19 Okt 2018

Die kranke deutsche Demokratie - 12. Folge

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie - 12. Folge

Politischer Mord im Weserbergland

 

1. Realitaet: Wahlkampf-Hindernisse eines parteilosen Kandidaten 

2. Fiktion: Kampf gegen das Weserbergland-Online-Magazin, Schueler-Schreibwettbewerb

Foto: Wikimedia Commons, mein Wahlkreis Weserbergland bei Grohnde mit KKW, Autor: Michael Gaebler

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Realitaet: Wahlkampf-Hindernisse eines parteilosen Kandidaten 

28.Mai 2017. Wunderschöner Maimorgen an der Weser bei Grossenwieden/Hess. Oldendorf. Im Garten des Ausflugslokals um mich herum lauter gut aufgelegte Fahrradtouristen. Eine kleine Gruppe an meinem Tisch hat eine 10-tägige Reise von Hannoversch Münden nach Cuxhaven auf dem Programm. Alle scheinen entspannt und einigermaßen sorglos zu sein, erfreuen sich an der Natur und ihrer Gesundheit, die selbst im Alter ab 50 noch Radtouren erlaubt, besonders, wenn man ein E-Bike sein eigen nennt. 

                Ich frage mich, ob die letzten IS-Attacken, die Drohnen-Attacken, die Bomben-Abwürfe, die Flüchtlingstoten im Mittelmeer und die Bürgerkriege in vielen Teilen der Welt diese deutsche ‚Insel der Seligen‘ zu stören imstande sind. Wie gut doch auch, eine Kanzlerin am Staats-Steuer zu wissen, die gute Miene zum Trump- und Erdogan-Spiel zu machen weiß, und die nachsichtig einem Herausforderer Schulz beim Herumhampeln zusieht, sich eine rechte Wahlkampfstrategie zurechtzubiegen. Irgendwie muss dieser herausfinden, wie man dem unbedarften Bürger Honig ums Maul schmiert, potztausend! Warum geht denn der Schulz-Effekt nach hinten los und der Merkel-Effekt unbeirrt und wie eh und je weiter so nach vorn? Einfach zum Verzweifeln! Seit Schröder der altehrwürdigen SPD das Kuckucksei Agenda 2010 ins Nest gelegt hat, scheint sich die alte Partei-Dame vom Kanzleramt für immer verabschiedet zu haben.

                Nun gut, man kann einfach nicht ewig versuchen, gleichzeitig auf den Stühlen von Arbeit und Kapital zu hocken. Da muss man sich wie die Union und FDP unzweideutig  entscheiden: „Ich setze auf Kapital und damit basta!“ Schulz und seine Mannen hingegen werden einfach zwischen den Stühlen unsanft auf dem Hintern landen. Da hilft es auch nicht, dass jetzt alle Bundestagskandidaten der SPD nach Berlin zitiert werden, um Order für den Wahlkampf abzuholen. Hier im Wahlkreis stehen seit dem Frühjahr die Kandidaten der etablierten Parteien auf ‚stand by‘ und warten darauf, welche Parolen ihre Oberen ihnen schließlich zum Wahlkampf eintrichtern. Ich frage mich, ob sie denn keine eigenen Programmpunkte haben; auch, ob denn der Bürger von solchen Partei-Marionetten nicht längst angewidert ist?

                Die Fahrradtour meiner Tischnachbarn will ich ihnen nicht ‚versauen‘. Sie finden das Weserbergland wunderschön, haben aber auch die Schließung verschiedener öffentlicher und privater Infrastrukturen einschließlich dem ungelösten Erbe des KKW Grohnde bemerkt. Aber sie meinen, dass es doch gar nicht schlecht sei, neben Ballungsgebieten ‚leere‘ Regionen zu haben, wo sich die gestressten Ballungsgebiets-Menschen erholen könnten. Ich entgegnete ihnen, gerade diese ‚Leere‘ und die damit verbundene Perspektivlosigkeit der nachkommenden Generationen, in einer liebenswerten Heimat Zukunft leben zu können, hätte mich u.a. veranlasst, nach Deutschland zurückzukommen. Als ich ihnen dann versuchte, ihr angenehmes Leben mit Radtour, E-Bike und Sonstigem mit der Armut, Bürgerkriegen und Flucht in anderen Regionen der Welt, die ja erst den deutschen Lebensstandard möglich machen, in Verbindung zu bringen, da begann dann unsere Unterhaltung weniger munter daher zu plätschern. Ich verabschiedete mich rasch. Wer will schon, wie eingangs betont, anderen Menschen eine Fahrradtour im Mai vermiesen?

                Jetzt zur Eingangsfrage: Kommt ein Schneeball ins Rollen?  Anders gesagt: Hat der Schneeball einer humanistischen Bürger-Alternative eine Chance, zur Lawine gegen Parteien-Establishment und xenophober AfD zu werden? Antwort: Das wird wohl eine Illusion bleiben, wenn man das realistisch betrachtet. Trotz allem: Was getan werden muss, wird getan. Die im Grundgesetz vorgesehene Volkssouveränität und damit auch die Möglichkeit eines unabhängigen Bürgers, sich aktiv in die Politik einzumischen, muss uneingeschränkt gelten. Ist das nicht der Fall, dann ist etwas faul an dieser Demokratie, und das werde ich mit meiner Kandidatur austesten. 

                Wie in Wahlkampf  2017 (6) erläutert, habe ich mich mit den PIRATEN zusammen getan, um auf ihrer Landesliste als parteiloser Direktkandidat zu kandidieren. Nach einem Monat aktiver Unterschriften-Sammlung, um die notwendigen 200 Unterstützer-Unterschriften für meine Kandidatur zusammen zu bekommen (bisher habe ich etwas mehr als 100 Unterschriften), kann ich die größten Hindernisse meiner Kandidatur im Gegensatz zur Kandidatur eines langjährigen Parteimitgliedes einer etablierten Partei wie folgt beschreiben:  

                1. Das Fehlen einer im Wahlkreis verankerten Unterstützer-Gruppe (worauf Kandidaten von Bundestagsparteien im Übermaß bauen können). Wahlkampf und Werbung für Bürgerrechte und Bürgerteilhabe am politischen Geschehen kann nicht von einer/einem Einzelnen geleistet werden. Es bedarf eines Bürger-Komitees, das ich leider nach Jahrzehnten Abwesenheit aus meiner alten Heimat in zwei Monaten nicht auf die Beine stellen konnte. Von meinen wenigen Bekannten in der Region gab es keine Bereitschaft, sich auf ein solches Unterfangen einzulassen, obgleich das allgemein geteilte Ohnmachtsgefühl gegenüber der Obrigkeit und den Bundestags-Parteien Motivation genug sein sollte. Wie beschrieben konnte ich dieses Hindernis durch die Unterstützung der PIRATEN überspringen.

