Die kranke deutsche Demokratie - 15. Folge
Submitted by HermannDie kranke deutsche Demokratie - 15. Folge
Politischer Mord im Weserbergland
Realitaet: G 20 Gipfel in Hamburg
Es gab eine gute Abschlussdemo
Nach dem G20-Gipfel haben BT-Parteien Gelegenheit, sich parteien-staatstragend zu gebärden und den Wahnsinn des globalen Kapitalismus, an dem sie selbst stricken, zu kaschieren
Foto: Wikimedia Commons, G 20 Gipfel in Hamburg, 7. und 8. Juli 2017, Autor: Buero des russ. Praesidenten
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Der Samstagmorgen stimmte mit frischer, nicht zu heißer und nicht zu kalter Temperatur auf einen guten Demo-Tag ein. Alle, die sich in Hannover zur Busfahrt nach Hamburg einfanden, waren fröhlicher Dinge, wozu auch die professionelle Organisation der Gewerkschaft Verdi beitrug. Was mich nach Tagen eines verurteilenden Mainstream-Mediengewitters über Randale überraschte, wohl um Teilnehmer an der Abschlussdemo abzuhalten und vor allem, um die eigentlichen Kritikpunkte der G20-Gegner gar nicht erst an die deutsche und weltweite Öffentlichkeit heranzulassen, war die Tatsache, dass sich die Demonstranten davon nicht beeinflussen ließen und zahlreich nach Hamburg anreisten.
Wer sich obiges Foto so recht zu Gemüte zieht, sieht symbolisch die Hauptverursacher der gegenwärtigen weltweiten Krisensituation von Kriegen, Flucht, menschenverachtendem Elend und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen auf einem Fleck beisammen. Wenn man sich dann mit ein wenig Phantasie das unsichtbar hinter ihnen stehende globale Finanz- und Industrie-Kapital mit einer etwa gleichen Anzahl von Wirtschaftsführern vorstellt, dann haben wir sie sichtbar beisammen: diejenigen, die das globale politische, ökonomische und militärische System verantworten, unter dem die Menschheit Tag für Tag zu leiden hat, mal in stummer Ergebenheit, mal in verbalem oder auch tatkräftigem Aufbegehren. Die Abschlussdemo in Hamburg sollte bezwecken, wenigstens ein klein wenig Licht auf weltweite Zusammenhänge zu werfen und die Spieler bloßzustellen, denen die Menschen rund um den Erdball ihre überwiegend miserablen Lebensbedingungen verdanken.
Als ich zur Demo nach Hamburg aufbrach, ließ ich die etwa 600 Hausbesuche Revue passieren, die ich in den letzten zwei Monaten absolviert hatte, um meine 200 Unterstützer-Unterschriften für die Direktkandidatur als Parteiloser zum BT zusammenzubekommen. Mein Eindruck in die durchschnittliche ‚Wähler-Seele‘ im Weserbergland lässt sich etwa so zusammenfassen: Ohnmacht, Angst, Obrigkeitshörigkeit und Wut kennzeichnen den ‚un-mündigen‘ Bürger vor der BT- Wahl 2017, von dem sich die BT-Parteien weitere vier Jahre ein unhinterfragtes und unkontrolliertes Mandat erhoffen, um im Kreise der mächtigen Zwanzig das Weiterso des kapitalistischen Weltsystems entscheidend mitzuspielen.
