24 Okt 2018

Die kranke deutsche Demokratie -14. Folge

Submitted by Hermann

Die krankte deutsche Demokratie - 14 Folge 

 

Die Schlinge um Jasmin beginnt sich zuzuziehen

Realitaet: Unterschriften-Sammeln in Bad Pyrmont

 

Foto: Hylliger Born, Autor: Staatsbad Pyrmont 

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Es gibt Tage, die sind für einen parteilosen, unabhängigen Wahlkämpfer einfach zum Kotzen: Ohnmacht, Angst, Obrigkeitshörigkeit und Wut des Bürgers schlägt mir entgegen

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Wie sind die anscheinende Begeisterung für eine unermüdliche ‚Weiterso-Kanzlerin‘ und die übrige Zustimmung zu den etablierten Parteien zu erklären? Was geht in der Seele eines deutschen Durchschnittsbürgers im Wahljahr 2017 vor? Diese Fragen stelle ich mir immer wieder beim Sammeln meiner Unterstützer-Unterschriften.

                Unlängst war Unterschriften-Sammeln in der Fußgängerzone von Bad Pyrmont, nahe Hylliger Born, angesagt, an einem frischen Dienstagmorgen. Meine Erinnerung an die Stadt aus Schulzeiten war verblasst. Umso erstaunter war ich, Pyrmont als „Mini-Baden-Baden“ wieder zu erleben. Sehr mondän, betuchte Kurgäste und Einwohner mehrheitlich betagten Alters, meines Alters, jedoch nicht meines bescheidenen Geldbeutels, wenig junges Volk und einige sofort identifizierbare Menschen aus dem Niedriglohnsektor.

                Das Sammeln war gelinde gesagt ein totaler Reinfall. Lag es an unserer sichtbaren ‚Piraten-Präsenz‘, die in derart einkommensstarker Umgebung fehl am Platze war, einer Umgebung, die abgehalfterten Abgeordneten und pensionierten hohen Staatsbeamten sowie ehemaligen Diplomaten und ermüdeten Wirtschafts-Kapitänen gut zu Gesicht steht? Hier regiert das Geld der Republik, nicht der Niedriglohnsektor! Das bekamen wir geballt zu spüren. Wir wurden schlichtweg ignoriert. Rief unsere Gegenwart ein schlechtes Gewissen hervor, dass es außer Sattheit und Merkel-Seligkeit auch ein anderes Deutschland gibt? Wir hielten denn auch nur drei Stunden durch und machten uns danach aus dem Staub. Was hatten wir hier zu suchen?

                Ich ging danach allein in einer Vorortgemeinde von Hameln auf die Suche nach dem Niedriglohnsektor in einem schlichten Areal des sozialen Wohnungsbaus. Dreistöckige Wohnblöcke mit jeweils 18 Wohneinheiten. Spielgelegenheiten für Kinder nahezu Fehlanzeige. Hier müsste doch wenigstens ein Funken von Rebellion gegen herrschende gesellschaftliche Zustände zu finden sein? Doch Fehlanzeige. Durchweg barsche Ablehnung von Menschen, die argwöhnisch aus Türspalten lugten. Wenn Wortfetzen zustande kamen, dann etwa so: „Wir werden sowieso nicht von denen ‚da oben‘ gefragt. Wir wollen von Politik nichts wissen, und die Politik will nichts von uns wissen. Machen Sie sich keine Illusion. Was Sie vorhaben (Stärkung des Bürgerwillens und Eroberung der Volkssouveränität) ist vergebene Liebesmüh.“

                Abweisende Reaktionen von Menschen meines Alters in diesen frühen Nachmittagsstunden wurden häufig auch begleitet durch die Frustration über Niedrigrenten um die 600 bis 800 Euros, die keinerlei kleinste Extras erlauben. Auf meinen Vorschlag, für ein Grundeinkommens von 1.100 Euro pro Erwachsenen (derzeitige Armutsgrenze in Deutschland) zu kämpfen, und gegebenenfalls dafür nach Berlin zu marschieren, kam immer wieder die stereotype Antwort: „Wir können ja doch nichts machen.“ 