                Zusatz: Meine Hausbesuche in der letzten Woche vor Pfingsten haben jetzt erste Kontakte mit engagierten Menschen erbracht, die aktiv für mich werben wollen. Das Interessante daran: Es sind beruflich unabhängige Personen, die auf politische und betriebliche Seilschaften keine Rücksichten zu nehmen brauchen.

                2. Die Beseitigung des Fehlens eines Bekanntheitsgrades hatte ich mir durch die vorzeitige Kontaktaufnahme (Ende 2016) mit der lokalen Presse vorgestellt. Ich schickte mein Programm an verschiedene Journalisten, die jedoch allesamt mit Schweigen bis zum heutigen Tage antworteten. Lediglich eine Presseerklärung der PIRATEN wurde Anfang Mai gedruckt. Meine Antwort auf das Schweigen der Presse bestand u.a. in der Nutzung einer eigenen Website (hermann-gebauer.de) und von facebook, wo ich inzwischen in einigen ‚Gruppen‘ im Wahlkreis unterwegs bin. Jedoch gibt es auch dort ‚Aufpasser  von anderen Parteien, die von den Administratoren die Löschung meiner Kommentare verlangen. Im Gegensatz dazu finden die etablierten Parteien jederzeit ein offenes Ohr bei den lokalen Medien, die über deren Kandidaten berichten. Auch hier wird überdeutlich, wie eng der Filz zwischen Bundestagsparteien und Medien gestrickt ist. Unabhängige politische Initiativen aus der Bürgerschaft heraus werden totgeschwiegen.

                Zusatz: In dieser Woche lud die Gleichstellungsbeauftragte in Hameln zu einem ersten Kandidaten-Interview ein. Selbstverständlich wurden alle Direkt-Kandidaten der BT-Parteien, AfD nicht, eingeladen. Ich existierte offensichtlich auch nicht als einzuladender Direktkandidat. Nach meinem Protest wurde die Einladung auf mich erweitert. Langsam tut sich was und meine Kandidatur sickert durch.

                3. Unterstützer-Unterschriften-Sammeln auf öffentlichen Plätzen und bei Hausbesuchen. Das direkte Ansprechen von potentiellen Wählerinnen und Wählern auf Märkten und Plätzen ist äußerst mühsam und quälend. Die BT-Parteien brauchen ihre Kandidaten nicht zum Unterschriften-Sammeln auf die Straße zu schicken. Was mich angeht, so muss ich fast wie ein ‚Waschmittel-Verkäufer‘ vorgehen, der auf eine neue Marke aufmerksam machen will. Oft frage ich mich, was denn die Vorübergehenden über mich älteren Herrn denken, der doch längst seine Rente genießen sollte. Aber es kommen auch andere meines Alters des Weges, die nach Plastik- und Glasflaschen suchen, um sich ein Zubrot zur kärglichen Rente dazu zu verdienen. Die politischen Gespräche, die sich beim Einkaufen ergeben, sind eher flüchtig. Viel kommt auf spontane Sympathie und ‚Chemie‘ drauf an, ob eine Unterschrift gegeben wird oder nicht.

                Anders sieht es bei den Hausbesuchen aus, vor allem, wenn sie in Wohnvierteln mit Einfamilienhäusern stattfinden. Da sind die Kontakte wesentlich intensiver und entsprechend die Diskussionen. Es gibt im Prinzip drei Reaktionen der Menschen auf mein Erscheinen: Zuerst großes Erstaunen mich zu erblicken. „Was mag dieser einigermaßen betagte Herr nur wollen?“ Nach meiner Vorstellung und dem Vortrag meines Anliegens gibt es entweder ein schroffes und unfreundliches „Nein, ich will damit nichts zu tun haben!“ (etwa 20%, ich schätze darunter etliche AfD-Wähler). Oder eine weniger unfreundliche, doch entschiedene  Entgegnung, man sei politisch anders orientiert (etwa 30%, wohl Mitglieder oder überzeugte Wähler von BT-Parteien).  Und schließlich gibt es doch eine große Gruppe (50%) von Interessierten, die schon meine Eltern kannten und/oder die aus den beiden folgenden gesellschaftlichen Gruppen stammen: Einmal aus dem Niedriglohnsektor (Niedrig-RentnerInnen bzw. alleinerziehende Mütter) und dann Selbständige, die in keiner Lohnabhängigkeit begriffen sind und bei guten Gesprächen Bereitschaft zu Zivilcourage zeigen und etwas anpacken wollen unter der Bedingung, dass genügend Menschen zusammen kommen. Besonders mit dieser letzten Gruppe werde ich Bürgerversammlungen beginnen, in denen es um konkrete Aktivitäten gehen wird. Diese Gruppe ist resistent gegenüber den etablierten Parteien und der AfD, und sie ist bereit, für ihre Kinder und Enkelkinder etwas zu wagen. Meine Latte von Vorschlägen, die ich ihnen fotokopiert überreiche, wird dabei eine erste Orientierung sein. Vor allem der Ausstieg aus der Ohnmachtssituation gegenüber BT-Parteien und Staat sowie das Erkämpfen von Bürgermacht ist ihre hauptsächliche Motivation. Ich bin gespannt, wie lange diese Motivation anhält, wenn es dann ans Eigemachte geht und wir gemeinsam von einer humanistischen Entwicklungs-Vision zu konkret zu erarbeitenden Zielen kommen.   

                Dieses Unterschriften-Sammeln haben die BT-Parteien-Direktkandidaten wie gesagt nicht nötig. Um Kandidat zu werden, müssen sie sich jahrelang als loyaler Parteisoldat erweisen und Koffer tragen. Da hilft ein früher Eintritt in eine Jugendorganisation der Partei. Auch das Stipendium einer parteinahen Stiftung ist förderlich für die Partei-Karriere. Derzeit werden meine Konkurrenten von den BT-Parteien von ihren Partei-Grosskopferten auf die Parteiprogramme eingeschworen, damit sie wissen, was sie später dem Bürger erzählen sollen. Ich bin ja schon einmal gespannt, wie unsere direkten Auseinandersetzungen vor den Medien und dem Publikum ausgehen werden. 

                Ein letztes Wort zu den Hausbesuchen: Ich gebe zu, dass es mich jedes Mal eine gewisse Überwindung kostet, an der Haustüre zu klingeln und um eine Unterschrift zu bitten. Wenn dann aber ein freundliches Wesen mir gegenüber tritt, mich manchmal auch einlädt, in die gute Stube zu kommen und sich daraus eine interessante Diskussion ergibt, dann ist schon der halbe Tag gelaufen und die anschließenden Hausbesuche gehen umso flotter von der Hand. Schlimm ist nur ein erster Besuch bei kaum geöffneter Tür mit einem misstrauischen, störrischen und unausstehlichen Menschen. Das kann mir den ganzen Tag vergraulen.  

