17 Okt 2018

Die kranke deutsche Demokratie - 11. Folge

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie - 11. Folge

Fiktion: Die Schildbuerger von Bad Muender, Erwachsen-Werden

Foto: Wikimedia Commons, Bad Muender, Merian Stich von 1654

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Jasmin übernachtete immer bei Regina, wenn sie in der Nähe Holzmindens zu tun hatte. Dann stellte sie ihren Wagen in der Garage ab, um der Aufmerksamkeit von Neugierigen zu entgehen. Niemand sollte von der engen Freundschaft der beiden Frauen Kenntnis nehmen. Anfang Mai hatte Regina längst ihre 200 Unterstützer-Unterschriften zusammen, die sie als Parteilose brauchte, um auf den Wahlzettel zu kommen. Bürgerkomitees, die ihre partei-unabhängige Kandidatur unterstützten, hatten sich in allen größeren Orten des Wahlkreises gebildet. Das war ausschließlich auf ihre Präsenz im WOM zurückzuführen, wo sie einen lebhaften politischen Meinungsaustausch mit Hunderten von Followern führte, um gemeinsam mit diesen ihre politischen Ziele zu konkretisieren. Die Ziele bezogen sich auf folgende wichtigste Punkte: Ausübung direkter Bürger-Macht, ausreichendes Grundeinkommen für Menschen im Niedriglohnsektor, Integration von Flüchtlingen in die Gesellschaft statt nur in den Arbeitsmarkt, bürgerbestimmtes statt bürokratenbestimmtes Europa, vorbeugende Friedenspolitik und nachhaltige Entwicklung im Weserbergland und der übrigen Welt. Die Beziehung zwischen Jasmin und Regina war inzwischen immer enger geworden. Ihr Verhältnis mit Thomas und Helmut hatte sie auf rein freundschaftliche Basis gestellt.

                An einem schönen Abend Anfang Mai kam Jasmin noch aus Bad Münder nach Holzminden zurück. Eigentlich hatte sie die Übernachtung in Hameln geplant. Aber der Tag in Bad Münder war so erlebnisreich, dass sie beschloss, die Neuigkeiten mit Regina und Chris zu teilen und in Holzminden zu übernachten. Gegen sechs Uhr abends traf sie in Holzminden ein. Chris war gerade von sportlichen Aktivitäten aus der Schule zurückgekommen. Regina würde heute erst gegen acht Uhr abends eintreffen, da sie noch bei ihrem Bürgerkomitee in Bad Pyrmont war.

                Chris und Jasmin machten sich einen heißen Kräutertee mit Honig und setzten sich ins Wohnzimmer. Chris hatte in letzter Zeit wohl bemerkt, dass seine Mutter und Jasmin ein besonderes Verhältnis zueinander entwickelt hatten. Immer, wenn Jasmin im Hause war, war beiden Frauen ein stilles Lächeln ins Gesicht geschrieben. Oft ertappte Chris die beiden, wenn sie sich zärtlich berührten, sei es beim Begrüßen oder Abschiednehmen oder bei ihren zwanglosen Begegnungen im Hause. Etwas lief bei beiden Frauen, das Chris als gegenseitiges Verliebtsein deutete. Einen solchen zärtlichen Austausch hatte er nicht zwischen seinem Vater und der Mutter erlebt, obwohl auch deren Umgang miteinander von Gernhaben, oder besser gesagt von guten gegenseitigen Gefühlen geprägt schien. Chris selbst war von Jasmin mehr und mehr verzaubert. Es gab Nächte, in denen er von der Freundin seiner Mutter träumte und in Schweiß gebadet aufwachte. Inzwischen war der Körpergeruch Jasmins, den er immer bei ihren Begrüßungen suchte, für ihn wie eine Droge. Der heranwachsende junge Mann befand sich in seiner Phantasie inmitten eines erotischen Spiels zwischen seiner Mutter und ihrer Freundin, das ihn selbst im Klassenzimmer überfiel. Nicht selten überraschten ihn seine Lehrer und seine Klassenkameraden in träumerischer Abwesenheit, wenn sie etwas von ihm wissen wollten.  

                „Jasmin, darf ich Dich etwas fragen,“ begann Chris verlegen. Sie saßen auf dem Sofa und hielten ihre Tasse Tee mit beiden Händen umschlossen, als ob sie diese wärmen müssten. „Chris, natürlich, was hast Du auf dem Herzen?“

                Chris errötete und musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um Jasmin das zu fragen, was ihm schon einige Zeit den Kopf verwirrte. „Jasmin, bist Du in meine Mutter verliebt?“

                Jasmin erschrak. Jetzt bekam auch sie einen roten Kopf. Was sollte sie Chris antworten? Ihr war sehr wohl bewusst, dass Chris auch ihre Nähe suchte, wann immer sie im Hause war. Seine Anwesenheit tat ihr gut und gab ihr das Gefühl von häuslicher Gemeinschaft und Geborgenheit. Sie hatte sich ebenso gefragt, wie sie zu Chris stand. War er wie ein kleiner Bruder für sie, für den sie auch mitverantwortlich war? Sie ahnte wohl, dass Chris in seinem pubertären Alter von erotischen Phantasien geschüttelt wurde. Das merkte sie an seinen Umarmungen, wenn sich beide begrüßten, und er sich kaum von ihr lösen konnte. Sie betrachtete das als vorübergehendes Stadium in seiner Jugend und hielt es nicht für nötig, mit Regina darüber zu sprechen.

                Jasmin stellte ihre und Chris‘ Tasse auf dem Sofatisch ab und erlaubte dem Jungen, seinen Kopf in ihren Schoss zu legen. Das war fast zu einem Ritual für beide geworden, wenn sie allein waren und etwas Schwerwiegendes zu besprechen hatten. „Chris, ich muss Dir gestehen, dass ich in Deine Mutter verliebt bin. Seit einiger Zeit haben wir beide ein immer stärker werdendes Gefühl füreinander entwickelt. Wir können uns dagegen nicht wehren, es kommt wie von selbst. Für uns beide ist dieses Aufeinanderzugehen etwas ganz Neues. Deine Mutter wie ich auch hatten vorher Liebeserlebnisse mit Männern. Du selbst kennst ihre Liebe zu Deinem Vater. Ich habe einen guten Freund in Münster. Weder Deine Mutter noch ich wollten, dass Du etwas von unserer Beziehung erfährst. Es sollte ein Geheimnis bleiben. Du kannst Dir sicher vorstellen, welchen Skandal es erwecken würde, wenn gerade in diesen Wahlkampfzeiten unser Verhältnis an die Öffentlichkeit käme. Ich kann Dir nur sagen, dass meine Gefühle für Deine Mutter so intensiv sind, wie ich das vorher bei meinem Freund nicht erlebt hatte. Ein zärtliches Einverständnis hat uns zusammengeführt. Das ist es vielleicht, was unsere lesbische Liebe ausmacht. Vorher kannte ich nur lusterregende gewaltvolle Einverständnisse. Das wirst Du jetzt noch nicht verstehen. Aber früher oder später hast Du Deine eigenen Liebes-Erfahrungen und wirst Dich daran erinnern, was ich Dir sagte. “

