22 Okt 2018

Die kranke deutsche Demokratie - 13. Folge

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie - 13. Folge

 

Fiktion: Pakt zur Beseitigung Jasmins auf der Ottensteiner Hochebene und

Demo zur Abi-Feier in Hameln

Foto: Wikimedia Commons, Ottensteiner Hochebene, Autor: Axel Hindemith

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Jäger schäumte innerlich, ließ sich aber nichts anmerken. Er saß mit Rainer in seinem Wagen, den er auf einem Seitenstreifen der Landstraße zwischen Ottenstein und Hehlen an der Weser geparkt hatte. Eigentlich sollte er gut gelaunt sein. Die Sicht von der Ottensteiner Hochebene hinunter zur Weser war malerisch, der Spätnachmittag angenehm. Es wäre die rechte Gelegenheit, in Ottenstein einen Cappuccino mit Kuchen in einem Gartenkaffee zu genießen. Aber nein, stattdessen musste er sich konspirativ mit Rainer, der seinen Wagen auf der gegenüberliegenden Seite der Straße geparkt hatte, in seinem Auto verstecken. Er war zu bekannt im Weserbergland, als dass er hätte riskieren können, mit Rainer in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Rainer war für ihn eine äußerst nützliche, jedoch zwielichtige Person, dessen Spürnase Jäger schätzte. Es ging niemanden etwas an, was die beiden Männer verband. Die Wut Jägers war nicht gegen Rainer gerichtet, sondern gegen das Weserbergland-Online-Magazin, gegen dessen verantwortliche Redakteurin Frau Jasmin und gegen die parteilose Bürger-Kandidatin Frau Regina. Bisher war es ihm nicht gelungen, das WOM-Projekt zu Fall zu bringen. Zu seinem Ärger lockte es jeden Tag mehr Leser und Schreiber an, und die Follower von Frau Reginas persönlicher Website in dem WOM waren inzwischen Zig-Tausende. Dagegen loggten sich auf den Seiten der etablierten Parteien nur einige Hundert Nutzer ein. Der Kandidat der Konservativen präsentierte sich dort in Schlips und Kragen wie ein gewissenhafter Buchhalter und mit dem gängigen Spruch auf den Lippen: „Weiterso mit der Kanzlerin für ein blühendes Weserbergland und ein lebenswertes Deutschland“. Leider könne der Kandidat der Konservativen noch nichts Genaues über das Programm der Partei sagen, denn die Partei-Oberen seien noch mit der Austüftelung von konkreten Punkten beschäftigt. Aber so viel stünde schon jetzt fest: Die Kanzlerin würde auch in Zukunft das Steuer des Landes unbeirrt gegen alle Stürme in der Hand halten. Der Sozi-Kandidat pries sich selbst als jungen und dynamischen Parteisoldaten mit besten Connections zum Kanzlerkandidaten und zur Parteivorsitzenden an, als ob sein Alter und seine von klein auf verfolgte Parteikarriere bereits die geforderte Qualifikation für einen Abgeordneten darstellten. Die parteilose Kandidatin Frau Regina machte einen ebenso jungen doch weitaus attraktiveren und kompetenteren Eindruck. Sie war um etliches älter als der Jung-Sozi, hatte jedoch den Vorteil, keinen Fünftage-Bart zur Schau zu tragen. Mit den in den letzten Jahren sexy-gewordenen David-Beckham-Bärten konnte sie nicht mithalten, die der weiblichen Wählerschaft Virilität und politischen Durchblick vorgaukeln sollten. Wer immer in der aufstrebenden Jungmänner-Welt auf Karriere aus sei, müsste sich dieser Gesichtsverschönerung verschreiben, ansonsten könne man bei der Damen-Welt, der schöneren Hälfte der Menschheit, keinen Stich machen. Davon waren jedenfalls die Partei-Marketingstrategen überzeugt. Regina ließ sich von derlei Gedankenspielen nicht beeinflussen und trumpfte stattdessen mit konkreten Zielen auf, die die Lebensbedingungen vieler bisher ausgegrenzter Menschen zu verbessern versprachen. Und ihrem Charme, Charisma, Unabhängigkeit und Warmherzigkeit konnten nur wenige Menschen widerstehen.