Hamburg war für mich ein abgekartetes Spiel zwischen Regierung und Mainstream-Medien, um von vornherein in der Öffentlichkeit keine Fragen bezüglich der Verantwortung der gegenwärtigen Weltmisere aufkommen zu lassen. Warum haben Mainstream-Medien bereits im Vorfeld hauptsächlich von möglichen Störungen und gewaltmässigen Auseinandersetzungen geschrieben, anstatt die Politik der einzelnen G20-Spieler und ihren Anteil an den menschenverachtenden Lebensbedingungen der Mehrheit der Menschheit aufs Korn zu nehmen? Ich hatte vor nicht langer Zeit ARD, ZDF und Deutsche Welle angeschrieben, die deutsche Rolle in der Welt während der letzten fünf Jahrzehnte anhand der Zusammenarbeit mit ausgewählten Ländern zu beleuchten. Auch die deutsche Rolle innerhalb der EU, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds wäre hilfreich zu erhellen, um dem Normalbürger den Anteil seines einigermaßen komfortablen Lebensstandards zu verdeutlichen, den er der neokolonialen Ausbeutung durch unser Land verdankt. Aber selbstverständlich bekam ich keine Antwort. Die Berichterstattung im Vorfeld des Hamburg-Treffens, und schlimmer noch während des Treffens, stellte eine meisterhafte Verschleierung vonseiten der Politik und der Medien dar, die eigene Verantwortung an der globalen Misere zu vertuschen. In Deutschland mag dieses Vertuschen durch Brandmarkung von Randale gelingen. Aber in vielen anderen Teilen der Welt ist die Gruppe der Zwanzig der täglich gefühlte und nicht zu verschleiernde Peiniger. Da helfen auch nicht die durch internationale Medien-Kanäle ausgestrahlte gewaltmässige Demo in Hamburg. Ganz im Gegenteil. Die werden mittels Fernsehen und Smartphones von den Habenichtsen der Welt eher verstanden als Ausdruck eines rechtmäßigen, wenn auch ohnmächtigen Widerstandes gegen ein weltweites, unmenschliches kapitalistisches System. Das sollten die Kanzlerin und der Bundespräsident bedenken, wenn sie sich im eigenen Land durch Entrüstung gegenüber Randale von jeglicher Verantwortung reinzuwaschen hoffen.
Der eigene Wahlkampf, davon wird in „Wahlkampf 2017 (10)“ noch zu reden sein, hatte mir bis zum Tag der Hamburg-Demo wenig Hoffnung gemacht, eine große Zahl von Menschen zu treffen, die mit ähnlichem Verständnis für den derzeitigen Zustand Deutschlands und der Welt nach Hamburg kämen, und die darüber hinaus einen ungebeugten Lebens-Optimismus und die notwendige Prise von Zivilcourage mitbrächten. Doch ich sollte mich gründlich getäuscht haben. Die Abschluss-Demo wurde zu einem Fest, das die geifernden Mächtigen der Welt in ihrem jämmerlichen Hamburger Elfenbeinturm ausgrenzte und das andererseits den zahlreichen Teilnehmern Ermutigung und Hoffnung bedeutete, selbst Subjekt der Geschichte sein zu können und die nötige Kraft und Freiheit zu haben, den Widerstand gegen globale Unterdrückung und das Zertreten von universalen Menschenrechten nicht aufzugeben.
(11. Juli 2017)
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Fiktion: Einigkeit unter BT-Parteien, dass das Weserbergland-Online-Magazin beseitigt werden muss
Nachdem die Polizei am Morgen nach dem Unfall die Aussage von Jasmin protokolliert hatte, verließ diese mit Regina das Krankenhaus. Eine Abschleppfirma kümmerte sich um ihr Auto, das verschrottet werden musste. Den Ärzten gelobte sie, wenigstens zwei Tage strikte Ruhe einzuhalten. In Holzminden hatte sie ein ausführliches Telefongespräch mit Helmut über ihr Missgeschick, dem sie versprechen musste, in Zukunft noch mehr auf sich zu achten. Selbstverständlich würde der RND ihr einen Leihwagen finanzieren. Er wünschte ihr eine rasche Erholung nach dem Schreck und bat sie, mit Ralf alle paar Tage Kontakt aufzunehmen. Er sei mit seiner Familie drei Wochen im Spanien-Urlaub.