                Bei diesen offenen Worten erschrak Jasmin über sich selbst. Aber es war auch befreiend, sich der Zuneigung zu Regina bewusst zu stellen. Denn sicher war es Liebe, was sie gegenüber der Freundin empfand. Am Anfang hatten sie und Regina erwartungsvolle Freude an ihrem sexuellen Austausch gefunden und sich selbst in ihrer lesbischen Lust entdeckt. Aber mit der Zeit wurde das Bedürfnis des Gebens und der Neugierde, die Andere in ihrem Innersten kennenzulernen immer überwältigender. Regina und sie hatten sich ohne Scheu vorsichtig tastend auf eine unbekannte Reise der gegenseitigen Suche begeben, die sie nur mit Mühe vor Chris verbergen konnten.

                Chris spürte auf seinem warmen Ruheplatz in Jasmins Schoss ihren Herzschlag und ließ sich von ihrer Ausstrahlung in eine betörende Phantasiewelt entführen. Während Jasmin seinen Kopf streichelte, umfasste er die verheißungsvollen Hüften dieser für ihn reifen Frau, deren Anziehung er sich seit ihrer Ankunft im Hause nicht entziehen konnte. Seiner Mutter war es mit Jasmin sicher ebenso ergangen.

                „Jasmin, ich glaube, meine Mutter liebt Dich. So habe ich sie noch nie vorher erlebt. Sie scheint ganz von Dir eingenommen zu sein, nicht nur, wenn Du im Hause bist. Ich bin genauso froh, Dich kennengelernt zu haben. Wir sind eine richtige kleine Familie geworden, die ich vermisst hatte, seitdem mein Vater von uns gegangen war. Du musst wissen, dass ich Dich auch ganz lieb habe. Wenn Du und Mami sich so gern haben, warum schlaft Ihr dann nicht zusammen? Ich hätte gar nichts dagegen, im Gegenteil. Und wenn Ihr beide mich dann ab und zu in das gemeinsame Bett lassen würdet, so wie es am Abend des Tages geschah, als Pierre rassistisch angegriffen worden war, dann hätte ich noch weniger dagegen. Jasmin, Du bist eine Klasse Frau. Wenn ich schon erwachsen wäre, würde ich um Dich kämpfen.“

                Jasmin brach in Lachen aus. „Mein lieber Chris, auch ich habe Dich ganz lieb. Du bist wie ein jüngerer Bruder für mich, den ich mir immer gewünscht hatte. Wenn Du schon das Geheimnis von Deiner Mutter und mir kennst, dann brauchen wir uns nicht mehr vor Dir zu verstecken und können die Nächte gemeinsam verbringen. Deine Mutter und ich hatten uns schon lange gewünscht, zusammen zu schlafen. Sicher wird sie nichts dagegen haben, dass Du, wann immer Du Schutz brauchst, zu uns ins Bett gekrochen kommst.“

                Chris richtete sich auf, umarmte Jasmin und gab ihr einen schüchternen Kuss auf den Mund. „Gut, von jetzt ab sind wir eine Familie. Wir beide überraschen meine Mutter mit dieser Neuigkeit, wenn sie nachhause kommt. Ich weiß jetzt schon, wie sie sich freuen wird. Und von heute Nacht an braucht Ihr Euer Zusammensein im Hause nicht mehr vor mir zu verbergen. Ich werde Euer beider Sohn und auch Dein Bruder sein. Und außer uns Dreien wird niemand etwas von unserer neuen Familie erfahren, das verspreche ich Dir.“ 

                Als Regina nach Hause kam, war der Abendbrottisch gedeckt und mit Kerzen dekoriert. Eine Flasche argentinischer Rotwein wartete darauf, entkorkt zu werden. Regina war aus dem Häuschen. Sie hatte Jasmin erst wieder am Wochenende erwartet. Bei der Begrüßung gingen Chris und Jasmin auf Regina zu und umarmten sie. Jasmin gab ihr ungeniert einen herzlichen Kuss auf den Mund und sagte: „Regina, es ist raus. Chris weiß, dass wir beide ineinander verliebt sind. Er hat mich unverblümt danach gefragt, und ich konnte und wollte ihn nicht belügen. Bist Du jetzt böse auf uns?“ 

                „Natürlich bin ich nicht böse auf Euch,“ entgegnete Regina. „Im Gegenteil bin ich erleichtert, dass Chris jetzt weiß, was zwischen uns los ist, und dass er nichts dagegen hat.“ Daraufhin drückte Regina ihren Sohn fest an sich.

                „Mami, jetzt sind wir wieder eine Familie. Ich freue mich, wenn Du von jetzt an mit Jasmin in einem Bett schläfst und es kein Versteckspiel mehr zwischen uns gibt. Ich habe Jasmin ebenso lieb, wie Du Dir denken kannst. Sie ist meine ältere Schwester und meine Freundin.“        

                Auf die neue Familie musste angestoßen werden. Chris bestand darauf, dass beide Frauen sich vor ihm einen richtigen Kuss gaben und damit ihren Zusammenhalt feierlich besiegelten, was sie dann auch freudig taten. Eine Last schien von beiden abgefallen zu sein.

                Der Abend sollte für alle Drei lang werden. Regina und Jasmin wollten über die Geschehnisse des Tages erzählen. Chris, der zusammen mit Pierre und dessen Mutter im Holzmindener Bürgerkomitee zur Unterstützung der Kandidatur seiner Mutter mitarbeitete, hatte Morgen keine Schule und hörte den Berichten zu.