                Der unermüdliche Kämpfer der Konservativen im Weserbergland hatte auch mit reichlicher Verbitterung von der jüngsten Leseveranstaltung des WOM in der Hamelner Sumpfblume Kenntnis genommen. Selbst die bürgerliche Presse und das lokale Radio berichteten beflissen über das von ihrer verhassten Konkurrenz veranstaltete Ereignis. Sie waren einfach dazu verdammt, wenn sie nicht noch mehr Leser und Hörer verlieren wollten. Das WOM hatte eine derartige Breitenwirkung in der Bevölkerung erreicht, dass die etablierten Medien gar nicht anders konnten, als dem WOM hinterherzulaufen. Dieses hatte nur eine festangestellte Journalistin in der Region dafür aber inzwischen Hunderte von freiwilligen Bürger-Journalisten, die aus allen Gemeinden des Weserberglandes Nachrichten zusammentrugen und eigene Berichte verfassten. Die Veranstaltung war bisher in diesem Wahljahr das herausragende kulturelle Ereignis, das ausschließlich von Beiträgen junger Menschen aus der Region getragen war. Selbst die Schulen mussten neidlos anerkennen, dass die Qualität der Arbeiten der jungen Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrlinge bei Weitem das übertraf, was gemeinhin in Schulaufsätzen produziert wurde. Das Verdienst daran gebührte in erster Linie Jasmin und den jungen Menschen selbst, die sich durch ihre Diskussionen im WOM gegenseitig zu beachtlichen journalistischen und literarischen Arbeiten hochschaukelten. Presse und Radio lobten die Texte über den grünen Klee und konnten nicht anders, als die kommenden Lesungen anzukündigen. Es schien, dass die Jugend des Weserberglandes aus dem Häuschen geraten sei und sich mit Macht eigenständig auf die Suche nach der Zukunft begeben hätte. Und darauf könnte doch diese sonst so wie der Weserfluss gemächlich dahintreibende Region stolz sein. Jäger notierte ebenfalls widerwillig, dass der erst 15jährige Sohn von Frau Regina das Thema ‚Rassismus in Holzminden‘ wieder aufgewärmt hatte. Musste das sein? Das könnten die Konservativen zu Wahlzeiten überhaupt nicht gebrauchen. Böse Zungen würden das womöglich zum Nachteil der Partei auf deren Verharmlosung des Problems schieben. Dabei hatte er persönlich zu Zeiten seiner politischen Verantwortung den Ruf eines Neonazi-Jägers erworben. Heutzutage müsste das verschämte Verschweigen von Rassismus den Sozis in die Schuhe geschoben werden, die den Verfassungsschutz nicht mehr unter der straffen Kontrolle hätten wie zu seiner Glanzzeit.      

                Trotz aller Schwarzseherei über seine Partei und ihren Direktkandidaten wollte sich Jäger den zwei Frauen nicht geschlagen geben. Deswegen sah er sich genötigt, Rainer neue Instruktionen geben. „Lassen wir ab jetzt die Neue Rechte außen vor. Ich erwarte von Ihnen zukünftig an jedem Montagnachmittag einen Bericht über das WOM und die beiden besagten Frauen. Priorität ihrer Beobachtungen ist, wie sich die Leserzahl des WOM entwickelt und vor allem, welche neuen Nutzer werden da angezogen. Dazu müssen sie unbedingt die Aktivitäten von Frau Jasmin unter die Lupe nehmen. Meine Güte, hätten wir so eine Frau in unserer Partei, könnte ich mich unbesorgt zurücklehnen! Weitere Priorität sind die Aktivitäten der Bürger-Kandidatin und die Entwicklung ihrer Follower und Bürger-Komitees. Gegen ihr populistisches Wahlprogramm und die Möglichkeit der Mitsprache bei der Ausformulierung dieses Programms durch den Bürger können wir etablierten Parteien wenig ausrichten. Es gibt nur zwei Dinge, auf die wir setzen können. Erstens: Wählerinnen und Wähler sehen das Programm als eine sozialromantische Wunschvorstellung an, die der Wirklichkeit nicht standhält. Zweitens: Frau Jasmin passiert etwas bzw. bekommt Angst, mit dem WOM-Projekt weiterzumachen. Ist Frau Jasmin einmal weg vom Fenster, wird niemand sie ersetzen können. Dazu ist die Online-Plattform noch zu jung und würde in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Frau Jasmin ist sozusagen die Lebensversicherung von Frau Regina und das schöne Gesicht und die Seele des WOM. Würde Frau Jasmin mit ihrem Migrationshintergrund von den Anwürfen der Neuen Rechten mürbe gemacht werden und frühzeitig die Löffel wegschmeißen, wäre das für uns wie ein Sechser im Lotto.“