                4. Das größte Handicap meiner Kandidatur sind meine begrenzten finanziellen Mittel. Ich verfüge über etwa 900 Euro im Monat. Davon muss eine monatliche Zimmermiete bestritten und das täglich Brot gekauft werden. Dann und wann gibt es auch einen kleinen Luxus in Form eines Cappuccinos.  Die täglichen Bus-Fahrtkosten und die Schwarz-Weiß-Kopien meines Wahlprogramms dürfen auch keine übermäßigen Löcher ins Budget reißen. Aber ich will mich nicht beklagen. Der beinahe tägliche Sport auf der Yoga-Matte und das Jogging sowie die Naturheilmittel aus Amazonas und Hochanden halten mich körperlich fit. Und weil ich keinen eigenen Wagen noch Fahrrad besitze, hilft auch das Zufußgehen, um die Glieder frisch zu halten.

                An die finanziellen Annehmlichkeiten eines BT-Kandidaten mit reichlich steuerfinanzierter Hängematte mag ich gar nicht denken. Trotzdem möchte ich mit diesen Menschen nicht tauschen. Meine geistige Unabhängigkeit und die Möglichkeit, den Wählerinnen und Wählern direkt in die „Seele“ zu schauen und einige von ihnen mit auf eine unbekannte Bürger-Emanzipations-Reise mitzunehmen, entschädigt mich bei weitem für finanzielle Einschränkungen. Ich habe von Beginn an diese beschwerliche, doch interessante Wahlkampfreise bewusst auf mich genommen und bereue sie in keiner Weise. In zwei Wochen hoffe ich die 200 Unterschriften zusammen zu haben. Dann bleiben drei Monate bis zum Wahltermin. Sie werden sicher die spannendsten Wahlkampf-Monate werden und darüber entscheiden, ob wenigstens ein kleiner Schnellball von Bürger-Emanzipation und Bürger-Macht das Wesertal hinunter rollt und der Parteien-Macht Paroli bietet.

(Anfang Juni, 2017)

 

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Fiktion: Kampf gegen das Weserbergland-Online-Magazin, Schueler-Schreibwettbewerb

„Der freie Gedanke, der die geheimen Wünsche des Volkes in wohlgesetzte Worte fasst, die laut und deutlich im Volke ausgestreut werden, ist Gift für die deutsche parlamentarische Demokratie. Im Extremfall kann er eine revolutionäre Stimmung hervorrufen.“

                Jäger lief wie immer zur Hochform auf, wenn es darum ging, reale und imaginäre Feinde der parlamentarischen Demokratie in die Flucht zu schlagen: „Ich beziehe mich ausdrücklich auf die massenhafte Nutzung des vom RND neu geschaffenen ‚Weserbergland- Online- Magazins‘. Das verführt seine Leser und Schreiber mit den Leitworten: ‚Ich lese und schreibe, deshalb bin ich‘ und ‚Die Gedanken sind frei‘ zum unabhängigen Denken und Handeln, das in gefahrvoller Weise dabei ist, unsere geliebte, bestehende Ordnung, die sich seit Kriegsende bestens bewährt hat, infrage zu stellen. Als treuer Knappe und Verteidiger der Parlamentarischen Demokratie und unserer hochverehrten Kanzlerin möchte ich meiner tiefen Besorgnis Ausdruck verleihen, dass etwas im Weserbergland in gewaltige Schieflage gekommen ist. Die neuerlichen gedanklichen Ergüsse unserer Jugend deuten auf dunkle Wolken überm schönen Weserbergland hin. Als jüngstes Beispiel möchte ich die impertinente Charakterisierung unserer Gesellschaft heranziehen, wie sie im WOM nachzulesen ist, und ich hier in Ausdrucken allen Anwesenden zur Kenntnis gebe. Der Sketch über die sogenannten Schildbürger von Bad Münder wird allen ehrbaren Verfechtern von Recht und Ordnung die Augen öffnen, welchen Wolf im Schafspelz uns im WOM heranwächst. Unser wichtigstes Bestreben muss sein, wie wir die freien Gedanken der Jugend wieder in von uns kanalisierte und inneren Frieden erhaltende Gedanken gelenkt werden können. Das rechte Umgehen mit dem Online-Portal WOM soll im Mittelpunkt unserer heutigen Debatte stehen.“

                Jäger hatte sich nicht lumpen lassen. Mit gutem Geld aus der Parteikasse hatte er zum Stelldichein nach Buchenhagen geblasen. Das mondäne Versammlungslokal bei Bodenwerder, in dem sich zu gegebenen Anlässen die Creme de la Creme des Weserberglandes trifft, war der treffliche Ort, um Allianzen zu schmieden. In diesem Fall ging es um die Allianz zur Verhinderung der weiteren Existenz des Weserbergland-Online- Magazins, das drauf und dran war, zum wichtigsten Meinungs-Marktplatz unabhängiger Bürgerinnen und Bürger zu werden. Das hatte es so bisher nicht gegeben. Meinungen wurden und sollten auch in Zukunft von etablierten Parteien und den Mainstreammedien vorgegeben werden. Bisher funktionierte diese Meinungsmache ausgezeichnet in der deutschen parlamentarischen Demokratie. Das WOM jedoch wuchs im Wahljahr zum Spaltpilz übelster Sorte heran.

                Die in Buchenhagen Anwesenden waren telefonisch benachrichtigt worden, um Aufsehen zu vermeiden. Unter ihnen befanden sich Parteiführer der Groko-Parteien, Schulrektoren, Vertreter von lokalem Kapital, Industrie- und Handelskammer, Gewerkschaft, Bauernverband und last not least die Chefredakteure der regionalen Medien. Das WOM war selbstverständlich nicht eingeladen und sollte von dem Treffen keine Lunte riechen. In seiner Einladung hatte Jäger erwähnt, wie fruchtlos bisher seine Interventionen beim RND waren, das WOM-Projekt zum Stoppen zu bringen, das der expliziten Aufgabe dienen sollte, modellhaft einen Ansatz zur Bekämpfung der Politikmüdigkeit des Bürgers zu entwickeln. Wenn das Buchenhagener Treffen einen kollektiven Aufschrei des Who‘s who im Weserbergland produzieren würde, gäbe es eventuell die Chance, den Aufsichtsrat des RND noch vor den Wahlen zu überzeugen, das WOM-Projekt ein für alle Mal einzustampfen.  

                Die flammende Eingangsrede des verdienten Holzmindener Politikers verfehlte ihre Wirkung nicht. Die vorliegenden Texte aus dem WOM, die zunehmenden Aktivitäten der Jugend im Wahlkreis und vor allem die immer weiter umsichgreifende Unterstützung der parteilosen Kandidatin sprachen Bände, dass das geruhsame Weserbergland in Bewegung gekommen war. Und diese Bewegung war Jägers Meinung nach eine äußerst schädliche.