Zusammen mit Chris überlegten die beiden Frauen, wie sie sich in der kommenden ‚heißen Phase‘ des Wahlkampfes verhalten sollten. Es sei offensichtlich, dass sie zur Zielscheibe der Neuen Rechten wie auch der etablierten Parteien geworden seien. Das war auf die Existenz des WOM und auf Reginas Bürger-Kandidatur zurückzuführen. Beides, das WOM und Reginas mögliche Wahl zum Bundestag, waren eine offene Kampfansage gegen das politische Establishment einerseits und gegen die Neue Rechte andererseits. Für Jasmin kam es jetzt darauf an, dass sie die Bundestagsparteien vermehrt in die Wahlkampfberichterstattung in das WOM einbezog. Reginas Programm und ihre Wahlkampf-Aktivitäten wurden dort von tausenden Nutzern positiv begleitet und kommentiert. Die anderen Parteien hatten zwar ihre partei-internen Web-sites annonciert, aber diese interessierten nur eingefleischte Parteianhänger. Das lag auch daran, dass bisher die Parteiführungen in Berlin keine Programme verabschiedet hatten. Das sollte auf Parteitagen geschehen, die zum Ende der Sommerferien geplant waren. Die Neue Rechte war nur mit gehässigen Kommentaren im WOM unterwegs. Die meisten Kommentare von dieser Seite waren jedoch derart rassistisch und fremdenfeindlich, dass sie gar nicht erst veröffentlicht wurden. Eine negative Tendenz für die etablierten Parteien entwickelte sich auch deswegen, weil immer mehr Parteianhänger, zumeist junge Leute, aus Parteien austraten und in Reginas Wahlkampflager umschwenkten, was sie im WOM öffentlich machten. Sie fühlten sich zum ersten Mal für voll genommen, als Bürger an der Ausarbeitung von politischen Zielen mitzuarbeiten statt nur von Partei-Bonzen vorgefertigte Parteipropaganda unters Volk zu streuen. Das betraf nicht nur die Mitglieder der GroKo-Parteien sondern ebenfalls die Parteimitglieder der Oppositionsparteien, die gehalten waren, die Sonnenblumen oder die geballte Faust oder den fünftage-bärtigen Liberalen-Boss als Standarten in die Märkte-Himmel des Weserberglandes zu recken.
Regina wollte in jedem ihrer lokalen Bürger-Komitees eine kleine Gruppe auswählen, die ihr eng zur Seite stünden. Für Chris und Pierre sei es ebenso ratsam, sich möglichst innerhalb einer Gruppe zu bewegen. Das war ganz besonders wichtig im Hinblick auf die bevorstehende Sommer-Wahlkampfreise durch die Gemeinden des Wahlkreises, die Regina in einer Woche mit ihren Bürger-Komitees beginnen wollte. Die Sommer-Reise war für die Daheimbleibenden gedacht, denen der Luxus eines teuren, fernen Urlaubes nicht vergönnt war. Doch eine solche Reise per Rad und zu Fuß, in Zelt und in Jugendherberge könnte im schönen Weserbergland zu einem unvergesslichen Abenteuer geraten.
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Die Kaffeewirtschaft Schloss Hehlen war auf Betreiben Jägers reserviert worden. Diesmal hatte der unverwüstliche Kämpfer für die parlamentarische Demokratie die Parteivorstände aller Bundestagsparteien im Wahlkreis und deren Direktkandidaten nach Hehlen eingeladen. Selbstverständlich waren der Kandidat der Neuen Rechten sowie die parteilose Kandidatin nicht eingeladen worden und sollten auch von der quasi konspirativen Veranstaltung keinen Wind bekommen. Es sollte Jägers letzter Versuch sein, das Weserbergland-Online-Magazin und gleichzeitig den Vormarsch der parteilosen Direktkandidatin im Wahlkreis zu stoppen. Er hoffte dabei auf die Unterstützung des vorzüglichen Kuchenangebots der Kaffeewirtschaft, die den GroKo-Parteien und den Parteien der Opposition den Kampf gegen das WOM und die Bürger-Kandidatin schmackhaft machen sollten. Die ersten Tage der Sommerferien waren bereits angebrochen, aber Jäger hoffte, dass der exklusive Veranstaltungsort beitragen würde, die lokalen Bundestagsparteien-Repräsentanten vor Beginn des Sommer-Lochs zur Vernunft zu bringen. Nach einem halben Jahr Bestehen des WOM-Projektes müsste doch ein Konsens darüber hergestellt werden können, dass der Parteienstaat in seiner bisherigen Form im Wahlkreis infrage stünde. Wenn das WOM mit seiner verantwortlichen Redakteurin bis zur Bundestagswahl den Bürger weiterhin ungehindert zur Bürger-Emanzipation aufrufen würde, dann sei Gefahr im Verzug, dass im Weserbergland Bürger-Souveränität statt Parteien-Souveränität Einzug hielte. Der Sieg der parteilosen Bürger-Kandidatin wäre die Folge und auch ein Übergreifen der Emanzipations-Bewegung auf benachbarte Regionen wäre nicht auszuschließen. Die Konsequenzen hätten alle Bundestagsparteien zu tragen. Nicht nur die Neue Rechte, nein, schlimmer noch, der unabhängige Bürger könnte eine Bewegung entfachen, die tiefgreifendere Folgen hätte als die 68er- und 89- Bürger-Bewegungen.