                „Herr Jäger, über Eines kann ich Sie schon informieren. In den letzten zwei Wochen melden sich vermehrt alleinerziehende Frauen im WOM an. Auch gibt es die ersten Rentnerinnen aus der Arbeiterwohlfahrt, die sich im WOM tummeln. Es scheint, Frau Jasmin gelingt es, die AWO und die Volkshochschulen davon zu überzeugen, älteren Menschen erste Computerkenntnisse zu vermitteln, damit sie im Internet surfen können. Für beide Gruppen scheint das von Frau Regina propagierte Grundeinkommen wie ein Köder zu wirken.“ „Mein Gott, auch das noch! Unsere treueste Klientel! Wenn wir die auch noch verlieren, dann bleiben uns nur noch die Hausbesitzer als sicherste Wählerschaft. Dabei haben wir doch gerade das Kindergeld um zwanzig Euro erhöht. Auch die Renten steigen. Für die Niedrigrentner sind das mindestens fünf Euro mehr im Monat. Glücklicherweise ist unsere Kanzlerin eine sichere Bank. An der zerplatzt der Schulz wie eine Seifenblase. Mann, wie gesagt, bleiben Sie am Ball.“ „Noch ein Letztes, Herr Jäger. Sie haben sicher schon gehört, dass die parteilose Bürger-Kandidatin zu einer ersten öffentlichen Wahlveranstaltung auf dem zentralen Platz vor dem Hochzeitshaus in Hameln aufgerufen hat, und das gerade am Tag der Abi-Feier. Es scheint, dass selbst die Abiturienten und Lehrlinge aller Hamelner Schulen sie zu diesem Termin gedrängt haben, da sie die Veranstaltung für die Propagierung ihrer zwei Hauptforderungen nutzen wollen, nämlich Errichtung einer Uni in Hameln und Grundeinkommen für alle von 1.100 Euro.“

                „Ja, ich habe davon gehört. Das ist ein erneuter Schlag ins Kontor der Bundestagsparteien. Was sollen wir dagegen machen? Organisieren wir eine Gegendemonstration, dann haben wir die Jugend vollends vergrault. Und am Tage ihres Abiturs sind die jungen Leute zu allem fähig. Das kenne ich aus meiner Jugendzeit. Wir können nur aufmerksam beobachten, wie sich die Veranstaltung entwickelt. Gerät sie außer Kontrolle, weil die jungen Menschen bereits einen Schluck zu viel intus haben, dann wäre das ein gefundenes Fressen, um die ganze Veranstaltung zu denunzieren und die Exzesse auf die Bürger-Kandidatin zu schieben.“ 

                Zum Abschied verhandelten Jäger und Rainer noch über die Bezahlung der Spitzeltätigkeit. Als das zur Zufriedenheit von Rainer erledigt war, machte sich dieser schleunigst aus dem Staub.