                Doch dieser außerordentlich hässliche Tag des Unterschriften-Sammelns wurde gegen Abend dann doch noch durch drei erfreuliche Begebenheiten aufgehellt: Zwei Deutsch-Russinnen unterschrieben nach einer guten Diskussion von jeweils einer halben Stunde mit vollem Herzen und meinten, es müsse etwas geschehen, so könne es politisch nicht weitergehen. Die eine war eine 80jährige, intelligente, hochgewachsene blonde Dame, die glatt als eine pensionierte Künstlerin durchgehen konnte, Schauspielerin, Sängerin, Malerin oder dergleichen. Sie ging mit mir meine verschiedenen politischen Forderungen durch. Dabei wurden wir immer wieder durch ihren Gatten unterbrochen (ich fragte mich, wie sie an so einen Gatten gekommen sein könnte), der unsere Konversation absolut unterbrechen wollte, was jedoch von der Dame strikt abgelehnt wurde. Sie unterschrieb energisch und wünschte mir viel Erfolg.

                Die andere Deutsch-Russin arbeitet im Pflegeheim und hat eine schwierige Familiengeschichte hinter sich. Der Einsatz für eine humanistisch ausgerichtete bürgerbestimmte Republik im Gegensatz zu einem Parteienstaat war ihr ungemein wichtig.

                Ja, und dann war da noch ein 84jähriger deutscher Rentner an der Bushaltestelle, von der aus ich nach Hause fuhr. Wir unterhielten uns angeregt etwa eine halbe Stunde lang, während ich auf den Bus wartete. Der Rentner saß hier seine trübe Abendstunde ab, bevor er nach Hause in seine Sozialwohnung streben wollte. Und ich hatte keine Lust mehr auf weiteres Klingeln in dem traurig stimmenden Sozialwohnungs-Areal. So kamen wir beide in ein anregendes Gespräch: Sein Einkommen nach beinahe 50 Jahren Arbeit auf dem Lande lag bei 600 Euro. Als 14jähriger wurde er zum Volkssturm eingezogen und verdingte sich nach dem Krieg als Landarbeiter bis ins hohe Alter. Als ich ihn nach seinen Freuden im Leben befragte und annahm, dass es Bier und Bundesliga sein könnte, meinte er, er tränke nicht und wollte vom Fußball nichts wissen. Seine größte Freude sei eine Zigarette, die er sich leider nur alle Jubeljahre mal gönnen könnte. Und das Sitzen an der Haltestelle am frühen Abend sei ebenfalls eine willkommene Abwechslung in seinem eintönigen Leben als alleinstehender Niedrigrentner. Gottseidank stimme die Gesundheit trotz fortgeschrittenen Alters noch. Er war unbedingt dafür, dass der Bürger endlich aufstehen müsse, um Berlin zu zeigen, was Bürgerwille sei. Selbst in seinem Alter würde er noch einmal, wenn nötig, zum Reichstag fahren, um den ‚Hohen Herrschaften‘ Volkes Wille zu zeigen. Als wir uns verabschiedeten, konnte ich nicht umhin, ihm Geld zuzustecken, damit er sich vor dem Schlafengehen noch eine Zigarette genehmigen könnte.

                So fand ein fürchterlich entmutigender Tag doch noch ein versöhnliches Ende mit drei Unterstützer-Unterschriften.

                Hier soll für heute Schluss sein. In zwei Tagen muss ich die 200 Unterstützer-Unterschriften beisammen haben, die noch von Gemeindeämtern bestätigt werden müssen, bevor sie zum Kreiswahlleiter gehen. Jetzt sind es etwa 180. In den letzten zwei Monaten habe ich durch Hausbesuche ungefähr 300 km zurückgelegt. 