Der Direktkandidat und derzeitige Bundestagsabgeordnete der Konservativen wollte die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, auch seine Interpretation der durch das WOM entstandenen politischen Situation im Weserbergland zum Ausdruck zu bringen: „Ich kann Herrn Jäger nur zustimmen. Unsere parlamentarische Demokratie ist ernsthaft in Gefahr. Dieses System hat beinahe siebzig Jahre lang gut funktioniert und für den Bürger Wohlstand und Frieden gebracht. Weshalb kommt der Bürger jetzt darauf, sich politisch einmischen zu wollen? Wir haben bisher ganze Arbeit für den Bürger im Bundestag geleistet. Er konnte sich bequem zurücklehnen, während wir sein Wohl und Wehe im Blick hatten. Seien wir doch mal ehrlich: Der Bürger wird bestens durch uns repräsentiert. Er blickt doch gar nicht durch, wie Politik gestaltet wird. Wenn ich nur daran denke, wie ich täglich der Kanzlerin zur Hand gehe und ihr bei der Entscheidungsfindung behilflich bin, dann komme ich zur Überzeugung, dass ein gemeiner Bürger diese Aufgabe gar nicht leisten könnte. Mitbestimmen ist ja nicht schlecht. Das kann in Betrieben und im Gesangverein funktionieren. In der großen Politik ist das jedoch vollkommen ausgeschlossen. Volksentscheide auf Bundesebene und bei Gesetzesvorhaben allgemein ist etwas, das die Väter des Grundgesetzes zwar ausdrücklich vorgesehen hatten, was aber in der Praxis reines Wunschdenken ist. Stellen Sie sich vor, mir begegnen jetzt reihenweise ehemalige Mitglieder unserer Partei, die guten Gewissens behaupten, sie könnten aktiv an der Ausgestaltung des Wahlprogramms der parteilosen Kandidatin mitwirken und würden auch bei ihrer etwaigen Wahl in den Bundestag ebenfalls an Gesetzesvorschlägen mitarbeiten. Das ist doch völlig absurd. Das stellt unser politisches System auf den Kopf. Der oder die Abgeordnete wäre dann der Erfüllungsgehilfe des Bürgers. Nicht auszudenken! Der Bürger soll gefälligst alle vier Jahre sein Kreuzchen machen und damit basta!“ Der Direktkandidat hatte sich dermaßen in Rage geredet, dass er den ausgefeilten Geschmack der Maracuja-Torte gar nicht genießen konnte.
Der Vorsitzenden der Sozis bereitete das WOM ebenfalls Bauchschmerzen. Auch in ihrer Partei kündigten viele Jusos die Mitgliedschaft. Aber nicht nur sie; auch sagten verdiente Parteisoldaten, verwitwete Frauen und Rentner der Partei Ade und würden sich der Wahlkampagne der parteilosen Bürger-Kandidatin anschließen. Sie alle hatten sich im WOM in unterschiedliche Foren eingeklinkt und gaben ihrer Meinung offen Ausdruck. Das hatte einen Einbruch der lokalen Parteistrukturen zur Folge, dem gegenüber sich der Vorstand hilflos ausgesetzt sah. Das beschwichtigende Argument, der Kanzlerkandidat der Sozis hätte ein tolles Programm in Mache, dass nach den Sommerferien für einen neuen Impuls sorgen würde, zog nicht mehr. Wie oft musste sich die Vorsitzende anhören: „Wenn die Sozis die Agenda und HartzIV nicht vorbehaltlos zurücknehmen, bekommen sie keinen Fuß mehr auf die Erde. Wir haben das Vertrauen in die Partei verloren. Wie hieß es doch damals im November 1918 von Karl Liebknecht: ‚Wer hat uns verraten?‘ Das sind die Sozialdemokraten. Auch heute ist es wieder das gleiche Spiel. Einmal muss Schluss damit sein. Der ‚Mündige Bürger‘ lässt sich nicht länger zum Narren halten.