                Regina hatte jetzt Bürgerkomitees in den größten Gemeinden des Wahlkreises auf die Beine gestellt, die sich jede Woche einmal trafen und im WOM ihre Aktivitäten absprachen. Durchschnittlich waren die etwa fünfzehn Mitglieder der Komitees zwischen 15 und 35 Jahre alt und überwiegend Schülerinnen, Schüler und Lehrlinge. Unter den Älteren befanden sich Arbeitslose und HartzIVler, die ihren Job verloren hatten. Mit den Parolen „Regina in den Bundestag“ und „Bürger statt Parteisoldaten ans Steuer“ begannen diese Komitees regelmäßig die Wochenmärkte in ihren Gemeinden zu besuchen und für Regina zu werben. Dabei verteilten sie Flugblätter mit den wichtigsten Parolen und forderten die Vorbeigehenden auf, an der Wahlkampagne mitzuwirken und sich an der Ausformulierung der Wahlziele im Einzelnen zu beteiligen. Viele Menschen waren durch ihr Surfen im WOM, in dem sich bereits mehr als zehntausend Nutzer aus dem ganzen Weserbergland angemeldet hatten, auf Regina aufmerksam und neugierig geworden. Die hiesige Presse und das lokale Radio erwähnten sie bisher nicht. Offensichtlich zeitigte der Druck auf die Medien vonseiten der Konservativen und Sozis gehörige Wirkung. Die beiden politischen Platzhirsche im Wahlkreis waren überhaupt nicht daran interessiert, dass Programm und Aktivitäten der parteilosen Bürger-Kandidatin den Wählerinnen und Wählern vor der heißen Wahlkampfphase, ab Ende der Sommerferien, bekannt würden. Herr Jäger schnaufte wütend in so mancher Versammlung, dass einzig dieses verdammte WOM Schuld hätte an der entstehenden öffentlichen Debatte über Mehr Demokratie und Bürger-Macht, und dass damit die Absicht der etablierten Parteien unterlaufen würde, die parteilose Kandidatin totzuschweigen.

                Heute am Nachmittag hatte sich das Bürgerkomitee in Bad Pyrmont konstituiert. Viele junge Frauen und Männer wollten begeistert mitmachen. Es ging in erster Linie um ihre Zukunft, und die wollten sie aktiv mitgestalten. Die Altparteien, wie die Neue Rechte die Bundestagsparteien nannten, verwalteten das Weiterso und kamen nur zu Wahlkampfzeiten aus ihren Löchern, um politischen Reibach zu machen. Ihnen ging es hauptsächlich darum, politische Macht und Pöstchen für weitere vier Jahre zu sichern. Um das zu garantieren, müssten die einfachen Parteimitglieder rechtzeitig mobilisiert werden. Es ginge darum, Wahlplakate bei Nacht und Nebel aufzustellen, Faltblätter zu verteilen und so manches Parteifest mit Currywurst und Bier zu organisieren. Die Parteikassen sind gut gefüllt dank des Finanzministers, der zu Wahlzeiten seine Knauserigkeit regelmäßig über Bord schmeißt. Das deutsche parlamentarische System, das mit direkter Demokratie des Bürgers aber auch gar nichts am Hut hat, muss für weitere vier Jahre auf Teufel komm raus am Leben gehalten werden. Dafür wollten sich die Mitglieder im neuen Bürgerkomitee nicht länger hergeben. Die Neue Rechte, die auch gegen das gegenwärtige System anwettert und behauptet, die Interessen des deutschen Bürgers gegen den Ansturm von Musels und Negern zu verteidigen, ist vielleicht der schwierigste politische Gegner im Weserbergland, meinte Regina. Bisher sind die Parteistrukturen der Neuen Rechten und ihre führenden Köpfe kaum sichtbar in der Region. Dafür sind ihre Mitglieder umso präsenter in Online-Medien wie facebook und twitter sowie in den Kommentarspalten anderer Online-Plattformen, wo sie ihren Fremdenhass mit Genuss aber auch mit Wut im Bauch auszutoben pflegen. Im WOM bekommen sie jedoch kaum ein Bein auf die Erde, da Ralf und jetzt auch zwei Volontäre sowie die Masse der Nutzer ihnen dort den Garaus machen.

                Das Pyrmonter Komitee hat vor, noch im Juni vor den Sommerferien eine offene Versammlung für alle Bürgerinnen und Bürger zu veranstalten, auf der die bisherigen Ergebnisse des gemeinsam erarbeiteten Wahlprogramms vorgestellt werden sollen. Die Mitglieder hatten die Idee, dazu Jasmin als Journalistin einzuladen, um über die Versammlung einen ausführlichen Artikel zu schreiben.

                Regina schloss ihre Erzählung mit einem eigenartigen Vorfall ab. „In der Versammlung hielt sich bis kurz vor Schluss ein etwa fünfzig Jahre alter Mann auf, der sich nur einmal zu Wort meldete. Es ging um den rechten Umgang mit der Integration von Flüchtlingen. Nach verschiedenen Vorschlägen stand er plötzlich wutentbrannt auf und sagte, der einzige Umgang mit Flüchtlingen sei ihre sofortige Abschiebung. Sie sollten nicht länger auf Kosten der deutschen Steuerzahler durchgefüttert werden. Die deutschen Gutmenschen und die Kanzlerin würden die schöne Heimat den Musels und Negern ausliefern. Diese Aussage rief bei allen Anwesenden lauten Protest hervor und der Typ wurde sofort aus der Versammlung ausgeschlossen. Auf der Anwesenheitsliste hatte er sich nicht eingetragen. Aber es war klar, dass er zumindest Sympathisant der Neuen Rechten ist. Vielleicht war er absichtlich als Provokateur geschickt worden oder um herauszufinden, wie sich meine parteilose Kandidatur entwickelt.“

                Jasmin hatte in Bad Münder ebenfalls einem Geschehnis beigewohnt, das allseits für helle Aufregung sorgte. Die dortige Kooperative Gesamtschule, die nur bis zur zehnten Klasse geht, hatte zu einem feierlichen Integrationstag eingeladen, der die kulturellen Manifestationen der in der Stadt vorhandenen verschiedenen Kulturen der Öffentlichkeit vorstellen wollte. Lokale Medien, Politiker, Betriebe und Bürgerinnen und Bürger allgemein waren zahlreich erschienen. Frauen bereiteten exotische Malzeiten vor, Männer musizierten und Kinder zeigten ihre Künste. Der Höhepunkt des Tages war ein Sketch, den die zehnte Klasse aufführte. Er nannte sich die Schildbürger von Bad Münder und nahm in ironischer Form die Archetypen der Stadt aufs Korn. Der Sketch stand auch in Zusammenhang mit dem Schreibwettbewerb im WOM, den Jasmin initiiert hatte. Die Aufführung löste bei den Honoratioren der Stadt helle Empörung und Irritation aus. Auch wenn der Sketch eine Persiflage sein sollte, so konnte an ihm unzweifelhaft abgelesen werden, was in den Köpfen der Jugendlichen vor sich ging. Allein die älteren Schülerinnen und Schüler klatschten begeistert Beifall. Der Integrationstag endete in einem ziemlichen Durcheinander. Die Honoratioren suchten alsbald das Weite. Das Lehrpersonal hatte Mühe, das Chaos zu entflechten. Es lagen Fotokopien des Sketches für Interessierte aus. Als Autoren zeichneten sich schlicht Schüler der Gesamtschule für den Sketch verantwortlich. Jasmin und einige andere Interessierte steckten sich Fotokopien ein. Gottseidank waren die Flüchtlinge bereits mit ihren Kindern vor Beginn des Sketches am Abend nach Hause gegangen.