                Über Ängste, Ohnmacht, Obrigkeitshörigkeit  und Zorn deutscher Wählerinnen und Wähler wird weiter zu reden sein. Aber erst gegen Mitte Juli, wenn ich Gewissheit habe, ob ich als Parteiloser auf den Wahlzettel komme oder nicht. Wahlleiter finden immer Argumente, unerwünschte Kandidaten auszuschließen, zumal der Druck von etablierten Parteien diesbezüglich nicht von Pappe sein wird. Das merke ich deutlich an der Reaktion der hiesigen Presse auf meine Kandidatur als Parteiloser. Hier sei nur betont: Angst, Ohnmacht, Obrigkeitshörigkeit und Zorn sind die vorherrschenden ‚Seelenstimmungen‘ des deutschen Wählers, und das quer durch die gesellschaftlichen Schichten hinweg. Rühmliche  Ausnahmen davon sind die deutschen Entscheider-Menschen aus Politik und Wirtschaft, ein kleines Häufchen Privilegierter in einem Ozean von Machtlosen, die nur noch sagen können: „Gute Nacht, Marie!“  

(Ende Juni 2017)

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Fiktion: Das Schuljahr geht zu Ende

 

Fremdenfeinde lassen gruessen

 

Heute war ‚Kaiserwetter‘ beim Felgenfest im Weserbergland angesagt, auch wenn Kaiser Wilhelm II vor 99 Jahren das ‚Kaiserwetter‘ am liebsten ein für alle Mal aus Angst zum Teufel gejagt hätte angesichts seines drohenden Exils in Holland, das er sich redlich wegen seiner menschenverachtenden Politik verdient hatte. Der Juni-Sonntag 2017 an der Weser hatte strahlenden Sonnenschein bei schäfchenwolken-blauem Himmel hervorgezaubert. Wessen Herz da nicht höher schlug, dem war nicht mehr zu helfen. Ein Bundeswehr-Pionierbataillon aus Minden stand seit dem frühen Morgen bereit, um bei der Weserfähre in Grossenwieden nördlich von Hess. Oldendorf eine Pontonbrücke zum Gaudi von zehntausenden Fahrrad-Ausflüglern aus der Region zu errichten. Die britischen Pioniere hatten diese Tradition nach Grossenwieden gebracht, bis sie ihre Kasernen in Hameln 2014 endgültig räumten. Chris, Pierre, Mona und Simone waren mit ihren Fahrrädern von Krückeberg angereist. Chris und Pierre hatten in der Nacht von Samstag auf Sonntag im Garten von Monas Eltern gezeltet. Ein Lagerfeuer durfte nicht fehlen, ebenso Monas Gitarrenspiel. Seit sich die Vier auf der Lesung des WOM- Schreibwettbewerbes in der Sumpfblume erstmalig getroffen hatten, fuhren Chris und Pierre regelmäßig an Wochenenden nach Hameln, um die beiden Schülerinnen zu treffen. Was die vier Teenager zusammen gebracht hatte, waren ihre Aktivitäten im WOM und in den Bürger-Komitees für Reginas Wahlkampf. Da blieb es nicht aus, dass die jungen Leute zunehmend Gefallen aneinander fanden. 

                Die Vier saßen eis-lutschend in der Nähe des Fährhäuschens und schauten den Pionieren beim Aufbau der Brücke zu. Nach und nach fanden sich immer mehr Fahrradbegeisterte ein. Die Szene an der Weser versprühte beste Laune, die auch die professionell agierenden Pioniersoldaten erfasste. Mit einem Mal näherte sich der kleinen Gruppe ein seltsamer Typ aus dem Fährhäuschen. Er schwenkte eine Bierdose und schaute Pierre mit glasigen Augen an. Dann stieß er unvermittelt laut schimpfend hervor: „Was hast Du Negerdreckschwein hier verloren? Hau ab, aber sofort!“