                Jäger lehnte sich erst einmal im Sitz zurück und schaute wie geistesabwesend ins Wesertal hinunter. Bald würde die Dunkelheit hereinbrechen. Könnte er Rainers Tätigkeit aus der Parteikasse entgelten? Oder wäre es besser, ihn aus eigenen Mitteln zu bezahlen. Nun, darüber könnte er später noch räsonieren. Jetzt würde er erst einmal zuhause zu Abendbrot essen, bevor er dann noch auf eine örtliche Parteiversammlung eilen müsste. Hoffentlich würde ihn seine Frau nicht wieder mit Bemerkungen quälen wie: „Du siehst in den letzten Wochen immer so abgehetzt aus. Nimm Dir doch endlich einmal Urlaub! Die Kanzlerin kommt in Niedersachsen auch ohne Dich zurecht.“ Oh, wie gut es doch ist, dass seine Frau nicht in sein Inneres hineinsehen kann! Wenn sie wüsste, wie die parlamentarische Demokratie im Wahlkreis bedroht ist, würde sie auch so schlecht schlafen wie er. Schließlich ließ er den Motor an und fuhr hinunter nach Hehlen an die Weser und von dort aus nach Bodenwerder. Während der Fahrt beruhigten sich seine Nerven. Er wusste, dass Rainer ganze Arbeit machen würde. Was er nicht wusste, war, dass Rainer das Gespräch im Auto heimlich aufgenommen hatte. Rainer war beileibe kein Anfänger und musste sich gegen alle Eventualitäten absichern.                           

 

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Niemand hatte mit einem derartigen Andrang gerechnet. In der Osterstrasse von Hameln auf Höhe des Rattenfängerhauses hatten sich ab 10 Uhr morgens Scharen von Menschen eingefunden. Die von Regina angemeldete Demo sollte um 11 Uhr den Marsch durch die Osterstrasse bis vor das Hochzeitshaus und die Marktkirche antreten, um pünktlich um 12 Uhr mit der Wahlveranstaltung der parteilosen Bundestagskandidatin zu beginnen. Die Demo war gleichzeitig mit der Abi-Feier angesagt, zu der Hunderte von Schülerinnen und Schüler bunt verkleidet erschienen. Gerade sie hatten auf die Demo gepocht, um ihre Forderungen nach einer Uni in Hameln und nach einem Grundeinkommen für Schüler und Studenten, für alleinerziehende Mütter sowie für Niedrig-Rentner lautstark zu propagieren. Das sollte am Ende ihrer schulischen Laufbahn der Höhepunkt werden, bevor die aus betuchten Familien stammenden jungen Menschen unter ihnen notgedrungen das Weserbergland auf der Suche nach Studienplätzen verlassen würden. Die weniger Betuchten waren gezwungen, in Hameln und Umgebung eine Lehre zu beginnen oder erst einmal nach Billig-Jobs Ausschau zu halten. Nach der politischen Veranstaltung war für den Nachmittag die große Abi-Sause auf der Weser-Insel vorgesehen. Außer den Abiturientinnen und Abiturienten waren alle von Regina aufgestellten Bürger-Komitees aus dem Wahlkreis erschienen, dazu viele Mütter mit ihren kleinen Kindern, Rentnerinnen und Rentner und selbst eine bedeutende Gruppe von Behinderten in Rollstühlen.

                Die Stadtverwaltung hatte anfangs versucht, die Veranstaltung aus formalen Gründen zu verbieten. Doch schließlich wurde sie genehmigt. Offensichtlich hatten die Verantwortlichen Randale vonseiten der Schüler an diesem Tage befürchtet, wenn die Wahlveranstaltung mit ihren politischen Forderungen nicht mit der Abi-Party verbunden würde. Schon zwei Wochen vorher wurde im WOM ausführlich über das bevorstehende Ereignis diskutiert und die jungen Menschen hatten sich vehement für die Demo ausgesprochen. Regina mit den Bürger-Komitees und die Polizei waren für den geordneten Ablauf der Veranstaltung verantwortlich und sprachen alle erforderlichen Maßnahmen vorher ab. Die etablierten Parteien machten gute Miene zum bösen Spiel. Das Einzige, was sie erhoffen konnten, war eine geringe Teilnahme an der Veranstaltung und eventuell ein komplettes Ausufern mit strafrechtlichen Konsequenzen. Ob die Neue Rechte die Gelegenheit nutzen würde, um die Veranstaltung gewaltsam zu stören und mit fremdenfeindlichen Parolen aufzuwarten, war die große Unbekannte an diesem Tag.