                „Ich habe mich nach dem Sketch unmittelbar entschieden, noch nach Holzminden zu fahren,“ sagte Jasmin und machte eine kleine Pause, um einen Schluck Wein zu sich zu nehmen. Dann fuhr sie fort: „Der Sketch ist von Jugendlichen aufgeführt worden, die in Deinem Bürgerkomitee mitarbeiten, Regina. Sie haben alle an dem Schreibwettbewerb im WOM teilgenommen. Hier habt Ihr beide eine Kopie. Chris, da kannst Du sehen, was Deine Alterskameraden in Bad Münder auf die Beine gestellt haben. Vielleicht haben sie auch Schützenhilfe von münderschen Oberstufenschülern bekommen, die in Hameln zur Schule gehen.“          

Die Schildbürger von Bad Münder

(Sketch)

In der Aula der Kooperativen Gesamtschule von Bad Münder am Deister, eine Schule, die nur die Mittelstufe unterrichtet, treffen sich fünf Schildbürger zu ihrer wöchentlichen Sitzung, um über das Schicksal der Stadt nachzudenken. Erstmals ist Öffentlichkeit zugelassen, um den Schildbürgern bei ihrem Bemühen zuzuhören und zuzusehen. Diese ehrenhaften und verdienten Bürger der Stadt sind der Kapitalist, der Politiker, der Untertan, der Fremdenfeind und die Mündige Bürgerin.

Der Politiker erhebt sich von seinem Sitz und begrüßt die zuschauenden Bürgerinnen und Bürger.

Politiker:

Liebe Bürgerinnen und Bürger unserer schönen Badestadt im Deister-Sünteltal. Ab heute werden wir die Sitzungen unseres repräsentativen Stadtkomitees nicht länger heimlich abhalten. Auch wir in Bad Münder sind von jetzt an auf dem demokratischen Transparenz-Trip. Wie sie alle wissen, haben wir das Stadtkomitee eingerichtet, um endlich Schwung in den Münderschen Laden zu bringen. Der Stadtrat kommt wegen nie-endender Parteiklüngelei einfach nicht zu Potte. Unsere kleine aber feine Gruppe der klügsten Köpfe der Stadt wird aus unserer Gemeinde eine blühende machen, in der sich Heimat so richtig genießen lässt, frei nach den Mottos unseres großen Ex-Kanzlers und der ewigen Kanzlerin: ‚Ein Bad Münder im blühenden Deister-Sünteltal, in dem sich nach Herzenslust leben lässt.‘ Und nicht zu vergessen die verheißungsvollen Worte unseres geschätzten Sozi-Kanzlerkandidaten: ‚Mehr soziale Gerechtigkeit! Auch die Armen in Bad Münder sollen was zu futtern haben. Dafür haben wir ihnen die Tafel eingerichtet.‘

So, jetzt habe ich genug geredet. Die Sitzung ist eröffnet. Kapitalist, Sie haben das Wort.

Kapitalist:

Danke, Politiker, dass Sie mir das Wort erteilen. Ich wollte es gerade selbst ergreifen. Nichts gegen Ihre salbungsvollen Worte, aber wir müssen zur Sache kommen. Wie wir alle wissen, steht es um das Wohl unserer geliebten Stadt auf gut Deutsch gesagt sau-schlecht. Mit Verlaub, Politiker, das ist auch ihr Verdienst. Hätten Sie mehr auf mich gehört, sähe es ganz anders aus in der Stadt. Ich werde meine bisherige Zurückhaltung aufgeben. Die Ärmel der Stadtverwaltung gehören aufgekrempelt und die Bürgerinnen und Bürger müssen endlich ihren Hintern hochbekommen. Wenn das nicht geschieht, ziehe ich mein Kapital aus der Stadt ab und investiere da, wo ich mehr Knete machen kann. Dann könnt Ihr alle dahin gehen, wo der Pfeffer wächst. Nix da mehr mit dem hohlen Geschwätz von blühendem Deister-Sünteltal! Kapital und Arbeit wird es in Bad Münder nicht länger geben. 

Politiker:

Schnauft, holt tief Luft.

Kapitalist, die miese Situation der Stadt ist nicht nur meine Schuld. Untertan, machen Sie nicht so ein unschuldiges Gesicht. Wären Sie auf Draht, würde es hier anders aussehen. Sie vertreten doch die Masse der Münderaner hier. Wer zählt eigentlich zu Ihrer Spezies?

Untertan:

Einigermassen empört

Ich vertrete tatsächlich die überwiegende Mehrheit der Menschen hier in der Stadt, da haben sie ausnahmsweise mal Recht. Wir Untertanen sind es doch, die die Steuern zahlen, von denen Sie leben. Wir sind es doch, die den Mund halten, damit sie als Politiker in Ruhe Ihrer Arbeit nachgehen können. Wir sind es doch, die Ihr Weiterso mit Kräften unterstützen, damit sie auf keine neuen Ideen kommen, die sie eh nicht haben. Wir sind es doch, die jeden Tag dem Kapitalisten in den Arsch kriechen, damit der seinen Reibach machen kann. Wir sind es doch, die die Gärten der Einfamilienhäuser so schmuck instand halten und dem Fremdenfeind zu seinem losen Maul verhelfen. Gäbe es uns nicht, sähe es im Deister-Sünteltal ganz anders aus. Sie Politiker wären nicht an der Macht. Sie Kapitalist wären längst in Ballungszentren abgerauscht. Sie Fremdenfeind wären von mündigen Bürgern längst aus der Heimat vertrieben. Gebt doch endlich zu, dass ich es bin, zusammen mit meinen Untertan-Genossen, die die Bude hier am Laufen halten.