                Es war Pierre, als ob ein brutaler Messerstich seine Brust durchbohrte. Wie ein verwundeter Stier erhob er sich und ging auf den Mann los. Chris war ebenfalls aufgesprungen. Er wollte seinen Freund unbedingt zurückhalten. Andere Menschen waren Zeuge dieses rassistischen Ausfalls geworden und hielten ihrerseits den offensichtlich Betrunkenen in Zaum. Der Rassist war scheinbar im Ort Grossenwieden bekannt. „Otto, mach hier keinen Stunk. Geh nach Hause und schlaf Dich erst einmal bei Muttern aus.“ Zwei Männer nahmen Otto mit Gewalt unter den Arm und zogen mit ihm ab. Andere entschuldigten sich bei Pierre für den Vorfall. „Nimm das nicht so tragisch. Der Otto hat das sicher nicht so gemeint. Das ist ein ganz normaler Typ. Nur wenn er getrunken hat, vor allem früh am Morgen, dann weiß er nicht mehr, was er tut.“ 

                Was die Bekannten von Otto aus dem Schützenverein nicht wussten, war, dass Rainer den Otto wie auch den Fritz mit auf Regina und Jasmin angesetzt hatte. Das Weserbergland teilten sie untereinander auf, um die zwei Frauen in ihren Aktivitäten zu beobachten und ihnen so viel wie möglich Angst und Stress einzujagen. Darunter fiel auch die Bespitzelung von nahen Bekannten der beiden Frauen. Am Vorabend hatte Otto noch den Tipp bekommen, dass Reginas Sohn mit einem farbigen Freund wahrscheinlich auf dem Felgenfest in Grossenwieden sein würden. Otto, der nun überhaupt keine ‚Spitzel-Ader‘ besaß, dafür aber umso mehr von Fremdenhass zerfressen wurde, hatte die Nacht an seinem Fischteich verbracht und zog sich bereits in aller Herrgottsfrühe beim Angeln einige Joints rein, angereichert mit Bier. So würde er sich später auf dem Felgenfest stark fühlen. Sein Gehirn arbeitete in dem angetrunkenen Zustand noch so gut, dass er unter all den weißen Fahrradliebhabern einen Farbigen entdeckte. Das müsste der Freund von Reginas Sohn sein, schoss ihm durch den Kopf. „Den werde ich mir vorknöpfen!“ In seinem überschäumenden Hass auf Ausländer allgemein und Farbige im Besonderen bemerkte er glücklicherweise nicht, dass eine der beiden Mädchen damals im Bus mit dem jungen Afghanen herumpoussiert hatte.   

                Den beiden Jungen und auch den Mädchen war nach diesem wüsten rassistischen Vorfall nicht mehr nach Feiern zumute. Sie schwangen sich auf die Räder und fuhren nach Krückeberg zurück. Ohne das Monas Eltern davon Wind bekamen, verkrochen sich die Vier in das Zelt. Dort war Pierre dem Weinen nahe. Der Vorfall in Grossenwieden war jetzt die dritte gegen ihn gerichtete rassistische Äußerung seit der Wandschmiererei vor zwei Monaten in Holzminden. Chris versuchte,  seinem Freund gut zuzureden. Auch die Mädchen drängten sich dicht an Pierre und gaben ihm das Gefühl, dass er zu ihnen gehörte. Nach einiger Zeit zog Pierre ein Stück zerknittertes Papier aus seiner Hosentasche. Darauf hatte er seine Gedanken festgehalten, die ihm nach der Veranstaltung in der Sumpfblume gekommen waren, auf der er ebenfalls rassistisch angemacht wurde. Auf dem Papier, das er seinem Freund Chris gab, stand geschrieben:                   

Der Rassist an meiner Seite

Ich bin weiß und schwarz zugleich.

Bin ein Mensch wie Du.

Doch warum beschimpfst Du mich?

Warum soll ich raus aus dem Land, das meine Heimat ist?

Wer bist Du Hasser, der Du mich nicht kennst?

Wer bist Du Monster in Menschengestalt?

Was treibt Dich um?