“ So stand es auch wörtlich im WOM. Die Vorsitzende der Sozis musste denn auch Jäger Recht geben, wenn auch widerwillig: „Die Grundidee des WOM, auf die Politikverdrossenheit vor allem der Jugend eine adäquate Antwort zu finden, war durchaus vom RND und dem IPB richtig angedacht. Allein, dass der Stachel gegen das derzeitige parlamentarische System derart tief im Denken der Jugend verankert ist, damit hat niemand rechnen können. Wir alle glaubten, die Masse der Jugendlichen sei unpolitisch und eben im Grunde ‚un-mündig‘. Geben wir doch zu, dass der Wunsch-Begriff des ‚Mündigen Bürgers‘, den alle Politiker zu Festakten zitieren, in Wahrheit hypokritisch benutzt wird. Der Politiker will den ‚Un-mündigen Bürger‘, der nur zu einem Kreuzchen auf dem Wahlzettel fähig ist. Da sind wir wohl alle einer Meinung. Das ist der Kern der parlamentarischen Demokratie, von dem nicht nur unsere Abgeordneten sondern unsere Parteien profitieren. Und das ist seit Jahrzehnten ein Milliarden-Geschäft, das wir bei dieser Wahl nicht aufs Spiel setzen dürfen und wovon Tausende Jobs für verdiente Parteisoldaten im In- und Ausland abhängen. Unsere Sozi-Fraktion im Stadtrat war auch dafür, dass die Stadt an jedem Wochenende Bierfeste für die Jugend veranstaltet, damit diese ausreichend Fun hätte und zufrieden gestellt würde. Doch jetzt offenbart uns die täglich zunehmende Beliebtheit des WOM, dass wir die Jugend und die Bürgerschaft insgesamt falsch eingeschätzt haben. Die Politikverdrossenheit kehrt sich in eine beispiellose Politikbegeisterung, wie wir sie an der Abi-Feier und auch im Theater bei der Schlussveranstaltung des Schreibwettbewerbes des WOM erlebt haben. Nur ist diese Begeisterung eindeutig gegen die Bundestagsparteien gerichtet. Sie artet in eine Bürger-Emanzipationsbewegung aus und kommt der parteilosen Kandidatin zugute. Ja, was sollen wir dagegen machen? Was Jäger vorschlägt, nämlich das WOM zu stoppen, halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für unrealistisch. Selbst wenn die GroKo-Vertreter im Aufsichtsrat des RND das befürworten würden, ginge der Schuss garantiert nach hinten los. Die Mehrheit der Bürger im Wahlkreis durchschaut mit Sicherheit das abgekartete Spiel gegen Demokratie und Pressefreiheit und wird auf die Straße gehen. Die gnadenlose Abstrafung unserer Parteien bei der Wahl wäre die Folge. Nein, wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen. Die Existenz des WOM wird zumindest bis Jahresende andauern. Solange wird das Experiment vom RND finanziert. Ich denke an andere Möglichkeiten. Sollte die verantwortliche Redakteurin, die mit bewundernswerter Cleverness diesen WOM-Erfolg erst möglich gemacht hat und fest an den ‚Mündigen Bürger‘ und die Bürger-Emanzipation glaubt und dafür kämpft, aus irgendeinem Grund das Handtuch werfen, dann könnte ich mir ein allmähliches Abflauen des WOM vorstellen. Eine andere Situation könnte auch dadurch entstehen, dass wir die Redakteurin nach den Sommer-Ferien, wenn wir alle unsere Programme in Händen halten, zu unseren Veranstaltungen einladen, um darüber im WOM ausführlich zu berichten. Gleichzeitig können wir sie davon zu überzeugen versuchen, dass wir als demokratische Parteien ebenfalls daran denken, innerparteiliche Demokratie zu fördern und sogar in Zukunft eine größere Bürger-Beteiligung an politischen Entscheidungen in Betracht ziehen. Im Übrigen wissen wir nicht, wie der ‚Schweigende Bürger‘ am Wahltag reagieren wird. Bisher war er mit unserer Regierungsarbeit jedenfalls zufrieden und hat stets brav sein Kreuzchen für die GroKo-Parteien gemacht.“