                Die Versammlung übte sich eine Zeitlang in Schweigen, damit beschäftigt, den exzellenten Kuchen mit Kaffee dankbar in sich rein zu löffeln. Wozu waren doch Parteikassen gut!

                Jäger sah sich triumphierend um. Alle anerkannten seine unerschütterliche Kämpfernatur um Recht und Ordnung. Doch es gab Anwesende, die sich von seiner Argumentation nicht überzeugen ließen. Insgeheim sagte sich so mancher, dass die deutsche demokratische Kultur tatsächlich erneuerungsbedürftig sei. Jedenfalls war klar, dass sich ein großer Teil der Jugend nicht mehr mit dem derzeitigen Demokratie-Modell identifizierte. Ein Aus des WOM-Projektes wäre ein tödlicher Schuss vor den Bug des Erwachens der Jugend im Weserbergland. Das könnte diese in die offenen Arme von Extremisten jedweder Couleur treiben. 

                Im Veranstaltungssaal erhob sich ein Murmeln unter den Eingeladenen. Die Rektorin eines Gymnasiums meldete sich zu Wort: „Ich bin der Meinung, das WOM-Projekt müsse weitergeführt werden. Wir alle wissen bestens, dass sich viele, vor allem Jugendliche, größere Beteiligung an politischen Entscheidungen wünschen. Da hilft es überhaupt nicht zu sagen, die parlamentarische Demokratie hätte ja bisher gut funktioniert. Offensichtlich funktioniert diese in den Augen vieler Menschen eben nicht. Da gibt es nichts drum herum zu deuteln. Wir wissen auch, dass die Begriffe Volkssouveränität und Mündiger Bürger von Politik und Wirtschaft wie ein Fetisch der Zivilgesellschaft bei jeder besten Gelegenheit aufgetischt werden, jedoch in realiter nur der Verschleierung von Macht dienen. Wenn jetzt Teile der Jugend aufwachen, dann ist das nur zu begrüßen. Alle demokratischen Kräfte, und dazu zählen auch die Konservativen und die Sozis, sollten aufgerufen sein, um die Herzen und Köpfe der Jugend zu gewinnen. Das ist echte demokratische Herausforderung. Das Verbieten von Meinungsäußerung durch Schließen des WOM würde ein Schuss nach hinten bedeuten. Ich schlage vor, dass alle, die das WOM bedrohlich finden, sich dort anmelden und mit ihren Argumenten die Nutzer zu überzeugen suchen. Das ist meines Erachtens die einzig ehrliche Form demokratischer Auseinandersetzung. Was die örtlichen Medien anbelangt, so sollten sie ebenfalls gegen eine Schließung des WOM votieren. Wenn sie Leser und Hörer verlieren, dann ist das eben ein Zeichen davon, dass sie die emanzipatorischen Zeichen der Zeit nicht erkannt haben. Geben Sie doch ihren Lesern selbst das Wort, wie es das WOM macht, statt das fertige Wort den Lesern in den Mund zu legen. Der frisst das jedenfalls immer weniger unhinterfragt.“

                Dieser Einwand provozierte ein allgemeines chaotisches Palaver, dass Jäger nicht mehr in den Griff bekam. So ging die von ihm beabsichtigte Schlacht um das WOM aus wie das Hornberger Schießen. Eine gemeinsame Demarche aller Großkopferten des Wahlkreises, um das WOM-Projekt zu Fall zu bringen, löste sich in Luft auf. Immerhin hatte Jäger das Stelldichein nicht aus eigener Tasche bezahlen müssen und wie schon so oft in seinem Leben sein Kämpferherz bewiesen.

                Es blieb nicht aus, dass dem WOM Mitschnitte des Buchenhagener Treffens zugespielt und dort veröffentlicht wurden. Ein Sturm der Entrüstung zog herauf. Das wurmte die oberen ‚Einprozent des Weserberglandes‘ und vor allem die lokalen Medien, die sich verpflichtet hatten, über Buchenhagen kein Wort verlauten zu lassen. Ihnen war daran gelegen, die unerwünschte neue Online-Plattform zum Schweigen zu zwingen. Nach Buchenhagen gab es eine erneute Welle von Lesern, die sich von ihnen abwendeten und sich im WOM anmeldeten. Auch war der Nimbus der Groko-Parteien beträchtlich angekratzt, da sie offensichtlich keine weitere demokratische Konkurrenz duldeten. Neben der Neuen Rechten sei eine humanistische Bürger-Bewegung einfach des Guten zu viel im Parlament. 

                Jäger hatte alle Munition gegen das WOM verschossen. Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit, die Position der Konservativen und die ihres Direktkandidaten wenigstens halbwegs zu verteidigen. Er musste versuchen, die Argumente seiner Partei und die Kandidatur ihres Direktkandidaten offensiv in das WOM einzubringen. Und das ging nur darüber, dass er die verantwortliche Redakteurin dazu gewönne, alle Veranstaltungen und Aussagen seiner Partei zu publizieren. Denn die Website der Konservativen konnte man vergessen. Damit war kein Blumentopf zu gewinnen. Nur die eingefleischtesten Anhänger überhaupt loggten sich dort ein. Wer und was bekannt werden sollte, war auf den Meinungsführer im Weserbergland angewiesen, und das war inzwischen das Weserbergland-Online-Magazin. Er hatte ja Frau Jasmin bereits im Februar auf einer Veranstaltung in Holzminden kennengelernt, aber damals nicht geahnt, dass diese clevere und attraktive junge Frau das ganze Weserbergland in Bewegung bringen würde. Der Draht zu ihr musste auf Biegen und Brechen hergestellt werden.     

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Chris und Pierre sowie dessen Mutter fuhren mit Regina zur Vorleseveranstaltung in die Hamelner ‚Sumpfblume‘. Jasmin als Verantwortliche des Schreibwettbewerbes hatte mit dem Personal der Sumpfblume den Veranstaltungssaal hergerichtet. Die zehn Kandidaten sollten einer nach dem anderen ihre Beiträge auf der Bühne vor dem Publikum vorlesen. Nach jedem Beitrag waren fünf Minuten zum Nachfragen aus dem Publikum vorgesehen. Am Ende der Veranstaltung konnten Noten von Eins bis Fünf vergeben werden, wie in der Schule. Vier Autoren mit dem geringsten Durchschnitt würden für die Endausscheidung infrage kommen. Da noch zwei weitere Veranstaltungen im gleichen Format stattfinden würden, kämen so insgesamt zwölf Kandidaten in die letzte Runde.