Hast Du Angst vor mir, weil ich eine andere Haut habe als Du?

Meinst Du, ich könnte Deine Frau stehlen?

Ich könnte Deine Arbeit rauben?

Ich lade Dich ein, mit mir zu leben,

mit mir zu lachen,

mit mir zu lieben.

Die Vögel singen für uns beide.

Die Blumen blühen für uns beide.

Der Wind erzählt Geschichten für uns beide

aus gemeinsamer Heimat.

Öffne Dein steinernes Herz,

Öffne Dein inneres Auge,

dann wirst Du sehen:

Du bist ein Mensch wie ich.

Unsere Farbe ist die Farbe des Einen Menschen,

der friedvoll den Nächsten und die Liebe sucht.

               

                Chris und Pierre verabschiedeten sich traurig und dennoch freudig von Mona und Simone. Am kommenden Samstag würden sie die Schülerinnen bei der Preisverleihung des Schreibwettbewerbes im Hamelner Theater wiedersehen. Diese Aussicht half, die Trübsal vom Felgenfest zu überwinden.

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Als Jasmin zum ersten Mal die Augen aufschlug, sah sie das besorgte Gesicht Reginas über ihr. Es war zwei Uhr nachts. Sie lag seit etwa drei Stunden in der Zentralen Notaufnahme des Hamelner Krankenhauses und hatte gerade ihre Besinnung wieder gewonnen. Auf ihrem Nachttisch lagen ihr Smartphone und ihr Fotoapparat. Was war geschehen? Gemeinsam mit Regina versuchte sie die letzten Stunden vor ihrem Unfall gegen 22.30 Uhr zwischen Bodenwerder und Brevörde zu rekonstruieren. Sicher würde sie in den kommenden Morgenstunden von der Polizei vernommen werden, die auch ihren Nottransport nach dem Unfall in die Hand genommen hatte.     

                Es geschah am vorletzten Schultag vor den Sommerferien. Am Nachmittag fand im Hamelner Theater die festliche Verleihung der Preise des WOM-Schreibwettbewerbes statt. Der Intendant des RND und die zuständige Direktorin sowie Chefredakteur Jung und Jasmins Kollege Ralf und die beiden Volontäre waren nach Hameln gekommen, um die zehn besten Beiträge des Wettbewerbes auszuzeichnen. Sie wurden auch noch einmal einem breiten Publikum vorgelesen. Das Theater war proppenvoll. Der OB, die lokalen Bundestags- und Landtags-Abgeordneten sowie der gesamte Stadtrat und hunderte Bürgerinnen und Bürger der Stadt und des Umlandes waren zu diesem einmaligen Ereignis angerückt. Für die Bürgerschaft des Weserberglandes war es eine Ehre, dass sich die Region zu einer Wiege von jungen Amateur-Journalisten und begabten Schreibern entwickelt hatte, die der üblichen von Internet, facebook und twitter geförderten Sprachverstümmelung die Liebe zum Lesen, Schreiben und freien Gedankenaustausch entgegensetzten. Die Theaterbühne war mit zwei riesengroßen Transparenten dekoriert, die auch die Home-page des Weserbergland-Online-Magazins zierten, und die an die glorreiche Zeit der Aufklärung erinnerten: ‚Ich lese und schreibe, folglich bin ich‘  und ‚Die Gedanken sind frei‘ . 