Hier konnte der ungeduldige junge Direktkandidat der Sozis nicht umhin, um seinen Senf ebenfalls dazuzugeben. Er echauffierte sich mit folgenden Worten: „Ich bin auch unbedingt dafür, etwas gegen das WOM zu unternehmen. Ich hatte meine Wahlkampagne im Frühjahr mit viel Unterstützung der Jung-Sozis begonnen. Schulz hatte uns den Sieger-Instinkt zurückgebracht. Leider war das nur ein Strohfeuer. Es dauerte nicht lange, dass viele junge Mitglieder von Zweifeln gepackt wurden. Was denn die Partei mit größerer sozialer Gerechtigkeit meinte? Käme jetzt eine Agenda hoch zwei? Wie viele nicht organisierte Jugendliche im Weserbergland auch klinkten sich die Jung-Sozis ins WOM ein und wurden teilweise fürchterlich angemacht von ihren parteilosen Altersgenossen. Die begannen, Bürger-Komitees auf die Beine zu stellen, um das Programm der parteilosen Kandidatin mit zu formulieren. Die Jung-Sozis wurden ausgelacht, dass ich als Direktkandidat als Qualifikation mein Alter und meinen Fünftage-Bart wie der Liberalen-Boss in die Waagschale werfen würde. Ansonsten würde ich lediglich Allgemeinplätze vom Stapel lassen. Das stimmt zwar, weil Schulz und Nahles noch an genauen Programmpunkten feilen, aber eine derartige Abqualifizierung ist denn doch die Höhe. Viele Jung-Sozis wurden auch runtergeputzt mit Sätzen wie: ‚Seit Altkanzler Schroeder seid ihr nur zum Curry-Wurst-Grillen zu gebrauchen und um dem Kandidaten für Selfies bereitzustehen. Die braucht er, um mit Euch, Schulz und Nahles seine Kompetenz herauszustellen.‘ Inzwischen schämen sich sogar Jung-Sozis öffentlich aufzutreten, weil sie befürchten, von ihren Freunden ausgelacht und als Radfahrer beschimpft zu werden, in dem Sinne: ,Früh übt sich, wer ein strammer Parteisoldat werden will‘. Aber ich frage Sie alle: Was ist daran zu verurteilen? Ich selbst habe vom Schulalter an bis jetzt immer der Partei treu gedient und habe im besten Sinne des Wortes Stallgeruch an meinen Klamotten. Der verdiente Finanzminister der Konservativen ist das beste lebende Beispiel, wie es sich lohnt, sein Leben lang im Fahrwasser der Partei zu strampeln. Der Einwand, wir Politiker hätten uns vom realen Leben der Normalbürger abgenabelt und würden nur Eigeninteressen frönen, ist eine unverfrorene Behauptung, die erst einmal bewiesen werden muss. Und da gebe ich dem Direktkandidaten der Konservativen recht: Wir sind es doch, die das Land bisher gut durch Wind und Wetter gesteuert haben. Auch der unverschämte Einwand, dass Deutschland wegen seiner politischen Seilschaften, die in ihrem steuerfinanzierten Stallmief die Zeichen einer neuen Zeit nicht erkennen würden, langsam aber sicher auf den Hund käme, das schlägt doch dem Fass den Boden aus. Der parteilosen Kandidatin laufen die jungen Wählerinnen und Wähler in Scharen zu, jetzt auch alleinerziehende Mütter, Rentner und Menschen, die in prekären Arbeitsverhältnissen stecken. Ich meine auch, das WOM war gut gemeint, ist aber nach hinten losgegangen. Den Vorschlägen der Sozi-Parteivorsitzenden stimme ich voll zu.“
Die Grünen waren diejenigen, die das WOM-Projekt von Beginn an uneingeschränkt positiv gesehen hatten. Die Partei war einst im Gefolge der 68er-Bewegung ebenfalls aus der Kritik am damals bestehenden politischen System entstanden. Deshalb hatten die Grünen insgeheim erhofft, dass das WOM ihnen einen neuen Schub als Partei verleihen könnte. Aber diese Rechnung machten sie ohne die jungen Leute, die die Grünen heute als eine ganz stinknormale Partei ansehen, die rasch den deutschen Parlamentarismus in Fleisch und Blut in sich aufgenommen hätten. Um gewählt zu werden, mussten sie eine politische Nische besetzen, die Ökologie. Ansonsten waren sie eifrig bestrebt, den staatlichen Steuerkuchen schamlos auszunutzen wie die bereits existierenden Parteien. Es ging damals darum, viele ehemalige ‚Revoluzzer‘ der 68er-Bewegung in Amt und Würden und vor allem in Brot zu bringen. Die Parteienfinanzierung und die zig-millionenfache Förderung der parteinahen Stiftung Heinrich Böll