Fremdenfeind:

Energisch:

Also, ich sehe das komplett anders und mit mir bestimmt ein Fünftel der Bürgerinnen und Bürger. Die wahren Deister-Süntel-Verteidiger sind wir. Würden wir Musels und Neger dahin schicken, von wo aus sie sich auf den Weg in unsere soziale Hängematte gemacht haben, sähe es in der Heimat besser aus. Der Kapitalist brauchte keine Dolmetscher anstellen, der Politiker könnte länger schlafen, anstatt sich um Merkels Kulturbereicherer zu kümmern. Der Untertan brauchte kein Pfefferspray zu seiner Verteidigung zu kaufen. Und Sie, liebe Mündige Bürgerin, könnten Ihr Jogging in sexy Kleidung gefahrlos absolvieren, ohne auf Messerstecher achten zu müssen. Unsere Heimat ist aus den Fugen geraten. Der ewigen Kanzlerin sei Dank!

Mündige Bürgerin:

Jetzt lassen wir mal unsere Polemik in den eigenen vier Wänden. Die Bürgerschaft erwartet von uns, dass wir Zukunftsaufgaben anpacken. Wir sollten nicht versuchen, Frau Merkels nicht vorhandene Dynamik und ihr ewiges Weiterso zu kopieren. Mit dieser Haltung würden wir garantiert noch mehr baden gehen, als es ohnehin der Fall ist. Seien wir ehrlich, Bad Münder mit seinen 18Tausend Einwohnern müsste doch eine Oberstufe haben, ebenfalls eine Berufsschule. Und in Hameln geben sich der OB und die Industrie- und Handelskammer damit zufrieden, dass es keine Uni gibt. Dafür fließt beim Abi das Bier in Strömen, bevor die jungen Leute den endgültigen Abgang aus dem Weserbergland machen. Ich möchte vorschlagen, wir denken uns ein Zukunftsprojekt für Bad Münder aus, das geeignet ist, unseren Kindern und Enkelkinder eine Zukunftsperspektive zu geben. Ich vertrete zwar nur ein kleine Zahl von Bürgerinnen und Bürgern, die wahrhaftig nachdenken und sich den Mund nicht verbieten lassen, aber wir fühlen uns verantwortlich für alle Menschen in Stadt und Land, Einheimische wie Zugezogene.

Kapitalist:

Begeistert

Dem Vorschlag, über die Zukunft nachzudenken, stimme ich vorbehaltlos zu. Fangen wir mal an mit dem alten Kurhotel. Dieses total vergammelte Gebäude in strategischer Lage am Kurpark kann in Zukunft für die Stadt eine Goldgrube sein. Da würde ich glatt mein Kapital einsetzen. Wir sollten dort einen Puff mit angeschlossenem Motel und Spa einrichten. Zusätzlich eine Spielhölle mit Bowlingbahn erbauen. Die Klientel würde aus Hameln, dem Umland und selbst aus Hannover anrauschen, um in anonymer Umgebung den Stress des heutigen Berufslebens abzuschütteln. Das sexuelle Vergnügen wird mit Spielsucht, anschließender Belustigung im Kurpark sowie Genuss von Gesundheitswässerchen kombiniert. Das bringt jede Menge feste Stellen und zahlungskräftige Touristen in die Stadt. Eine Luxussteuer auf die lustbringenden Aktivitäten würde der Gemeinde zusätzliche Steuereinnahmen verschaffen. Ich könnte mir auch vorstellen, die Stadt würde sich in Zukunft zu einem zweiten St. Pauli oder Las Vegas mosern. Habe ich Recht Politiker? Für Flüchtlinge ist ein solches Projekt besonders attraktiv. Das setzt keine zusätzliche Berufsausbildung und nur rudimentäre Sprachkenntnisse voraus. Die Männer könnten billig als Wach-Personal beim Parken eingesetzt werden. Dann allerdings mit Pistole und nicht mit Klappmesser. Die Musliminnen sind im Motel zu gebrauchen, um die Zimmer auf Zack zu halten. Das hält die Kosten niedrig, und allen wäre gedient. Es wäre ein echtes Win-win-Projekt, bei dem alle Beteiligten gewinnen. Politiker, das wäre doch echt mal eine Aufgabe für Sie. Mit so einem Projekt können Sie ihre Laufbahn krönen und ihre Anstellung schon bis zur Pensionierung planen.

Politiker:

Angefressen

Kapitalist, sie wissen doch, wie ich mich seit eh und je um die Belange der Bürgerinnen und Bürger einsetze, vor allem auch um die der Kleinkinder. In der vergangenen Woche habe ich im Planschbecken des Rohmel-Bades eine neue Rutschbahn eingeweiht. Es gab auch Eierlaufen und Sackhüpfen. Selbst die Flüchtlingskinder waren mit Begeisterung dabei. Aber auch die Autofahrer haben von meinem Einsatz profitiert. An einigen Stellen auf der Bahnhofstrasse wurden die schlimmsten Schlaglöcher geflickt. Die Jugend wird im Schwimmbad im Sommer ein Bierfest im Bikini und Badehose veranstalten können. Wenn der Oberbürgermeister von Hameln zwölf Bierfeste im Jahr und sechs Pflasterfeste für die Jugend veranstalten will, dann werden wir von Bad Münder aus extra Busverbindungen einrichten. Für ausreichend Fun wird jedenfalls gesorgt. Auch der zukünftige Sandstrand in Hameln an der Weser, das großartige Zukunftsprojekt 2030 der Rattenfängerstadt, wird von Bad Münder aus mit dem Fahrrad zu erreichen sein. Das hat mir der OB versprochen. Kapitalist, ihr Vorschlag eines Edel-Puffs in Ehren, aber meine Aktivitäten sind ebenfalls nicht von Pappe. Die neueste Verbesserung des Bürger-Feeling wurde durch erhöhte Disziplin bei der Tafel und dem Umsonstladen erreicht. Deutsche und ausländische Nutzer drängeln sich nicht mehr vor. Nur auf ausdrückliches Kommando hin werden sie jetzt eingelassen. Dafür habe ich persönlich mit den Ehrenamtlichen geübt.  

Untertan:

Der Vorschlag eines Vergnügungsviertels am Kurpark klingt nicht schlecht. Wenn das Geld und Arbeit bringt, warum nicht? Ich brauche das zwar nicht; habe eine Grillecke im Garten eingerichtet, in dem auch genügend Auslauf für den Hund ist, damit er nicht den Kurpark voll scheißt. Auch die Wochenendfeste sind nichts für mich. Meine Frau und ich ziehen uns lieber einen Jägermeister rein und gucken Bundesliga. Außerdem besuchen wir einmal in der Woche den Wochenmarkt und setzen uns beim Italiener rein. Der Verbrauchermarkt hat zwar die kleinen Geschäfte kaputtgemacht, aber man geht halt mit der Zeit. Dank Dir auch Politiker, wie Du Dich für Kinder einsetzt. Das Sackhüpfen und Eierlaufen fördert die Geschicklichkeit. Und die Integration der Flüchtlinge scheint ja jetzt zu klappen.