                Der Intendant ging anfangs auf die Entscheidung zur Einrichtung des WOM-Pilot-Projektes, die zusammen mit dem Institut für Politische Bildung getroffen worden war, ein. Doch nicht im Traum hatten die Verantwortlichen damit gerechnet, dass die Jugend und jetzt auch zunehmend Teile der Bürgerschaft dieses Online-Medium in dem Maße nutzen würden, wie es jetzt geschah. Das WOM war innerhalb eines halben Jahres zum wichtigsten Teilnehmer auf dem lokalen Meinungsmarkt geworden und erreichte mittlerweile etwa ein Drittel der Haushalte des Weserberglandes. Er dankte der Direktorin, dem Chefredakteur und vor allem den beiden verantwortlichen Journalisten, Jasmin und Ralf für ihren außerordentlichen Einsatz. Besonders die Leistung von Jasmin hob er hervor, ohne deren Einsatz und Charisma das gesamte Projekt noch längst nicht da angekommen wäre, wo es sich jetzt befand. Wenn es überhaupt noch eine Zukunft für das geschriebene Wort in Form von Bericht und Erzählung geben sollte, dann könnte das nur geschehen, wenn der Bürger wieder frei seine Gedanken wandern lässt und sich selbst als Protagonisten des gesellschaftlichen Lebens begreift. Nicht andere, d. h. Politiker und bezahlte Medien-Arbeiter, könnten stellvertretend eine freie und menschliche Gesellschaft repräsentieren. Nein, der Bürger muss sich selbst repräsentieren mit all seinen Wünschen und Sehnsüchten. Und das tut er mit seinem eigenen überlegten Wort und seiner eigenen von Humanismus geprägten Tat. Ansonsten verkommt er zum Untertan. Die zehn von Hundert ausgewählten Beiträgen spiegelten in hervorragender Weise die Emanzipation der jungen Menschen von politischer und medialer Bevormundung wider. Das IPB in Zusammenarbeit mit dem RND hätten deshalb beschlossen, die vorgestellten Beiträge zu einem Buch zusammenzufassen und den Schulen in Niedersachsen als Hilfe zum politischen Unterricht zur Verfügung zu stellen. Außerdem würde jeder junge Autor einen Gutschein in Höhe von 100 Euro zum Kauf von Büchern als Prämie bekommen. Aber auch die übrigen neunzig Zuschriften, die nicht in die Endauswahl aufgenommen worden seien, wären durch die Bank wertvolle Zeugnisse für eine lebendige, nach Emanzipation strebende Jugend. Der Intendant betonte abschließend seine Hochachtung vor der inneren Vitalität des Weserberglandes, die in den Berichten zum Ausdruck käme und die ein leuchtendes Beispiel für andere Regionen sei. Hoffentlich findet dieses Pilot-Projekt breite Nachahmung. Dann würde er für die deutsche Demokratie nicht schwarz sehen.  

                Nach den Begrüßungsworten des Intendanten brandete Beifall auf. Immer wieder war zu hören: Jasmin! Jasmin! Auf die Bühne! Diese war überwältigt von der Reaktion des Publikums und stieg schließlich auf die Bühne. Sie selbst sei nur ein kleines Rädchen in dem Projekt. Die eigentlichen Protagonisten seien die jungen Bürger, die oft als unpolitisch und uninteressiert abqualifiziert würden, und die vorwiegend auf Fun aus wären, ohne sich um ihre Zukunft und die Gesellschaft insgesamt Gedanken zu machen. Sie hätte bisher die Erfahrung gemacht, dass der junge Mensch Freiheit von Angst und Bevormundung braucht, um sich zum ‚Mündigen Bürger‘ entwickeln zu können, von dem alle Welt redet, den es bisher aber nur als kleine Minderheit in der Gesellschaft gibt. Sie wäre dankbar, an diesem Modell-Projekt zur Förderung wahrer Demokratie mitwirken zu können, das der RND und das IPB ins Leben gerufen hätten. Jasmin erwähnte noch, dass sich außer dem Forum der jungen Menschen neue Foren im WOM etablierten, wie das der alleinerziehenden Mütter, der Arbeitslosen, der HartzIVler, der Behinderten und der Rentnerinnen und Rentner. All diese Menschen organisierten sich eigenverantwortlich und legten ihre Situation und ihre Forderungen offen auf den Tisch, so dass sie von Politik und Wirtschaft nicht länger übersehen werden könnten.