waren wie ein warmer Augustregen, der massenhaft Champignons in Gestalt von Parteifunktionären in den Ländern, in Berlin, in Europa und der Welt sprießen ließ. Die Grünen hatten schnell begriffen, ebenso wie Konservative, Sozis und Liberale vor ihnen, wie die staatlichen Haushalte zu melken seien. Deren Parteivorsitzende meinte denn auch: „Das, was die parteilose Kandidatin und ihre Bürger-Komitees vorschlagen, ist aus reinem Futterneid zu erklären. Sie will sich ebenso wie wir zu Beginn der 80er Jahre an dem staatlichen Futter-Trog laben. Als politische Nische hat sie sich die direkte Bürgerbeteiligung und das Grundeinkommen für die sogenannten Armen im Land ausgedacht. Es ist klar, dass dieser Populismus viele Wählerinnen und Wähler anziehen wird. Sollte sie und andere Bürger-Kandidaten gewählt werden, werden sich diese auch alsbald der Eigenversorgung widmen und ihre hehren politischen Ziele von Bürger-Macht bald im Keller entsorgen. Bisher hat der Parlamentarismus in Deutschland noch alle Parteien korrumpiert. Die anfänglich guten Vorsätze versanden rasch wie der Tropfen Wasser in der Wüste. Das wird mit dieser neuen humanistischen Bewegung ebenso der Fall sein wie mit der Neuen Rechten, falls beide in den Bundestag kommen sollten. Da sind wir wohl alle der gleichen Meinung. Deshalb ist für uns derzeitigen Bundestagsparteien wichtig, dass beide Bestrebungen, die rechte wie die humanistische, möglichst draußen vor dem Bundestag gehalten werden, um unsere Macht und unseren reichlichen Geldzufluss nicht zu schmälern. Ich plädiere jetzt auch für direkte Konfrontation mit dem WOM und der parteilosen Kandidatin. Die etablierten Medien im Weserbergland und alle Organisationen der Zivilgesellschaft, die wir beeinflussen können, sollten diesbezüglich mobilisiert werden. Was die Redakteurin des WOM anbelangt, die uns diese vertrackte Situation eingebrockt hat, so kann ich nur wünschen, dass sie baldmöglichst aufgibt. Wie mir zu Ohren gekommen ist, wird sie gerade wegen ihres Erfolges von vielen Seiten angegriffen, wenn auch nicht vom RND und den Zehntausenden von begeisterten Nutzern des WOM.“
„Ich bin auch eindeutig dafür, dass wir Bundestagsparteien im Weserbergland jetzt alle Register ziehen müssen, um gegen das WOM-Projekt Front zu machen,“ stimmte die Linken-Kandidatin den anderen Rede-Beiträgen zu. „Wir von den Linken traten immer für das Wohlergehen der Ausgegrenzten im Lande ein. Das weiß jeder hier in der Veranstaltung. Aber der Kampf dafür wird von einer Avantgarde bzw. Parteiführung bestimmt. Wo kommen wir hin, wenn der Bürger sich als Souverän aufspielen will? Dass geht entschieden zu weit. Ruhe und Ordnung muss im Staat gewährleistet sein und dazu sind wir Parteien im Bundestag verantwortlich. Der Bürger macht zwar sein Kreuz hinter unsere Parteibezeichnungen, doch damit hat er genug Demokratie ausgeübt. Auch darf er uns gerne kritisieren, aber mit-regieren geht auf keinen Fall. Dazu fehlt das nötige Bewusstsein und die Kenntnis über die öffentlichen Angelegenheiten, zumindest in der jetzigen Phase des Spätkapitalismus. Wir Parteien wissen am besten, was für den Bürger gut ist. Und damit stimmen wir Linken ausnahmsweise mit der Kanzlerin überein: Der Bürger soll dem Staat vertrauen. Er wird’s richten. Und den Staat repräsentieren wir Bundestagsparteien auf Geheiß des Kapitals. Die Abhängigkeit vom Kapital gefällt uns Linken zwar nicht, aber wir akzeptieren das für eine Übergangszeit. Was die Zukunft bringen wird, ist eine andere Sache, die uns heute nicht interessiert. Also, ich bin auch der Meinung, wir sollten uns der im WOM entstehenden emanzipatorischen Bürger-Bewegung widersetzen, koste es was es wolle. Es geht um unsere Macht im Parlament und im Staat. Da dürfen wir nicht länger beiseite stehen. Sie alle kennen meine rechte erhobene Faust als Symbol für den Kampf zugunsten größerer Gerechtigkeit. Diese sei ebenfalls gereckt für den Kampf zur Verteidigung der derzeitigen parlamentarischen Demokratie und Machtverteilung.“
