deutschen Gesellschaft seien gesucht. Sie sollten möglichst in Gedichtform beschrieben werden. Weiter seien ihre Lebensziele, ihre Eigenschaften und ihr gesellschaftliches Gewicht gefragt. Nach ausführlicher Diskussion und Einigungsprozess unter den Jugendlichen in der Region würden die Ergebnisse durch den RND einem breiten Publikum in Niedersachsen vorgestellt werden. In einem nächsten Schritt könnte an einen Theaterwettbewerb gedacht werden, wobei die Personifizierungen von typischen deutschen Menschen als Hauptpersonen für ein Theaterstück dienen würden, das die Gesellschaft wie in einem Spiegel abbildet.

                Die Jugendlichen hatten allesamt ihre Smartphones und Tablets zur Hand und klickten im WOM die Seite ‚Weserbergland-Schreibwettbewerb‘ an. Zuerst wurde der ‚Mündige Bürger‘, von dem die Politiker so gerne sprechen, als ein Protagonist vorgestellt. Für die Mächtigen im Lande sind alle Bürger ‚Mündige Bürger‘ und machen in ihrer Gesamtheit den Souverän im Staate aus. Das sehen allerdings die Jugendlichen mehrheitlich anders. Dazu eine typische Beschreibung von Jugendlichen eines Hamelner Gymnasiums:

Der Mündige Bürger

Mündiger Bürger:

Du bist Subjekt,

bist kein Objekt

machtversessener Obrigkeit.

Du forderst Menschlichkeit.

Du forderst Freiheit.

Du forderst Volksentscheid.

Du bist Staat,

und Du bist Volk zugleich.

Du kennst keine Macht,

die unfrei Dich macht.

Du kennst nur den Nächsten,

Du kennst nur den Gleichen,

mit dem Du gemeinsam

kämpfst für bessere Zeiten.

Ziele des Mündigen Bürgers: Politische Freiheit, Subjektsein, Volkssouveränität erreichen. Seine Eigenschaften: Selbstbewusstsein, Zivilcourage, Empathie, Zukunftsorientierung (geschätzte 5% der deutschen Bevölkerung)

                Die meisten Uslarer Jugendlichen stimmten den Hamelnern zu. Aber es kamen auch Proteste. Besonders wurde der niedrige Prozentsatz an Mündigen Bürgern kritisiert. Jasmin forderte die Jugendlichen auf, nicht mit Kommentaren zu sparen und möglichst alternative Vorschläge zu präsentieren.

                Als nächster Prototyp wurde der Fremdenfeind beschrieben. In deutscher Nachkriegsgeschichte tauchte dieser selten offen auf der gesellschaftlichen Oberfläche auf. Seit Merkels unseliger Entscheidung der Öffnung der Grenzen für Millionen Menschen im Herbst 2015 jedoch machte sich dieser Menschentypus im Schlepptau der Flüchtlingsproblematik mit Macht an die Eroberung der politischen Einflussnahme. Das wird sich sicher in den kommenden Bundestagswahlen bemerkbar machen. Die Charakterisierung des Fremdenfeindes kam von der Berufsschule in Bad Pyrmont: 

Der Fremdenfeind

Der Fremdenfeind hat Angst vor dem Fremden.

Spricht dessen Sprache nicht.

Kennt dessen Verhalten nicht.

Der Fremde schafft Unsicherheit.

Der Fremde hat Schuld an eigenem Leid.

Warum macht er sich breit

auf dem Stück Land, das Volkes Heimat ist?

Da hat der Fremde nichts zu suchen

will sich nur mästen an Volkes Kuchen,

will Volkes Frauen, will Volkes Arbeit, will schmarotzen.

Wir werden ihm trotzen,

wenn’s Not tut mit Gewalt.

Raus aus der Heimat, aber bald!

Ziele des Fremdenfeindes: Eine Heimat ohne Fremde, ein reinrassiges Volk in nationalen geschützten Grenzen. Eigenschaften: Hat Angst vor und Hass gegenüber dem Fremden, fordert ethnische Reinheit, verteidigt aktiv die Heimat, fühlt sich dem Fremden überlegen (geschätzte 20% der deutschen Bevölkerung)

                Die Charakterisierung des Fremdenfeindes wurde allgemein akzeptiert, auch sein Gewicht innerhalb der Gesellschaft. Die Jugendlichen schätzten, dass bei der künftigen Wahl die Neue Rechte mit ihrer Fremdenfeindlichkeit und ihrem übersteigerten Nationalismus weit über zehn Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen könne. Dann kam die Reihe an den dritten Protagonisten, den Untertan. Die Beschreibung kam von einer Klasse des Holzmindener Gymnasiums:

Der Untertan

„Mensch, was hältst Du von der Wahl?