                Was Jasmin nicht sagte aber wusste, war, dass im Saal viele einflussreiche Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft saßen, die am liebsten das WOM-Projekt schon Morgen begraben würden. Die kommende Wahl wird sicher durch das WOM entscheidend beeinflusst werden, das war jetzt schon abzusehen. Auch die lokalen Machtverhältnisse zwischen Establishment und Bürgerschaft kämen ins Wanken. Und wer die Konsequenzen dafür letztendlich auf sich nehmen müsste, wäre sie als schwächstes Glied in der WOM-Projekt-Kette. Aber das war ihr die Bürger-Emanzipation wert.

                Im Namen der lokalen Machtelite sprach der OB einige heuchlerische Worte in dem Sinne, dass sich all diejenigen, die Rang und Namen im Weserbergland hätten, durch das Projekt gebauchpinselt fühlten und stolz auf die junge Generation seien. Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet und würde später im Fernsehen übertragen und für die Stadt eine gelungene PR-Aktion sein. Auch lobte er den Einsatz von Jasmin, obwohl er sie innerlich auf den Mond wünschte. Denn was sich da in Zukunft an freiem Gedanken-Potential auftun würde, ließ ihn Schlimmes ahnen. Wie sollten sich lokale Politik und Verwaltung gegenüber einer emanzipierten Bürgerschaft zur Wehr setzen? Nun denn, heute musste aus gegebenem Anlass geheuchelt werden, denn schließlich stand auch der Aufsichtsrat des RND, der die aktuellen Machtverhältnisse in Niedersachsen widerspiegelt, hinter dem Projekt. Zumindest bis jetzt.

                Nach Lesung der zehn Beiträge, an der auch Chris, Pierre, Mona und Simone teilnahmen, kam nochmals lang anhaltender Beifall auf. Es war, als ob sich das Weserbergland selbst Beifall klatschte. Doch wie lange würde diese Stimmung anhalten? Der ‚heiße Wahlkampf‘ war nicht mehr fern. Dann würde es zur Sache gehen. Welche Rolle würde dann das WOM-Projekt spielen?

                Regina, Chris und Pierre fuhren nach der Veranstaltung rasch nach Hause. Jasmin käme später. Sie hatte mit dem Intendanten, der Direktorin, Helmut und Ralf noch ein Treffen im nahen Hotel, das sie zusammen mit Helmut bestens kennengelernt hatte, ausgemacht, um ein bisheriges Fazit des WOM-Projektes zu ziehen. Es müsste auch eine grobe Strategie für die letzte Wahlkampfzeit abgesteckt werden. Die Neutralität des WOM sei dabei oberste Priorität, um nicht unter mächtigen Partei-Interessen zermalmt zu werden.

                Gegen 22 Uhr machte sich Jasmin in ihrem kleinen Fiat auf die Fahrt nach Holzminden. Die Abenddämmerung verlangte nach Scheinwerferlicht, vor allem, weil Regen einsetzte und es dunkel zu werden begann. Auf dem Beifahrersitz hatte sie Kamera und Smartphone abgelegt. Sie war sich nicht sicher, ob sie noch heute Abend die Kraft finden würde, einen Artikel über die Veranstaltung im Theater schreiben zu können. Aber es würden sicher auch viele Kommentare von Besuchern erscheinen, so dass sie einmal ausschlafen könnte.

                Nach Bodenwerder wurde der Regen immer stärker. Im Rückspiegel bemerkte sie einen herankommenden Wagen, der voll aufgeblendet immer näher auf sie auffuhr. „Mensch, ist der Typ verrückt geworden? Wie kann der bei dieser schlechten Sicht mir so nahe kommen?“ Jasmin wurde nervös. Wenn sie jetzt plötzlich stoppen müsste, weil ein Hase oder ein Reh aus dem Wald über die Bundesstraße in Richtung Weser wollte, dann wäre ein Unfall unvermeidlich. Sie schaltete den rechten Blinker an und wollte den Wagen an sich vorbeilassen. Der hatte das aber gar nicht vor und blieb stur hinter ihr in gefährlich nahem Abstand. „Vielleicht macht der das mit Absicht, und hat es auf mich abgesehen.“ Bevor sie diesen Gedanken zu Ende denken konnte, kam auf der entgegengesetzten Seite in einer Linkskurve ebenfalls ein Wagen mit Aufblendlicht heran, so dass sie voll geblendet wurde und nicht einmal mehr die Seitenbegrenzung erkennen konnte. Sie kam von der Straße ab und verlor die Gewalt über ihr Fahrzeug, das sich in der Böschung überschlug. Von dem Moment an verlor sie die Besinnung.