Fremdenfeind:

Von meiner Seite zwei Vorschläge. Erster Vorschlag: Raus mit den Musels und Negern aus Bad Münder. Wir sollten die erste flüchtlingsfreie Stadt Deutschlands werden. Allein das würde schon massenhaft Kapital in die Stadt bringen. Stellt Euch nur einmal vor, am Deisterbahnhof stünde: Bad Münder am Deister, flüchtlingsfrei! Wir könnten uns vor deutschen Zuzüglern gar nicht retten. Zweiter Vorschlag: In der Übergangszeit der Säuberung unserer Heimatregion musst Du Politiker eine Vorschrift erlassen, dass eine Ansammlung von zwei und mehr handy-ausgerüsteten Flüchtlingen als strafbare Zusammenrottung gilt. Zuwiderhandeln wird umgehend gemeldet und den zuständigen Behörden wird die sofortige Abschiebung empfohlen. Ich würde freiwillig jeden Nachmittag in der Nähe des Kurparks lauern, um bei erstbester Gelegenheit die Polizei zu benachrichtigen.

Mündige Bürgerin:

Es tut mir in der Seele weh, Eure Meinungen und Absichten zur Zukunft meiner Heimatstadt Bad Münder zu erfahren. Gottseidank hatten die Flüchtlingskinder mit ihren Eltern die Schule bereits verlassen, bevor wir die Sitzung begannen. Also, wenn Ihr die Elite der Stadt repräsentiert, dann ‚Gute Nacht, Marie!‘ Dann muss ich mir überlegen, ob ich mit meiner Familie hier auf Dauer meine Heimat bauen kann. Das hatten sich offensichtlich schon andere Münderaner überlegt, die aus der Stadt fortgezogen sind. Zukunft sieht m. E. jedenfalls anders aus. Sie ist vor allem kein verdammtes Weiterso mit Infrastrukturen, die reihenweise verkommen. Auf Schritt und Tritt sieht man, was hier morsch und baufällig ist. Die schwarze Null unseres schwäbischen Finanzministers schlägt unbarmherzig zu. Und der Bürger Bad Münders lässt das geduldig wie ein Opferlamm über sich ergehen und zuckt mit den Schultern. Noch gibt es das italienische Café, den Wochenmarkt und das Schwimmbad mit kaputtem Hallenbad. Noch gibt es für die Häuslebauer nach dem Krieg das Eigenheim mit Garten. Aber die Kinder sind nicht mehr da. Sind anderswo. Dafür gibt es viele Alte und Pflegeheime. Die Betriebe machen dicht und neue siedeln sich nicht an. Für die Schulabgänger heißt es jedes Jahr aufs Neue: „Tschüss, es war eine schöne Zeit, aber jetzt ist Sense.“ Die Stadt atmet Mittelmäßigkeit, miefiges Parteien- und Seilschaften-Gezänk, Ideenlosigkeit, fehlende Zivilcourage und Mitläufertum ohne Ende. Integration von Flüchtlingen bedeutet billig für Deutsche arbeiten aber nicht mit Deutschen unter einem Dach leben. Ich muss sagen, die Sitzung unseres elitären Stadtkomitees war interessant. Mal sehen, wie es in einer Woche weitergeht. Gut, dass jetzt alle Einwohner die Möglichkeit haben, uns zuzuhören, zuzusehen und sich über uns eine Meinung zu bilden. Wie lange halten sie es aus, bis sie uns den Garaus machen?

Politiker:

abschließend:

Mündige Bürgerin, Sie dürfen alles nicht so schwarz sehen. Auch wenn Schwarz die Lieblingsfarbe unseres Finanzministers ist und er bei Rot echt Rot sieht. Wir alle sind Menschen und wollen nur unser Bestes, vor allem das Beste für uns selbst. Und da stehen die Bürgerinnen und Bürger von Bad Münder nicht allein. Wer wird es ihnen übel nehmen, wenn sie bequem sind, wenn sie nur an sich denken und nur an das Heute? Vielleicht wird die Zukunft andere Verhaltensweisen hervorbringen. Dafür ist ja auch diese öffentliche Sitzung gut. Die jungen Zuschauer werden daraus ihre Schlüsse ziehen. So, jetzt wünsche ich einen guten Nachhauseweg und hoffentlich in einer Woche ein Wiedersehen!  

Ende des Sketches

                Es war spät geworden. Nach diesem ereignisreichen Tag gingen Regina und Jasmin erstmals gemeinsam schlafen. Regina wollte mit Jasmin im Besucherbett schlafen. Das war zwar kleiner als das Ehebett, aber es gab den beiden Verliebten genügend Platz, aneinander gekuschelt einzuschlafen. Vielleicht würde es Regina später einmal nichts mehr ausmachen, das frühere Ehebett mit der Freundin zu teilen. Sie gaben Chris dankbar einen Gute-Nacht-Kuss. Er hatte schließlich dafür gesorgt, dass die Heimlichtuerei zwischen ihnen im Hause ein glückliches Ende fand. Die beiden Frauen hatten es eilig, ins Bett zu kommen. Sie fühlten sich wie in ihrer Verlobungsnacht.

                Jasmin saß am nächsten Morgen allein am Küchentisch und schlürfte ihren Frühstückskaffee. Sie ließ noch einmal die aufregenden Ereignisse des Vortages Revue passieren, vor allem auch die Bildung ihrer kleinen Familie, für die sie wachsende Verantwortung zu nehmen bereit war. Das war ein ganz neues Gefühl für sie. Nie vorher war ihr eine Verantwortung für Menschen, die ihr nahe standen, auferlegt worden, es sei denn die Sorge um ihre Eltern. Die hatten sich in Jahrzehnten in Deutschland gut eingelebt und sich einen engen Freundeskreis in Berlin aufgebaut. Viel Sorgen um sie gab es nicht. Vielmehr war es so, dass Jasmin in ihnen einen festen Rückhalt hatte und immer, wenn es ihr dreckig ging, bei den Eltern Trost und Aufmunterung fand.