Ist es Dir egal,

die Mächt‘gen auszuwählen,

die Dich in Zukunft quälen?“

„Ich kann eh nichts machen,

ob ich wählen geh oder nicht.

Da gibt es nichts zu lachen,

bin eben ein armer Wicht.

An Gesetzen wirk‘ ich nicht mit.

Die schreiben Herren mit Schlips und Kragen,

die nie nach meiner Meinung fragen,

aber behaupten zu wissen, was gut für mich ist.

Also was soll’s?

Ich pfeif auf Stolz.

Setz mein Kreuzlein mit geschlossenen Augen.

Was schert’s mich, ob Politiker was taugen.

Will meine Ruh, ein Dach überm Kopf, ein Brot in den Mund,

und als treuen Freund einen Hund.“

Ziele des Untertans: Genug zum Essen, Dach überm Kopf, Ruhe und Sicherheit. Eigenschaften: Ergebenheit gegenüber Obrigkeit, befürwortet Aufrechterhaltung von Status quo, Weiterso und Alternativlosigkeit, hat Angst, fühlt eigene Ohnmacht und Unsicherheit (geschätzte 75% der deutschen Bevölkerung)

                Die Beschreibung des Untertans und besonders seine Gewichtung innerhalb der Gesamtbevölkerung provozierte eine rege Diskussion. Dass vier Fünftel der deutschen Bevölkerung tatenlos dem Treiben der Mächtigen im Lande zusehen und von Volkssouveränität nichts wissen wollen, rief bei einigen Jugendlichen Proteste hervor. Vor allem diejenigen, die in Jugendorganisationen der Parteien engagiert waren, wollten das nicht hinnehmen. Jasmin hakte da ein und ermutigte die Jugendlichen daran zu arbeiten, den Prozentsatz der Mündigen Bürger auf Kosten des Anteils der Untertanen zu stärken. Gerade der beginnende Wahlkampf gäbe dazu einen guten Anlass.

                Zu guter Letzt wurden die beiden Prototypen der Mächtigen im Lande charakterisiert, der Politiker und der Kapitalist. Zuerst kam der Politiker an die Reihe, der den Einflüsterungen des Kapitalisten ausgesetzt ist. Der Vorschlag der Charakterisierung kam von einer Schule aus Bad Münder:

Der Politiker

Wie beschreibt man den Menschen, der sich Politiker nennt,

der sein Leben lang um die Wette rennt,

die Gunst der Menschen zu erhalten?

Der Politiker gibt vor, den Bürger zu vertreten und zu verwalten,

und dessen Lebens-Umstände in bester Weise zu gestalten.

Allein, er dürstet nach Macht und Geld,

erschafft seine eigene, elfenbeinerne Welt.

Staatliche Pfründe versüßen das Walten

von Volkes erwählten Politiker-Gestalten.

Wie kann ein schlichter Mensch Politiker werden?

Regel eins beachten: Radfahren lernen.

Regel zwei einhalten: Koffer schleppen

auf endlosen Fluren und steilen Treppen.

Regel drei beherzigen: Anpassung ist Pflicht,

als Konformist gilt eigenes Denken nicht.

Regel vier befolgen: Opportunist sein, das ist fein,

und sei der eigene Vorteil noch so klein.

Regel fünf nachkommen: Familie und Seilschaft sind primär,

des Volkes Wille ist sekundär.

Wenn schließlich die oberste Stufe ist erklommen

und Macht und Geld hat reichlich zugenommen,

erst dann ist Gier gestillt und Glück vollkommen.

Ziele des Politikers: Macht und Geld, Zugehörigkeit zur Elite. Eigenschaften: Konformismus, Opportunismus, Treue gegenüber der eigenen  Seilschaft, soweit es opportun ist, das Ohr immer dicht am Sprachrohr des Kapitals halten.