                Regina hatte von der Krankenschwester auf der Notaufnahme erfahren, dass kurze Zeit nach dem Unfall ein Wagen vorbeifuhr und umgehend die Polizei benachrichtige. Diese wiederum rief einen Notarzt und eine Ambulanz herbei. Jasmin wurde bewusstlos aus dem Auto geborgen und sofort nach Hameln transportiert. Gottseidank sei ihr außer einer Gehirnerschütterung nichts Ernsthaftes passiert. Regina hatte vom Unfall erst gegen Mitternacht erfahren. Sie war unruhig geworden, weil Jasmin nicht über ihr Telefon zu erreichen war. Folglich rief sie die Polizei an  und erfuhr von dieser über den Unfall. Unverzüglich machte sie sich auf den Weg zum Hamelner Krankenhaus.

                „Jasmin, wir müssen gut überlegen, was jetzt zu tun ist. Es kann sein, dass jemand diesen Unfall absichtlich provozieren wollte. Doch weiß ich nicht, ob Du diese Vermutung der Polizei gegenüber äußern solltest. Die Konsequenz könnte sein, dass der RND Dich von der Arbeit entbindet, um Dich aus der Schusslinie von politischen Gegnern des Projektes zu nehmen und Dir eine weitere Gefährdung Deiner Person ersparen will. Wie stehst Du selbst dazu? Natürlich geht Deine Gesundheit und Dein Leben vor. Was hast Du für ein Gefühl bei der ganzen Sache? Von den anonymen Drohungen her zu urteilen ist eine bewusste Herbeiführung eines Unfall ziemlich wahrscheinlich.“

                Jasmin sah dankbar zu ihrer Freundin auf und ergriff deren Hände. „Regina, Du hast vollkommen recht. Wenn ich die Vermutung einer absichtlichen Gefährdung meiner Person der Polizei gegenüber äußere und Anzeige erstatte, dann werden mich die Direktorin und Helmut sofort beurlauben. Nein, ich werde das Projekt durchziehen, jetzt erst recht. Noch ein halbes Jahr und die Arbeit ist getan. Vielleicht gibt es dann keine Möglichkeit mehr, das WOM einzustampfen. Wenn sich der RND zu Jahresende daraus tatsächlich zurückziehen will, werden genügend Menschen auf privater Basis weitermachen wollen. Was für mich ab jetzt ansteht, ist, dass ich noch wachsamer als bisher sein muss. Ich weiß, dass ich zahlreiche Gegner habe, darunter sicher einige, denen es ganz recht wäre, wenn ich aufgeben würde. Nein, das kommt nicht infrage. Ich werde sagen, dass die Wetterbedingungen äußerst schlecht waren, was ja auch jeder bezeugen kann, und dass in der Kurve plötzlich Gegenverkehr mit Aufblendlicht auftauchte. Auch das stimmt. Von dem Wagen hinter mir werde ich nichts erwähnen. Das Allerbeste an der ganzen Geschichte ist, dass mir außer einer leichten Gehirnerschütterung nichts passiert ist. Und diese geht vorbei. Ich ruhe mich einen Tag bei Dir aus und dann steige ich wieder voll ins Projekt ein. Mein Wagen wird sicher Totalschaden haben, so werde ich mir einen Leihwagen für den Rest des Jahres mieten. Den sollte der RND finanzieren. Bitte erwähne Chris gegenüber nichts von unseren geheimen Befürchtungen.“                      

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