                Regina war bereits nach Hameln abgebraust. Ihr dortiges Bürgerkomitee wollte zum bevorstehenden Abi-Fest die Organisation einer Demo auf dem Pferdemarkt in der Altstadt besprechen. Thema sollte sein: Grundeinkommen von 1.100 Euro für alle jungen Menschen in Studium und Ausbildung und für Niedrig-Rentnerinnen und -Rentner. Eine zweite Forderung sei die Errichtung einer Weserbergland-Universität. Für die Jugend in der Region müsse endlich eine Zukunftsperspektive her und alte Menschen dürften nicht länger in Armut leben.

                Die Initiative zur Demo ging von den jungen Menschen selbst aus, die sich im WOM ihre Online-Hausplattform geschaffen hatten. Jugendliche aus allen Gemeinden des Wahlkreises wollten die Demo unterstützen und mit Bus und Fahrrad anreisen.

                Chris, der heute keine Schule hatte, kam völlig verstört, mit zerzausten Haaren und ungewaschen in die Küche. Verlegen bat er: „Jasmin, kannst Du bitte mal in mein Zimmer kommen.“ „Chris, mein Lieber, was ist denn passiert?“

                In Chris Zimmer war sein Bett in zerwühltem Zustand. Er schlug die Bettdecke zurück und zeigte auf das verschmutzte Laken. „Jasmin, in der Nacht hatte ich einen schönen Traum. Wir zwei waren mitten im Solling auf einer mit Waldblumen übersäten Lichtung und gaben uns einen richtigen Kuss. Mir wurde mit einem Mal so wohl zumute wie nie zuvor. Du hattest mich verzaubert. Auf Deinem Kopf hattest Du eine Blütenkrone, die wir zuvor geflochten hatten. Du warst wie eine liebreizende Prinzessin im Märchen, und ich fühlte mich wie ein Prinz, der Dich erobern wollte. Als unser Kuss am schönsten Moment anlangte, wachte ich in Schweiß gebadet auf und sah, dass ich meine erste Ejakulation gehabt hatte. Ich schämte mich im ersten Augenblick, aber einmal passiert das ja jedem Jungen in meinem Alter. Ich möchte das Mami nicht zeigen. Vielleicht ist es am besten, wir schmeißen das Laken sofort in die Waschmaschine und anschließend in den Trockner. Dann beziehen wir das Bett neu. Was meinst Du?“

                Jasmin musste daran denken, als sie ihre erste Regel hatte. Das war allerdings nicht mit nächtlichen Liebes-Träumen verbunden gewesen, vielmehr mit Stolz, jetzt erwachsen zu sein und die Fähigkeit zu besitzen, gebären zu können. Doch damals wollte sie von Männern nichts wissen. Nun war sie gefragt, den heranwachsenden Chris über seine schwierige pubertäre Situation hinwegzuhelfen und kam sich ziemlich hilflos vor.

                „Chris, das ist genau das, was wir machen werden. Bisher kenne ich Eure Wäscheprozeduren nicht. Zeig mir die Maschinen im Keller.“ Beide gingen in den Waschraum und warfen das Laken zusammen mit Unterwäsche von Jasmin in die Waschmaschine. Chris strahlte sie erleichtert an. „Oh Jasmin, toll dass es Dich gibt!“ Bei diesem Ausruf umarmte der beinahe um einen Kopf größere Chris die neue Schwester oder Freundin oder Zweitmutter. War auch egal, was Jasmin nun war, Hauptsache sie gehörte jetzt zu ihm und zu seiner Mutter.

                „Jasmin, wie gern würde ich Dir in echt einen Kuss geben!“ Jasmin erinnerte sich unwillkürlich an den ersten Kuss von Helmut, der sie auch um einen Kuss gebeten hatte, der dann in beiden ein unwiderstehliches Begehren ausgelöst hatte. Durfte sie Reginas Sohn diesen Wunsch erfüllen, wo sie jetzt doch so etwas wie die Zweitmutter war?

                Bevor sie sich recht besann, hatte Chris sie an sich gedrückt und vorsichtig ihren Mund gesucht. Wie sollte sie auf ihn reagieren? Jasmin nahm sich vor, Chris, der so von ihr schwärmte, langsam zu überzeugen, dass sie beide eine Form des Zusammenlebens finden müssten, die diese neue kleine Familie nicht auf eine unlösbare Zerreißprobe stellen würde. Jedoch könnte ein erster Kuss Chris zu Beginn seiner Lebensetappe als Erwachsener nicht schaden. Er würde dann mit gesteigertem Selbstbewusstsein daran gehen, sich für gleichaltrige Mädchen zu interessieren. Und dieses kleine Geheimnis würden beide für sich behalten. So dachte Jasmin in Sekundenschnelle, bevor sie sich entschloss, seinem Drängen nachzugeben. Durch die innige Umarmung war sie selbst dem Bann dieses jungen Mannes erlegen. Sie gab der sachten Berührung seiner Lippen nach und konnte nicht anders als Chris zu zeigen, wie sich liebende Erwachsene im Kuss vereinen und sich gegenseitig versichern. Beide verloren sich für einen Augenblick in eine Traumwelt und vergaßen alles um sich herum.

                Dass beginnende Rattern der Waschmaschine schreckte Jasmin auf. Sie konnte unmöglich weiter Chris‘ sexuellen Sehnsüchten nachgeben, auch wenn das erotische Aufeinandertreffen mit ihm sie in Versuchung führte . Zu ihrer neuen Verantwortung in der Familie gehörte ein angemessenes Verhalten gegenüber Chris, dessen sexuelles Erwachen sie verständnisvoll in die rechten Bahnen lenken müsste.         

                „Lieber Chris, wir dürfen unseren Versuchungen nicht weiter folgen. Wir haben uns beide lieb, aber es kann keine Zukunft als Liebespaar für uns geben. Auch kann und will ich Dich nicht länger auf Deinem Weg zur Sexualitätsfindung begleiten und Deine erste Frau sein. Du selbst weißt, wie ich zu Deiner Mutter stehe. Und das Verhältnis zu ihr will ich nicht infrage stellen. Das ist doch auch Dein Wunsch. Ich habe Dich viel zu lieb und will Dich nicht in eine ausweglose Liebesbeziehung mit mir hineinlocken. Das Einverständnis unserer kleinen Familie, zu dem wir Drei jetzt gelangt sind, ist viel zu kostbar, um mutwillig zerstört zu werden. Wie ich Dich kenne, siehst Du das auch so. Sexualität und Liebe sind vielleicht die zwei schönsten Fähigkeiten der Menschen. Aber damit müssen wir verantwortungsvoll umzugehen lernen. Das fiel mir in der Vergangenheit auch schwer. Oft war ich hin und hergerissen und konnte beides nicht unterscheiden. Jetzt erfahre ich zum ersten Mal Liebe, und das ausgerechnet in der Beziehung zu Deiner Mutter. Sie und ich kämpfen für Freiheit und Liebe und haben uns in der Suche danach gefunden, als müsste es so sein. Dir gegenüber empfinde ich so eine Mischung aus Liebe zu einem jüngeren Bruder und Liebe zu einem erwachsen-werdenden Sohn. Die Erotik dabei zwischen uns ist ganz normal, aber lassen wir diese nicht zum sexuellen Austausch kommen. Chris, das Leben ist voller Wunder und Du stehst jetzt am Anfang Deines Lebensweges. Ich kann Dir dabei eine Stütze sein, aber wir beide müssen zwischen erotischer und sexueller Beziehung unterscheiden lernen. So, lass uns nun Dein Frühstück machen und uns auf den heutigen Tag freuen. Ich habe viel im WOM zu tun. Der Schreibwettbewerb geht langsam seinem Ende zu.“