                Es war abzusehen, dass gerade die öffentliche Wahrnehmung des Politikers vonseiten der Mehrheit der Jugendlichen die Kritik der jungen Parteianhänger herausforderte. Das war nur zu begrüßen, denn ihnen würde die Aufgabe zukommen, in Zukunft für einen anderen Typus von Politiker einzustehen. Ebenfalls rief die Charakterisierung des Kapitalisten, die aus Bodenwerder kam, bei einigen Jugendlichen Entrüstung hervor:

Der Kapitalist

Der Kapitalist ist Herr über Produktion, Konsum und Arbeit.

Unter den Menschlein weit und breit ist er ein Riese, zu allem bereit.

Er liebt das Tricksen und Börsenspiele, ist nimmersatt.

Die Steigerung des Reichtums hält ihn auf ewigem Trapp.

Wenn es sein muss, geht er über Leichen,

heile Umwelt muss vor ihm weichen.

Der Politiker ist sein Schoßhund, um Gesetze für ihn zu formulieren.

Der tumbe Untertan ist sein Werkzeug, um Profite zu maximieren.

Er verachtet den Fremdenfeind, der nicht versteht,

dass Ausbeutung brutal und global vonstattengeht.

Er fürchtet den mündigen Bürger, der ihn kontrollieren will,

kungelt mit der Gewerkschaft, auf dass der Untertan hält still,

Er droht mit Abwanderung, wenn Politiker nicht funktionieren,

und bedient sich der Lobby, um diese zu schmieren.

Selbst wenn er größten Mist baut, wird er siegen,

denn der Strom der Boni wird nie versiegen.

Ziele des Kapitalisten: Anhäufung von Kapital auf Kosten der Arbeit von vielen. Macht über Politik und Gesellschaft im Zirkel der Elite. Eigenschaften: Egoismus, Raffgier, Rücksichtslosigkeit, nach unten treten.

                Zu Ende ihrer Diskussion mit den Jugendlichen in Uslar kam das Gespräch auf die unerhörte rassistische Schmiererei an einem Wohnblock in Holzminden, die auf den farbigen Schüler eines Holzmindener Gymnasiums gemünzt war. Diese Neuigkeit hatte sich in Windeseile im WOM verbreitet und wurde hundertfach kommentiert. Jasmin nutzte die Gelegenheit vorzuschlagen, die Problematik des Rassismus an allen Schulen des Weserberglandes zum Thema zu machen. Eine solche Auseinandersetzung müsste Lehrer und auch Eltern mit einschließen. 

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                Jasmin kam müde und erschöpft aus Uslar zurück. Sie fand Regina und Chris in gedrückter Stimmung am Küchentisch sitzen. Beide hatten schon mit dem Abendbrot angefangen. Jasmin versuchte, ihren eigenen Ballast an Unsicherheit und sporadisch auftretender Depression innerlich über Bord zu werfen. Sie beugte sich zu beiden hinunter und gab ihnen ein ermunterndes Bussi.