                Am frühen Samstagnachmittag füllte sich der Veranstaltungssaal in der Sumpfblume bis zum letzten Platz. Im WOM war dafür eifrig getrommelt worden. Die übrige Presse und das Radio annoncierten diese WOM-Veranstaltung zähneknirschend in knapper Weise. Ein völliges Verschweigen würden ihre Leser nicht verstehen und sie nur noch mehr in die neue Online-Plattform treiben. Regina stellte fest, dass viele junge Zuhörer aus ihren Bürgerkomitees im Wahlkreis anwesend waren. Von allen Seiten wurde sie begrüßt.

                Jasmin eröffnete im Namen des WOM die Veranstaltung, die auf ihre Initiative hin in Gang gekommen war. Sie erinnerte noch einmal an den Sinn des WOM, den Bürgern selbst eine Plattform in Wort, Bild und Video anzubieten und einen lebendigen Meinungsmarktplatz in Gang zu setzen. Der Schreibwettbewerb sollte jungen Menschen dazu dienen, ihre Gedanken frei und ohne Furcht zu veröffentlichen. Der Mündige Bürger mit Zivilcourage, heißem Herzen und kühlem Kopf sei die Zukunft des Landes. Duckmäusertum, Radfahrerei, Opportunismus und Konformismus seien die schlechtesten Verhaltensweisen beim Start ins Leben. Stattdessen wäre das Erlernen des ‚Aufrechten Ganges‘ die beste Voraussetzung für ein späteres erfülltes Leben. Jasmin wünschte den ersten zehn Ausgewählten unter den insgesamt hundert Teilnehmern viel Glück.

                Beifall brandete auf. Ein junger Studienrat aus einem Hamelner Gymnasium eilte ungefragt aufs Podium und dankte Jasmin im Namen der Lehrer, der Eltern und der Schüler, dass sie das vom RND eingerichtete WOM zum wichtigsten Meinungsmedium im Weserbergland gemacht hätte, und dass ein neuer Schwung in Schulen und auch auf Straßen und Plätzen zu spüren sei. Der Schreibwettbewerb sei der beste Beweis dafür, dass freie Gedanken aus altem Mief heraus zu sprießen beginnen. Er sei sich bewusst, dass es viele Widerstände und auch Missgunst bezüglich des WOM-Projektes im Weserbergland geben würde. Aber Jasmin sollte wissen, dass Tausende Menschen hinter ihr stünden, vor allem die Jugend, die ein solches Beispiel wie sie am besten gebrauchen könnte, um ihren Lebensweg mit Erfolg antreten zu können. Wieder kam Beifall für Jasmin auf, was ihr offensichtlich peinlich war. Sie verwies auf die Direktorin im RND, den dortigen Chefredakteur und weitere Kollegen, die dieses Projekt erst möglich gemacht hätten. Auch sei die Begleitung vom Institut für Politische Bildung von unschätzbarem Wert. Sie täte nur das, was eben zu tun sei, um Demokratie und Meinungsvielfalt in der Region zu stärken. 

                Schließlich begannen die Lesungen. Die zehn Kandidaten saßen in der ersten Reihe und warteten auf ihren Einsatz. Jasmin hatte Chris und Pierre bereits mit Mona und Simone bekannt gemacht. Die vier setzten sich gemeinsam auf die linke Seite der ersten Reihe. Sie würden als Letzte ihre Beiträge präsentieren.

                Die Vorstellung der Texte wurde von den Zuhörern begeistert aufgenommen. Am interessantesten waren die jeweils fünf Minuten nach jeder Lesung, in denen den Schreibern Fragen gestellt werden konnten und in denen sie die Wahl ihrer Themen begründeten. Die meisten Texte drehten sich um die Erwachsenen-Welt aus der Perspektive der Jugendlichen und ihre Träume von einer besseren Wirklichkeit. Die Angst, später im Hamsterrad des kapitalistischen Systems dem Schicksal eines reinen Befehlsempfängers ausgesetzt zu sein, belastet die jungen Menschen sehr. Die meisten standen vor dem Abitur oder am Ende der Lehrzeit. Ein Mädchen hatte einen Text über das Weserbergland in Lyrik-Form verfasst, wie die Region in zwanzig Jahren aussehen könnte, wenn die Jugend darüber zu entscheiden hätte.

                Als Chris auf die Bühne kam und seinen Text über ‚Rassismus in Holzminden‘ vorlesen wollte, den er, wie er eingangs erwähnte, aufgrund einer rassistischen Wandschmiererei verfasst hatte, schrie ein Zuhörer in den hinteren Reihen: „Das ist kein Rassismus! Das ist wehrhafte Verteidigung der Heimat, die die Gutmenschen verraten!“ Spontan entwickelte sich ein Tumult und der etwa 30 bis 40jährige Mann wurde von einer aufgebrachten Gruppe von Jugendlichen aus dem Saal geschmissen. Chris musste von einigen Zuhörern beruhigt werden. Im ersten Moment war er dermaßen erschrocken und entmutigt, dass er auf die Lesung verzichten wollte.

                Jasmin bat um Ruhe im Auditorium und sagte zu Chris gewandt: „Wir müssen in Zukunft mehr und mehr damit rechnen, dass sich Ewig-Gestrige mit Macht in der Gesellschaft Gehör verschaffen wollen. Die Stimmung im Land hat sich drastisch verändert. Doch wenn wir uns vor Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wegducken, werden wir abermals in eine menschenfeindliche Katastrophe hineinschlittern. Chris, ich bin Dir dankbar, dass Du dieses heiße Eisen in Deinem Text angepackt hast und möchte Dich bitten, uns Deinen Text gerade wegen dieses Vorfalls vorzutragen.“ 