                Der Marsch zum Hochzeitshaus geriet zur größten Demo seit Jahren in Hameln. Weit über zweitausend Menschen nahmen bei schönstem Juni-Wetter daran teil und gestalteten die Demo zu einem bunten, friedvollen und würdigen Treffen von unterschiedlichsten Menschen aus nah und fern. Es herrschte Feiertagsstimmung. Freude und Engagement gleichzeitig prägten dieses Ereignis. Verschiedenste Botschaften wurden auf Transparenten getragen. Darunter war u. a. zu lesen: „Regina nach Berlin“, „Bürger-Macht vor Parteien-Macht“, „Der Bürger ist der Souverän, nicht der Parteifunktionär“, „Grundeinkommen für Schüler, Studenten, Lehrlinge, Rentner, alleinerziehende Mütter, Behinderte und Arbeitslose.“, „Aufhebung von Agenda 2010 und HartzIV“, „Uni in Hameln“, „Förderung von Öko-Landwirtschaft“, „Ende der Massentierhaltung im Weserbergland“, „Ende der Zerstörung des Weserberglandes durch Chemie“, „Sofortige Abschaltung des AKW-Grohnde“.

                Regina hielt auf dem Podium vor dem Hochzeitshaus eine flammende Rede, die immer wieder durch Applaus unterbrochen wurde. Von einer derartigen Veranstaltung konnten die etablierten Parteien nur träumen. Auch zahlreiche junge Menschen, Mütter, Rentner, Behinderte und Arbeitslose stiegen aufs Podium, hielten kurze Ansprachen und wünschten Regina und den Abiturienten und Lehrlingen viel Glück. Jeder Einzelne wurde begeistert beklatscht. Der Grund-Tenor all dieser Meinungen war: Wenn bei Reginas Wahl in Berlin niemand auf ihre politischen Forderungen einginge, würden die Bürger des Weserberglandes den Marsch auf die Bundeshauptstadt antreten. Auf einem solchen Marsch würden sich auch Bürger anderer Regionen anschließen. Es gelte jetzt in dieser Weiterso-Republik vor allem: „Bürger-Wille geht über Politiker-Wille“ und „Das Zeitalter der Bürger-Emanzipation hat begonnen“. Einigen Alt-68ern, die sich ebenfalls eingefunden hatten, kamen fast die Tränen, dass 50 Jahre nach ihrer Protestbewegung die Jugend abermals aufzuwachen schien. Im Rahmen ihres Schlusswortes kündigte Regina eine mögliche Weserbergland-Tour in den Sommerferien für die Daheimgebliebenen an. Sie würde diesbezüglich im WOM eine Anfrage lancieren. Kämen genug Interessenten zusammen, ginge man gemeinsam an die Planung einer solchen Tour. 

                Zwei kleine Gruppen von Anhängern der Neuen Rechten versuchten, fremdenfeindliche Parolen grölend, von der Emmern- und Ritterstrasse Zugang zur Veranstaltung zu erzwingen. Doch die Polizei hatte vorsorglich bestens abgesperrt.

                Nach Beendigung der friedlich verlaufenden politischen Veranstaltung vor dem Hochzeitshaus begaben sich die Abiturientinnen und Abiturienten hinüber auf die Weser-Insel, um mit ihrem Happening zu beginnen. Für Getränke, Verpflegung und Musik war gesorgt. Dieses Jahr war die Abi-Feier eine ganz besondere, denn sie war mit einer starken politischen Botschaft verbunden, dass junge Menschen selbst für ihre Zukunft verantwortlich sind und dafür auch bereit seien zu kämpfen.                  

                Chris und Pierre waren begeisterte Teilnehmer dieser Demo. Es war ihre erste und sie hinterließ eine bleibende Erfahrung von Solidarität unter Menschen gleichen guten Willens. Gemeinsam könne man viel bewegen, unterkriegen gäbe es nicht. Beide hatten sich mit Mona und Simone zusammengetan, die aus Hessisch Oldendorf angereist waren. Regina ließ die jungen Leute allein in Hameln zurück. Sie würden später mit dem Bus nach Hause kommen. Jasmin begleitete die Demo möglichst unauffällig, um Fotos zu machen und die Stimmung der Teilnehmer einzufangen. Doch das war gar nicht so leicht, da sie inzwischen eine der bekanntesten Gesichter im Weserbergland war, besonders bei den Jugendlichen.