                „Lasst uns gestärkt aus diesem traurigen Tag hervorgehen. Es ist unerträglich, was sich heute in der Stadt zugetragen hat. Aber das sind die Früchte einer Gesellschaft, die immer mehr von sogenanntem materiellen Fortschritt und Egoismus geprägt ist. Nur die angebliche Leistung zählt, und wer da nicht mitspielt oder nicht mitspielen kann, wird unerbittlich diskriminiert und landet im Extremismus, wo die einzige Selbstbehauptung im irrationalen Kampf gegen vermeintliche Feinde besteht. Der offene Angriff und Hass gegenüber Pierre hat seine Ursache in diesem dumpfen Morast von Ausgegrenzten und Frustrierten der Gesellschaft, der jeden Tag aufs Neue von unverantwortlichen Politikern und Wirtschaftsführern gespeist wird. Da wird sich nichts ändern, wenn der emanzipierte Bürger nicht selbst aufsteht. Politik und Wirtschaft funktionieren in der Geschichte immer in dem Masse, wie es der Bürger zulässt. Von selbst werden politische und wirtschaftliche Eliten nicht vom Saulus zum Paulus. Chris, es ist schmerzlich aber notwendig für Dich und Pierre, schon in Eurem Alter die Spielregeln der Gesellschaft zu begreifen. Gerade Deine Mutter mit ihrer Kandidatur und ich in dem WOM-Projekt arbeiten daran, diese Spielregeln den Bedürfnissen der breiten Mehrheit der Menschen anzupassen. Solange wir auf Politik und Wirtschaft hoffen, dass sich etwas zum Guten ändern möge, hoffen wir vergebens. Wir, d. h. Du, Pierre, Deine Mutter und ich sowie andere Menschen guten Willens müssen darangehen, Diskriminierungen in der Gesellschaft abzutragen. So werden auch die Nischen der Extremisten zunehmend ausgetrocknet. Der Mensch in seiner Grundsubstanz kann beides sein, gut oder böse. Beide Seiten sind in uns. Nur wir selbst in Gemeinschaft, mit festen Prinzipien und mit klarem Verstand können versuchen, dem Guten Übergewicht zu verschaffen. Chris, der Typ oder die Typen, die die Wandschmiererei verursacht haben, sind auf gut Deutsch gesagt ,Arme Schweine‘. Ich mag den Begriff Schwein nicht für Menschen heranziehen, aber Du weißt, wie ich das meine. Es gibt für diese Tat nichts zu beschönigen oder zu entschuldigen. Sollten der oder die Verursacher aufgespürt werden, müssen sie hart bestraft werden. Doch viel wichtiger ist jetzt unsere Reaktion darauf. Wir stehen für Menschlichkeit ein, für Liebe und Zivilcourage. Das sind alles Begriffe, die die Mächtigen im Lande nicht kennen oder vor denen sie Angst haben. Doch wir werden uns dafür einsetzen und potentiellen Nachahmern dieser Tat das Wasser abgraben bzw. ihre Argumente, die sie im stillen Kämmerlein hassgeboren erfinden, widerlegen. Wir werden sie auffordern, gleichfalls am lohnenden Kampf für Freiheit und Menschlichkeit einzutreten. Lieber Chris, ihr könnt in Eurer Klasse und Schule eine starke Gruppe bilden, die jetzt erst recht zeigt, dass Pierre zu Euch gehört und durch Rassisten nicht isoliert werden kann. Damit könnt ihr klar machen, dass Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, von Religion und Weltanschauung, von kultureller Verschiedenheit sowie von sozialem und wirtschaftlichem Status keine Chance in unserer Gesellschaft hat. Wenn Politik und Wirtschaft diese Diskriminierungen immer wieder aufs Neue befeuern, um die Gesellschaft zu spalten und sie dadurch besser beherrschen zu können, so sagen wir diesem Spiel den Kampf an. Die universale Ethik des Menschseins zwingt uns dazu. Trotz aller Verschiedenheit sind wir Menschen doch alle der ‚Eine Mensch‘, der sich nach Frieden, Freiheit und Liebe sehnt.“             

                Jasmin wollte eigentlich Regina und Chris nicht mit so einem langen Statement bombardieren. Aber es kam wie selbstverständlich aus ihr heraus, je länger sie redete. Schließlich erging es ihr wie Chris: Es war, als ob diese schändliche rassistische Tat auch ihr selbst galt. Und dem musste sie sich stellen.

                Regina und Chris schwiegen minutenlang. Was sollten sie auch sagen? Es war alles gesagt und auf den Tisch gelegt. Für Chris war dieser Tag ein bedeutender Schritt ins Erwachsenenalter. Und für Regina war es eine weitere Bestätigung der Richtigkeit und Notwendigkeit ihrer Kandidatur und ihres Kampfes für Bürger-Emanzipation, Demokratie und Menschlichkeit in der deutschen Gesellschaft. Regina kam dann auch auf die Idee, noch gemeinsam einen Schluck Rotwein zu trinken, um sich für kommende Tage zu stärken und nicht entmutigen zu lassen. So fand der Tag einen versöhnlichen Abschluss.

                Die Drei hatten keine Lust mehr auf weitere Arbeit oder auf weiteres Philosophieren, nur noch den Wunsch, friedlich und tief zu schlafen. Der morgige Tag würde ihnen viel abverlangen. Das biedere Holzminden wird nach der ‚Rassismus-Dusche‘ verwundert aufgeschreckt werden und sich die Augen reiben: Was ist aus unserer betulichen, jungfräulichen Stadt geworden? Welche verborgenen Hassgefühle und Problematiken wühlen da im Untergrund, die allenthalben geahnt, aber vor denen die Augen verschlossen wurden?

                Chris, der am meisten durch die Tagesereignisse berührt und verängstigt worden war, kam mit der Bitte heraus, mit den beiden Frauen zusammen im großen Ehebett die Nacht zu verbringen. Zu Lebzeiten seines Vaters hatte er immer zwischen Vater und Mutter Schutz gesucht, wenn er nicht mehr aus noch ein wusste. Jetzt würde er gern zwischen seiner Mutter und Jasmin einschlafen. Regina sah Jasmin fragend an. Die hatte nichts einzuwenden. Und so kam es, dass Chris wie ein Murmeltier selig zwischen den beiden Frauen einschlummerte. Seine nach beiden Seiten ausgestreckten Hände hielten jeweils eine Frauenhand, deren Wärme ihn in einen friedlichen Schlaf entführte. 