                Als Chris sich wieder einigermaßen gefasst hatte, vor allem durch den Zuspruch seines Freundes Pierre, der ihn bat, sich nicht unterkriegen zu lassen, begann er mit belegter Stimme, seinen Text vorzulesen. Er ging von dem konkreten Ereignis der Wandschmiererei in Holzminden aus, die eindeutig gegen seinen farbigen Freund gerichtet und mit einer offenen Drohung gegen diesen verbunden war. Chris fühlte sich selbst angegriffen und begann sich intensiv mit dem Thema Rassismus zu beschäftigen. Die Reaktion auf die rassistische Parole war anfangs eine heftige und wühlte die Menschen in Holzminden auf. Die Polizei versprach, die oder den Täter ausfindig zu machen und durchsuchte drei Wohnungen von bekannten Neonazis, gab jedoch nach erfolglosem Ergebnis die Suche auf. Die lokale Presse berichtete zwei Tage über das Ereignis, aber dann war Schluss. Offensichtlich waren Bürgermeister, Stadtrat, hiesige Geschäftswelt aber auch die Polizei eifrig bemüht, das Ereignis rasch unter den Teppich zu kehren. Holzminden und seine schöne Weserbergland-Umgebung sollten auf keinen Fall eine regionale oder überregionale Bekanntheit als Hort von Rassisten bekommen. Einzig das Weserbergland-Online-Magazin hielt das Thema am Kochen und viele junge Nutzer setzten sich damit auseinander, da in allen Gemeinden der Region seit zwei Jahren eine Atmosphäre entstanden war, rechte Parolen als etwas ganz Alltägliches anzusehen. Das Schweigen der lokalen Politik über den in der Gesellschaft schwelenden Alltagsrassismus wollten viele junge Menschen nicht hinnehmen. Chris hatte Interviews mit Schülerinnen und Schülern seiner Schule durchgeführt und diese gebeten, auch mit ihren Eltern über das Thema zu reden. Dabei ergab sich, dass den älteren Menschen die ganze Rassismus- und Fremdenfeind-Debatte aufgrund der deutschen Vergangenheit peinlich war. Besonders unter den Menschen ab 50 Jahren aufwärts fanden sich etliche, die rassistischen Parolen stillschweigend Recht gaben. Öffentlich stellte man sich jedoch nicht dahinter. Mit Neonazis und Fremdenfeinden wollte man nicht auf eine Stufe gestellt werden. Jedoch fielen in den Diskussionen immer wieder Begriffe wie: Musels, Neger, Merkels Kulturbereicherer in sozialen Hängematten, Überfremdung der schönen Heimat, Bevorzugung von Fremden am Arbeitsmarkt, erhöhte Unsicherheit durch ausländische Messerstecher, sexbesessene Flüchtlinge als Vergewaltiger deutscher Frauen usw. usf. Chris hatte Literatur über die Rassenideologie des deutschen Faschismus und seine Entstehung gelesen. Er stellte zum Abschluss seines Beitrages die These auf, die jetzige rassistische Strömung wäre durchaus vergleichbar mit derjenigen, die sich vor hundert Jahren in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ausbreitete. Dass selbst im ländlich geprägten Weserbergland Rassismus klammheimlich geduldet wurde, wie am Beispiel seines Freundes abzulesen war, sei ein untrügliches Zeichen des nach wie vor fest verankerten Rassismus in den Köpfen vieler Menschen. Und dagegen müsse angegangen werden. Die Jugend jedenfalls wünsche sich mehrheitlich eine weltoffene und menschenfreundliche Heimat. 

                Chris erntete langen Applaus für seinen Text. Hauptsächlich die jungen Zuhörer identifizierten sich damit. Viele Ältere unter ihnen jedoch schwiegen betreten, als in der Diskussion die Frage aufkam, warum denn lokale Politik und Medien sich weitgehend um das Thema herumdrückten und der Neuen Rechten das Feld für die Popularisierung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit kampflos überließen. Das abschließende Wort von Chris war: „Gottseidank gibt es das Weserbergland-Online- Magazin, das sich der Passivität der lokalen Presse einerseits und andererseits der aggressiven Fremdenfeindlichkeit der Neuen Rechten entgegenstellt. Gäbe es das WOM nicht, wäre die Diskussion über Rassismus in Holzminden und seinem Umland längst im Sande verlaufen und das Thema stillschweigend ad acta gelegt worden.“

                Als Chris sich wieder neben Pierre setzte, dankte dieser ihm für seinen Einsatz. Pierre hatte sich inzwischen von der Attacke gegen ihn erholt und seine übliche Sicherheit wiedergefunden. Er fühlte sich als Deutscher und fühlte sich in Holzminden wohl unter all seinen Freundinnen und Freunden. Das war seine Heimat. Und die Reaktion auf das rassistische Ereignis zeigte ihm, dass er in seiner Heimat geschätzt und unterstützt wurde. Er hatte im WOM nicht versucht, sich selbst zu verteidigen, denn er hatte Angst, allein gelassen zu werden. Er brauchte die Solidarität seiner Freunde und der Menschen in der Stadt, um sein Selbstbewusstsein und seine Stärke wieder zu gewinnen. Deshalb hatte er sich auch statt des Rassismus-Themas das Ebola-Thema aus dem Heimatland seines Vaters herausgesucht.