                Regina und Jasmin fuhren getrennt nach Holzminden zurück. Man könne nie wissen, zu was böse Zungen fähig seien. In Holzminden angelangt machte sich Jasmin unmittelbar an die Ausarbeitung einer Reportage über die Demo, gespickt mit Fotos und kurzen Videos, die sie noch am selben Abend ins WOM einstellte. Sie war gespannt, wie die bürgerlichen Medien reagieren würden, denn diese Veranstaltung war ein großartiger Erfolg für die parteilose Regina und sicher für die Bundestagsparteien und ihre Direktkandidaten schwer zu verdauen. Viele von diesen hatten bereits das Drucken von Plakaten geplant mit Parolen wie: „Merkel kommt!“, „Nahles spricht“, „Schulz auf dem Pferdemarkt“, „Oskar redet“, „Özdemir in der Sumpfe“, und viele mehr. Allein wann all diese Politgrößen erscheinen und mit welchen politischen Programmen sie hausieren würden, stand noch in den Sternen. Erst in der heißen Phase des Wahlkampfes nach den Sommerferien würden die Parteistrategen in deren Zentralen recht und schlecht durchblicken. Derweil stünden die treuen Vasallen in der Provinz auf ‚Stand-by‘, versuchten ihre lokalen Anhänger bei Laune zu halten und warteten auf Order von Oben. Auf jeden Fall würden etliche Partei-Großkopferten in die Provinz zum unbedarften Bürger kommen. Im Gegensatz dazu war Reginas Botschaft durch die Blume: „Berlin, pass auf! Der Bürger aus der Provinz kommt, um der Politik zu zeigen, wo es zukünftig langzugehen hat!“

                Chris kam mit dem letzten Bus. So einen aufregenden Tag hatte er bisher nicht erlebt: Er war so stolz auf seine gefeierte Mutter inmitten einer riesigen Menschenmenge, die nach politischem Aufbruch verlangte. Wie von unsichtbarer Hand geleitet wurde er von dieser Stimmung mitgerissen. Und das Tollste war, dass er das zusammen mit seinem besten Freund Pierre und den beiden neuen Freundinnen Mona und Simone aus Hess. Oldendorf erlebte. Bevor die Vier sich voneinander verabschiedeten, hatten sie sich fürs kommende Wochenende zu einer gemeinsamen Radfahrt an der Weser verabredet.

                Beim Frühstück am nächsten Morgen stellten Chris, Regina und Jasmin fest, dass die gestrige Demo und Abi-Veranstaltung in aller Munde war. Die lokalen Medien konnten nicht anders als darüber auf den ersten Seiten ausführlich zu berichten und zu kommentieren. Es schien, als ob sich Regina zu einer Favoritin im Wahlkreis herauskristallisierte, an der sich die Kandidaten der anderen Parteien zu messen hätten. Wer konnte sich schon daran erinnern, dass eine Kandidatin oder ein Kandidat aus der Region eine derartige Menschenmenge begeisterte. Doch wie auch bissige Kommentare bemerkten, war diese Aufbruchsstimmung im Weserbergland der Existenz des WOM und seiner Redakteurin zu verdanken, die die Leser anzogen wie die Blüten die Bienen. Das Tandem der beiden Frauen Jasmin und Regina schien unaufhaltbar zu sein. Wenn Regina tatsächlich in den Bundestag gewählt würde, wäre das in der parlamentarischen Geschichte der Republik eine Sensation sondergleichen. Es gab auch politische Einschätzungen, dass der Hype um Regina und ihre Bürger-Bewegung ein vorübergehendes Strohfeuer sei wie auch beim Kanzlerkandidaten der Sozis, dessen Lack bereits gehörig abblätterte. Und die Konservativen hofften auf den gemeinhin ‚schweigenden Bürger‘, der in den letzten zwölf Jahren immer rechtzeitig zu Wahlen aus dem Loch gekrochen käme, um treu Madame Kanzlerin zu huldigen.

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