                Jasmin betrachtete bei ihren Worten bewundernd den ernsten und schönen Jünglingskopf von Chris, der sie an die Jünglingshäupter der griechischen Antike erinnerte. Wer wird wohl seine erste Frau werden? Schließlich nahm sie den immer noch erregten Chris unter den Arm und stieg mit ihm hoch in die Küche. Hier schickte sie ihn ins Badezimmer, damit er sich zum Frühstück fertig machte. Sie würde unterdessen Spiegeleier für ihn zubereiten. 

                Als sich Jasmin später auf ihrem Zimmer im Internet einloggte und die regionale Presse und anschließend die neuesten Einträge im WOM studierte, stellte sie erstaunt fest, dass die gestrige Veranstaltung in Bad Münder das Tagesthema war. Der Sketch „Die Schildbürger von Bad Münder“, aufgeführt von Schülerinnen und Schülern der Gesamtschule, hatte die Öffentlichkeit nicht nur in Bad Münder sondern auch im Weserbergland allgemein bewegt wie kaum ein anderes Thema zuvor im Wahljahr. Die Debatte darüber wurde durch das Abdrucken des Sketches in den lokalen Zeitungen zum Lodern angefacht. Alle diejenigen, die Rang und Namen in der kleinbürgerlichen Region hatten, angefangen von Bürgermeistern, Stadt- und Gemeinderäten, Landtags- und Bundestagsabgeordneten, politischen Parteien, Vertretern der Wirtschaft und Gewerkschaften, fühlten sich bemüßigt, ihre Meinung zum Besten zu geben. Das geschah durch Interviews in der lokalen Presse und Radio. Selbstverständlich war ebenso im WOM der Sketch Thema Nummer eins unter den vorwiegend jungen Nutzern.

                In Bad Münder redeten sich die selbstgefälligen Kleinbürger beim Morgenkaffee in den Cafés auf der Marktstraße den Mund fusselig. Beinahe einhellig waren sie empört ob der Frechheit der Jugendlichen. Wie konnten Zehntklässler plötzlich derart abschätzig über die Mündersche Gesellschaft herziehen. Das gehörte sich einfach nicht, auch wenn der Sketch als eine absichtlich überspitzt ironische Abbildung der Realität gemeint war. Ein Schuldiger war schnell ausgemacht: Das WOM mit seinen beiden Leitsprüchen: „Ich lese und schreibe, deshalb bin ich“ und „Die Gedanken sind frei“. Letzterer Spruch kam auf Vorschlag der Nutzer seit einem Monat ebenfalls auf die Homepage des WOM. Das Online-Portal war Verursacher eines beispiellosen Meinungsmarktes im Weserbergland geworden. Von der täglichen Nutzerzahl übertraf es bereits die lokalen Blätter und lockte die jungen Leser in Scharen an. Erwachsene, ob Lehrer oder Eltern, die wissen wollten, was in den Köpfen der jungen Menschen vor sich ging, mussten das WOM, ob sie wollten oder nicht, zur obligatorischen Lektüre machen.

                Beim Mittagessen kam Jasmin auf den Schreibwettbewerb zu sprechen. In einer Woche sollten erste zehn ausgewählte Beiträge von Jugendlichen in dem beliebten Kulturzentrum ‚Sumpfblume‘ in Hameln einem breiten Publikum vorgestellt werden. Die Verfasser würden ihre Beiträge vorlesen und auch fotokopiert auslegen. Das Publikum sei aufgefordert, die Texte zu bewerten. Bis zu den Sommerferien seien noch zwei weitere derartige Lesungen in der Sumpfblume vorgesehen, bevor es dann zur Endausscheidung kommen würde. Die Beiträge von Chris und Pierre wären in der ersten Lesung an der Reihe. Insgesamt waren mehr als hundert Texte eingereicht worden.

                Chris war stolz auf diese Auszeichnung und gab Jasmin vor Freude ein Bussi. Natürlich würde er an der Lesung teilnehmen. Nach dem Essen müsste er die Neuigkeit unbedingt mit Pierre besprechen. Sein Beitrag behandelte das Thema Rassismus in Holzminden. Pierre hatte sich auf ein Thema im Heimatland seines verstorbenen Vaters konzentriert: Die Ebola-Epidemie in Guinea in den Jahren 2014 und 2015. Chris war neugierig, welche anderen Themen ausgewählt worden waren. Jasmin wollte nur verraten, dass zwei Schülerinnen aus Hessisch Oldendorf ebenfalls über sehr interessante Themen geschrieben hätten. Ein Thema handelte von Islamophobie in Hess. Oldendorf, das andere von weiblicher Genitalverstümmelung in Westafrika, besonders in Guinea. Diesen Beiträgen wurde bescheinigt, dass sie auf sorgfältiger Recherche beruhten und sich auf grundlegende Menschenrechte bezögen. Chris meinte, es sei doch merkwürdig, dass sich Pierres Beitrag un-abgesprochen mit dem Beitrag einer Schülerin kreuzte, die ein ganz ähnliches Thema im selben Land behandelte.

                „Chris, Du kannst Dich aber auch nicht beschweren. Rassismus und Islamophobie liegen ebenso dicht beieinander und haben tiefe Wurzeln im Weserbergland.“ „Na, ich bin ja mal gespannt, wer diese Schülerinnen sind und wie sie auf diese Themen gekommen sind.“ „Das werden sich diese Schülerinnen umgekehrt bezüglich Eurer Themen auch fragen. Übrigens, sie heißen Mona und Simone und arbeiten auch im Bürgerkomitee von Hess. Oldendorf mit. Es sind noch weitere spannende Themen dabei. Ich frage mich, wie das Publikum reagieren wird.“  

 

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