                Mona war als Nächste dran. Ihr Beitrag handelte von der Islamophobie in Hessisch Oldendorf und Umgebung. Diese Problematik lag auf der gleichen Linie wie die des Rassismus in Holzminden. Mona beschrieb in einfachen Worten das, was sich nach der Verteilung eines Teils der Flüchtlinge aus der Hamelner Linsingen Kaserne nach Hessisch Oldendorf abspielte. Einige Hundert junge Männer aus Afghanistan, Irak, Syrien und Afrika fanden private Unterkünfte in leerstehenden Wohnungen, deren Besitzer froh über die Anmietung vonseiten des Sozialamtes waren. Diese Neuankömmlinge waren bis auf Ausnahmen Muslime. Unter ihnen gab es die eine oder andere kopftuch-tragende Muslimin. Zuerst war die kulturelle Herkunft der Flüchtlinge kein Thema. Immerhin kam gewünschte zusätzliche Miete in die Haushaltskassen der wohnraum-besitzenden Mittelschicht. Alle waren rundum zufrieden: Besitzer von Wohnungen, Flüchtlinge und die Stadtverwaltung. Und die unbescholtene Bürgerschaft spendete eifrig Möbel und andere Gebrauchsgüter, damit sich die Flüchtlinge einrichten könnten. Auch wurden wöchentliche Treffs zwischen Einheimischen und Zugezogenen eingerichtet. Doch bereits Anfang 2016 begannen erste Konflikte am Horizont heraufzuziehen. Die Integration der Flüchtlinge begann mit dem Deutschunterricht, der in Hameln stattfand, und zu dem sie zusammen mit der einheimischen Schuljugend mit öffentlichen Bussen herangekarrt wurden. Trotz Nebeneinander mit deutschen Jugendlichen kam es zu keinem sprachlichen Austausch, lediglich zu einem gegenseitigen neugierigen Bestaunen. Auf dem zentralen Busbahnhof in Hameln taten sich die jugendlichen Muslime zusammen und vergaßen für Momente ihre Isolation. Doch niemand konnte ihnen das Gefühl der Ausgeschlossenheit aus der deutschen Gesellschaft nehmen. Es gab kein Miteinander. In den Umlandgemeinden war ihr Zweitklassendasein und die Sprachlosigkeit mit deutschen Jugendlichen um einiges stärker zu spüren. Doch die hoffnungslose Stimmung unter den jungen Muslimen wurde von ihrer deutschen Umgebung nicht wahrgenommen. Man gewöhnte sich an die Anwesenheit der Ausländer, die man nicht verstand und auch nicht verstehen wollte. Allein es genügte, dass man über die Fluchtlinge an zusätzliches Einkommen kam. Von Integration keine Spur. Die Spracherlernung stotterte gewaltig. Sogenannte Integrationslotsen halfen zwar bei Behördengängen; aber auch das hatte mit Integration wenig zu tun sondern mehr mit der möglichst reibungslosen Verteilung von Milliarden Euros aus öffentlichen Haushalten, die für Unterbringung und Daseinsfürsorge der Flüchtlinge ausgegeben werden mussten. Logisch, dass das für zusätzliche Kaufkraft sorgte und Arbeitsplätze schaffte sowie die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate bei Laune hielt. Selbst im Weserbergland lief so mancher lokale Politiker der GroKo mit geschwellter Brust durch die Landschaft und lobte die wundersame Weiterso-Politik der Kanzlerin. Doch die äußere Beschaulichkeit in Hess. Oldendorf fand im Laufe des Jahres 2016 wie im übrigen Deutschland seine Grenzen. Die durch die Neue Rechte aufgeheizte fremdenfeindliche Stimmung und die durch die verfehlte Integrationspolitik vonseiten der Regierung provozierte Frustration unter den Flüchtlingen führten zu einem gesellschaftlichen Erdbeben, das von den Ballungszentren ausging und bis in letzte Gemeinden spürbar wurde. Mona und ihre Schulkameradinnen wurden immer stärker von den nach Kontakten suchenden jungen Flüchtlingen hofiert, und wehrten sich dagegen mit Indifferenz. Aber ein großer Teil der übrigen Bevölkerung in den Gemeinden schwenkte von Indifferenz zu Islamophobie. Jeder von Muslimen begangene gewalttätige Akt in Deutschland und Europa war Öl ins Feuer der Fremdenfeindlichkeit und wurde der Religion des Islam angekreidet, die angeblich menschenverachtend sei und es darauf anlegte, ganz Deutschland unter ihre Fuchtel zu bringen. So jedenfalls kam es in vielen Haushalten in Hessisch Oldendorf bei den Eltern an, die ihre Kinder vor dem Kontakt mit Flüchtlingen warnten. Die Neue Rechte war in ihrem Element und hatte leichtes Spiel mit einer ängstlichen ländlichen Bevölkerung, die jeden publizierten Messerstich in den Leib als einen persönlichen empfand und ihn als naturwüchsigen Ausdruck einer fremden Kultur deutete. Mit dieser könnte es keine Kompromisse geben. Sie müsste aus der Heimat mit allen Mitteln verbannt werden. Mona zog eine historische Parallele mit dem entstehenden Antisemitismus in der Mitte des 19ten Jahrhunderts. Damals waren die Juden die Feinde in deutschen Landen, die bekämpft werden mussten. Jetzt waren es die Muslime. Für Mona war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die bisherige Toleranz bzw. Indifferenz der deutschen Jugendlichen gegenüber den zugezogenen Flüchtlingen in offene Islamophobie umschlagen würde. Es gab nur wenige Lehrerinnen und Lehrer, die dieses heiße Thema wagten anzusprechen. Mona schlug am Ende ihres Beitrages vor, analog zur offenen Islam-Diskussion im WOM in den Schulen über Islamophobie zu sprechen. Des Weiteren sollte vor allem in Gemeinden ein Dialog mit Flüchtlingen darüber begonnen werden, welche ethischen Grundprinzipien Menschen in Deutschland vereinen und wie diese im Alltag praktisch angewendet werden sollten. Ein sogenanntes Patensystem, bei dem sich deutsche Familien einem bestimmten Flüchtling oder einer Flüchtlingsfamilie annehmen, sei sicher hilfreich für die Integration und den Abbau von Islamophobie.

                Am Ende ihres Beitrages konnte sich Mona ebenfalls nicht über Anerkennung vonseiten der Zuhörer beklagen. Chris, der neben Mona saß, gratulierte ihr und meinte, sie hätte mit ihrem Text voll ins Schwarze getroffen. Zwei Lehrerinnen tuschelten hinter ihren Sitzen, dass man all diese Texte in ein Lesebuch für Schülerinnen und Schüler der Oberstufe zusammenfassen sollte.

                Jetzt war Pierre an der Reihe. Als er auf das Podium stieg, vermuteten viele Zuhörer, er sei das Opfer der rassistischen Schmiererei in Holzminden gewesen. Aber Pierre ließ sich diesbezüglich nicht zu einer Bemerkung hinreißen. Sein Thema ‚Ebola-Epidemie in Guinea‘ sei seinem verstorbenen Vater gewidmet, der schon kurz nach seiner Geburt in Guinea an einer schweren Malaria erkrankt und gestorben sei, während er als junger Straßenbau-Ingenieur dabei beschäftigt war, den Zugang abgelegener Gebiete zu den städtischen Zentren verbessern zu helfen. Das sei nötig gewesen, um vor allem Erziehung und Gesundheit im Land zu fördern. Aber verbesserter Transport, u. a. finanziert durch Deutschland und die EU,  diente auch dazu, die mineralischen Bodenschätze des Landes schneller und kostengünstiger in die reichen Länder des Nordens zu exportieren, vor allem Bauxit zur Aluminium-Herstellung. Pierre ging kurz auf die Geschichte des westafrikanischen Landes zwischen Senegal und der Elfenbeinküste ein, das nach seiner Unabhängigkeit von Frankreich im Jahre 1958 beinahe ausschließlich unter diktatorischer Herrschaft zu leiden hatte. Erst nach 2010 erfreute sich das Land einigermaßen demokratischer Verhältnisse. Jedoch wurden erste Ansätze, das Erziehungs- und das Gesundheitssystem zu verbessern durch die im Lande ausgebrochene Ebola-Epidemie, die dann auch Liberia und Sierra Leone heimsuchte, völlig zunichte gemacht. Die Epidemie währte in den Jahren 2014 und 2015 und forderte etwa 2.500 Todesopfer von insgesamt knapp 5.000 Erkrankten. Im gleichen Zeitraum gab es wegen des totalen Zusammenbruchs des Gesundheitssystems zusätzlich massenhaft Malaria-Todesfälle. Das Land ist eines der rückständigsten Länder der Welt mit einer Analphabetenquote von mehr als 50%. Pierre hob hervor, dass den Menschen im Weserbergland das Schicksal der Heimatländer der Migranten nicht egal sein dürfte. Armuts-Flüchtlinge und politische Flüchtlinge aus Guinea und anderen Ländern flüchteten nach Deutschland, weil die Lebensbedingungen kein sicheres und würdiges Leben in den Heimatländern erlaubten. Ob die Menschen im Weserbergland das wollten oder nicht, die Heimat-Wurzeln von Migranten würden bis in kleinste Gemeinden des Weserberglandes reichen. Auch fast zwanzig Millionen deutsche Auswanderer hätten einst zwischen der Mitte des 19ten und Mitte des 20ten Jahrhunderts Deutschland aus Armuts- und politischen Gründen verlassen und anderswo eine neue Heimat gefunden. Pierre wollte sich nicht mit der Tatsache abfinden, dass jetzt nach der Ebola-Epidemie das Heimatland seines Vaters schutzlos der sich anbahnenden Invasion von ausländischen Konzernen ausgeliefert sei, die nach den reichen Rohstoffen Gold, Diamanten, Bauxit und Eisen gieren würden. Es müsse schnellstens der Bildungsstand von Jungen und Mädchen verbessert werden, denn Bildung sei die beste Verteidigung gegen schamlose Ausbeutung und auch die beste Vorbeugung gegen Flucht aus der Heimat. Schulen des Weserberglandes könnten Patenschaften für guineische Grundschulen übernehmen, in denen Lehrer oft kaum des Lesens und Schreibens mächtig wären, und in denen wegen der Geschlechter-Diskriminierung auf zehn Jungen im Schnitt nur ein bis zwei Mädchen kämen.