Es fehlte noch die Meinung der Liberalen. Deren lokaler Parteivorsitzender stimmte in den Chor gegen das WOM und gegen die parteilose Kandidatin mit ein. Seine Partei sei natürlich für Bürger-Freiheit und Bürger-Emanzipation, aber das, was sich jetzt über das WOM im Weserbergland an Bürgerprotest gegen den Parteienstaat anbahne, gehe doch gewaltig über die Hutschnur. „Ich bin dafür, wir lassen die Kirche im Dorf,“ meinte der Parteivorsitzende. „In Schüler-Zeitungen haben junge Leute genug Möglichkeiten, sich verbal über Politik auszulassen. Aber um aktiv Politik betreiben zu wollen, ist es ratsam, das über die erfahrenen Bundestagsparteien zu tun. Wir sollten im WOM die Jugendlichen ermutigen, in unsere Parteien einzutreten und dort ihre Ideen vorzutragen. Die Vorstellung, zusammen mit der parteilosen Kandidatin direkt im Bundestag Einfluss nehmen zu können, müssen wir den Jugendlichen unbedingt austreiben. Ich stimme zu, dass wir die verantwortliche Journalistin zu unseren Veranstaltungen einladen und ihr die Vorteile einer Mitbeteiligung in unseren Parteien nahebringen. Es stimmt auch, dass wir uns in der Vergangenheit zu wenig um die Meinung der Menschen gekümmert haben, obwohl wir dicke Parteienfinanzierung kassieren, um die politische Meinungsbildung zu fördern. Ich gebe zu, dass Nichtregierungsorganisationen ohne staatliche Zuschüsse die politische Meinungsbildung weit mehr fördern als wir. Doch das können wir korrigieren, in dem wir junge Sympathisanten in der heißen Phase des Wahlkampfes nicht nur zum Flugblätter-Verteilen und Plakate-Kleben benutzen, sondern ihre politische Mitarbeit im lokalen Rahmen ausdrücklich fördern, auch wenn dabei alte Zöpfe abgeschnitten werden müssen. Eine Partei, die die Unterstützung der Jugend verliert, weil sie Angst vor deren Meinung hat, der verliert letztendlich die Legitimation, das Volk zu vertreten,“
Jäger war zufrieden mit dem Ergebnis der Veranstaltung. Allen Bundestagsparteien waren das WOM ebenso wie die parteilose Bürger-Kandidatin ein Dorn im Auge geworden. Letztere bekäme wegen der neuen Online-Plattform jetzt eine realistische Chance, in den Bundestag gewählt zu werden. Die meisten Anwesenden waren auch der Meinung, es wäre allen geholfen, wenn die Redakteurin des WOM ihr Engagement wegen unzumutbarer Anfeindungen einstellen würde. Sie sei sozusagen die Seele der Bürger-Emanzipations-Bewegung im Weserbergland. Mit ihrem Aufgeben würden sicher auch viele junge Menschen Furcht vor ihrer jüngst geweckten Courage bekommen und in die gewohnte angstbehaftete Haltung zurückfallen. Mit dieser Veranstaltung glaubte Jäger, einen Freifahrtschein in der Hand zu haben, gegen Jasmin aktiv vorzugehen. Niemand würde auf die Idee kommen, er wäre persönlich in Querelen mit der Journalistin verwickelt. Das umso mehr als er sie in Zukunft noch einige Male charmant bei Veranstaltungen der Konservativen begleiten würde. Das jedenfalls plante er. Was Rainer anbelangte, so hatte dieser seiner Meinung nach bisher gute Arbeit geleistet, der Journalistin eine gehörige Portion Angst einzujagen. Den Bericht über Jasmins Unfall hatte Jäger mit Genugtuung entgegen genommen und Rainer für seine Aktivitäten bestens belohnt.
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