                Regina traf sich am frühen Abend in einem Café der Holzmindener Innenstadt erstmals mit Interessierten einer Unterstützergruppe für ihre Kandidatur. Etwa zehn Leute kamen zusammen. Die Hälfte bestand aus langjährigen Freunden von Regina und ihrem verstorbenen Mann, die früher der Grünen Partei nahe standen. Die andere Hälfte waren Jugendliche, die im WOM auf Reginas Initiative einer parteilosen Kandidatur aufmerksam geworden waren. Was die Interessierten anzog, war vor allem das Eintreten für Bürger-Macht  und die Möglichkeit, selbst an der Ausformulierung des Wahlprogramms teilzunehmen. Dieses sollte nicht wie bei anderen Parteien vertikal von der Spitze bis ins unterste Glied den Mitgliedern aufoktroyiert werden, sondern in horizontaler Weise von allen Interessierten gleichberechtigt besprochen und bestimmt werden. Die an Reginas Kampagne Teilnehmenden seien keine Parteisoldaten sondern freie Geister, die mit Oberbossen oder ‚Partei-Gurus‘ nichts am Hut hätten. Jede und Jeder sollte sich einbringen können, die die wesentlichen Grundziele mittragen würden, wie: Bürger-Macht über Parteien-Macht; Abschaffung von Armut und sonstiger sozialer, kultureller und weltanschaulicher Ausgrenzung; humanitäre Hilfe von Menschen in Not; Integration von Zugezogenen statt in den Arbeitsmarkt in die Bürgergesellschaft von Menschen mit gleichen Rechten und Pflichten auf der Basis einer geteilten Werte-Charta; Vorbeugung von Fluchtursachen; gerechte globale Verteilung und Nutzung natürlicher Reichtümer; Schutz und nachhaltige Pflege der Umwelt. In einer Parole zusammengefasst: Kein Krieg des Menschen gegen den Menschen, kein Krieg des Menschen gegen die Natur! Reginas Kandidatur einer Bürger-Kandidatin wäre die gemeinsame Kandidatur aller, die diese Ziele mittragen würden. Ihr eventuelles Bundestagsmandat wäre ein Mandat für ihre Wählerschaft. Reginas Parlamentsarbeit,  würde sie gewählt, wäre eine gemeinsame Anstrengung aller ihrer Wählerinnen und Wähler während der gesamten Legislaturperiode. Mit Regina würde nicht eine abgehobene Abgeordnete ins Parlament einziehen, sondern die Bürgerschaft in Person von Regina würde das Parlament zum Bürgerparlament umgestalten. Der bisherige Zuschauer des Parlamentes würde zum aktiven Mitarbeiter des Parlamentes. Die heutigen Möglichkeiten des Internets würde eine direkte Beteiligung der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten auch auf Bundesebene zustande bringen können. 

                Reginas Vorstellungen von direkter Demokratie und Souveränität des Bürgers wurden von allen im Prinzip begeistert aufgenommen und geteilt, doch waren sich die Anwesenden bewusst, dass viele Fragen geklärt werden müssten. Aber gerade das war das Spannende an der Bürger-Emanzipations-Bewegung, dass alles im Fluss war und sich Jede und Jeder nach Fähigkeit und gutem Willen einbringen könnte. Es wurde ausgemacht, die politischen Grundziele zu vervielfältigen und damit zu beginnen, auf vom Wahlleiter ausgehändigten Formularen Unterschriften für Reginas Kandidatur im Freundeskreis zu sammeln. Zusätzlich fasste die Gruppe den Entschluss, sich jede Woche einmal zu treffen und für die kommenden Markttage in Holzminden einen Stand zu beantragen, um für die Bürger-Kandidatur von Regina zu werben.

                Abschließend waren sich die Teilnehmer des Treffens einig, die sich im Laufe des Tages abzeichnende Solidaritätsbewegung für Pierre und für ein nicht-rassistisches Holzminden tatkräftig zu unterstützen. Pierre und seine Mutter sollten zum nächsten Treffen in einer Woche eingeladen werden. 

 

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