                Der Beitrag von Pierre rief neben begeistertem Beifall auch Zustimmung zu seinem Vorschlag nach Schul-Partnerschaften mit Guinea hervor. Jasmin verwies auf das WOM, in dem die Diskussion unter dem Stichwort Guinea-Partnerschaften weitergeführt werden könnte. Jetzt kam Simone als Letzte auf die Bühne. Dass ihr Thema der weiblichen Genitalverstümmelung das westafrikanische Guinea als Beispiel für diese eklatante Menschenrechtsverletzung heranzog, war zufällig. Doch zusammen mit Ägypten war Guinea das Land mit dem höchsten Prozentsatz an Frauen, nämlich mehr als 95%, denen das Recht auf Unversehrtheit ihres Körpers zumeist schon vom Kindesalter an verwehrt wurde.

                Simone begann sich mit diesem Thema erstmalig auseinanderzusetzen, als in der Schule über physische und psychische Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, von Männern gegenüber Frauen diskutiert wurde. Dieses Phänomen in seinen unterschiedlichsten Schattierungen ist vielen Schülerinnen aus eigenen Familien bekannt. In jedem Fall ist Gewalt gegenüber Frauen unentschuldbar und bedeutet eine Menschenrechtsverletzung, gegen die juristisch vorgegangen werden kann und soll. Doch das geschieht selbst in Ländern wie Deutschland oft nicht, da die häufigste Form von Gewalt in familiärer Umgebung ausgeübt wird und sich Mädchen wie Frauen psychisch außerstande sehen, sich zur Wehr zu setzen. Die Diskussion über die Beschneidung von Jungen lenkte dann die Aufmerksamkeit auf die sogenannte Beschneidung von Mädchen und Frauen, gegen die seit Jahrzehnten weltweit vorgegangen wird. Sie unterscheidet sich grundsätzlich von der Beschneidung von Jungen. Es gelang eine internationale Ächtung dieser millionenfach angewandten Praktiken von Verstümmelung der weiblichen Genitalien und der Beraubung weiblicher Sexualität von weltweit geschätzten mehr als 200 Millionen Frauen besonders in Afrika aber auch in weiten Teilen Asiens. Die Rechtfertigung dieser Praktiken, sie beruhten auf kulturellen und religiösen Traditionen seit der Antike bis heute, versucht im Grunde den Herrschaftsanspruch von Männern über Frauen aufrechtzuerhalten, selbst wenn die Praktiken von Frauen und oft auch von eigenen Müttern durchgeführt werden. Simone recherchierte über das Beispiel Guinea und war der Meinung, dass das offizielle deutsche Regierungs-Engagement gegen weibliche Genitalverstümmelung dort nicht ausreichen würde. Auch deutsche Mädchen und Frauen sollten sich direkt engagieren, ihren Geschlechtsgenossinnen in anderen Teilen der Welt solidarisch beizustehen. Sie konnte sich vorstellen, dass in ihrer Schule beispielsweise eine Aufklärungs-Kampagne ins Rollen gebracht werden könnte, die die Gewalt von Männern gegenüber Mädchen und Frauen in deutschen Familien mit der Gewalt in Form von Genitalverstümmelung verknüpfen würde. Am Ende ihres Beitrages bemerkte sie noch, dass der Vorschlag von Pierre, eine Patenschaft mit einer Grundschule in Guinea aufzunehmen sehr gut ergänzt werden könnte mit ihrer Idee, die Mädchen gerade dieser Schule mit einer geeigneten Kampagne vor Genitalverstümmelung zu schützen und dadurch auch ihren Schulbesuch zu fördern.

                Auch Simone erntete positive Resonanz für ihren Beitrag. Die Veranstaltung in der Sumpfblume wurde durch Jasmin offiziell beendet. Sie bedankte sich für die ausgezeichneten Beiträge, die alle im WOM veröffentlicht würden und dort auch anonym bewertet werden könnten. Ebenso dankte sie den zahlreichen Zuhörern für ihr Erscheinen und Interesse und lud für die nächste Lesung ein. Bevor sich das Auditorium dann in viele kleine Grüppchen auflöste, wurde Jasmin und das WOM nochmals gefeiert für die Initiative des Schreibwettbewerbes.

                Auf der Autofahrt zurück nach Holzminden fragte Chris seinen Freund, ob er den Zwischenrufer erkannt hätte. Chris meinte jedenfalls, diesem Mann in Holzminden bereits begegnet zu sein. Vielleicht wäre er auch der Urheber der rassistischen Wandparole an seinem Wohnblock. Pierre war sich nicht so genau sicher: „Doch in Zukunft müssen wir auf diesen Typen Acht geben, um ihn öffentlich zur Rede zu stellen.“

                „Pierre, eine andere Sache. Wie fandst Du Mona und Simone? Tolle Mädchen, nicht? Vielleicht treffen wir sie auf der Demo während der Abi-Feier in Hameln. Darauf freue ich mich schon. Mami, wie laufen die Vorbereitungen auf Deine Wahlveranstaltung während der Abi-Feier in Hameln? Hoffentlich tauchen da nicht solche Störer auf wie heute in der Sumpfblume.“ 

                Jasmin kam etwa eine Stunde später aus Hameln nach Holzminden zurück. Vor dem Schlafengehen versuchten sie, Regina und Chris ein Fazit über die heutige Leseveranstaltung zu ziehen. Insgesamt waren sie froh, dass das Echo vonseiten der Zuhörer so positiv ausgefallen war. Sie waren gespannt darauf, wie Morgen im WOM und auch in der lokalen Presse das Urteil über die Veranstaltung ausgehen würde. Aber Eines wurde immer deutlicher: Das WOM geriet zur besten Stütze für Reginas Wahlkampagne einer unabhängigen Bürger-Bewegung. Die beiden Freundinnen befanden sich im ideellen Gleichschritt zur Ermutigung von freiem Denken und Zivilcourage. Das gemeinsame Schlafengehen, das sie jetzt so oft suchten, wie es ihre unterschiedlichen Aktivitäten ermöglichten, besiegelte ihr Verständnis, jetzt mit Chris eine kleine Familie zu bilden.

 

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