29 Okt 2018

Die kranke deutsche Demokratie

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie - 16. Folge

Politischer Mord im Weserbergland

 

Fiktion: Die Neue Rechte schliesst sich dem Kampf gegen das Weserbergland-Online-Magazin an

 

Foto: Wikimedia Commons, stillgelegte Eisenbahnbruecke in Hameln, Autor: Thomas Fitzek

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Das Treffen der Neuen Rechten im Hotel neben dem Hamelner Theater fand am selben Tag statt wie Jägers Veranstaltung in Hehlen. Dieses Treffen, das vom Vorsitzenden der Partei kurzfristig einberufen worden war, widmete sich weniger der Programmdiskussion als der Wahlkampfstrategie während der Sommerferien und der ‚heißen Phase‘ bis zum Wahltag. Die Direktion des Hotels hatte erstaunlicherweise nichts gegen den Event einzuwenden, obwohl Krawall zu erwarten war. Unterschiedlichste Gruppen hatten sich zusammengetan, um die Versammlung der Fremdenfeinde und Nationalisten zu stören. Man wollte in Hameln keine verkappten Neonazis dulden. Die Neue Rechte und das Hotel verlangten von der Polizei Schutz für die Veranstaltung und das Hotel. So wurde eine bestens ausgerüstete Hundertschaft herbeigekarrt, um die Neue Rechte vor den Demonstranten zu schützen. Tatsächlich verlief die Veranstaltung trotz kleinerer Scharmützel zwischen Demonstranten und Polizei glimpflich. Wie auch in Hehlen lag der Fokus in Hameln auf einer angemessenen Reaktion der Partei gegenüber der parteilosen Bürger-Kandidatin und dem Weserbergland-Online-Magazin.

                „Liebe Parteifreunde, wir stehen vor einem unerwarteten Phänomen einer Bürger-Emanzipations-Bewegung, wie sie in dieser Form wohl einzigartig in Deutschland ist,“ begann der Vorsitzende. „Wir kennen ja zur Genüge derartige Bürger-Bewegungen, wie bspw. PEGIDA in Dresden. Aber diese Bewegung hier im Wahlkreis, angeführt durch eine parteilose Kandidatin und befeuert durch das vom RND gesponserte Weserbergland-Online-Magazin, liegt ganz und gar nicht auf unserer Linie. Die Bürger-Bewegung will als Bewegung und nicht als Partei ins Parlament einziehen. Würde das gelingen, hätten wir seit 1949 erstmalig eine Bewegung im Parlament, die ihre Instruktionen von einer außerparlamentarischen Opposition bekommen würde. Das heißt auf gut Deutsch, das Volk selbst würde souverän ins Parlament einmarschieren. Unsere Vorstellungen von der im Grundgesetz verbrieften Volkssouveränität sind dazu grundsätzlich verschieden. Das betrifft besonders die Organisation bzw. die Macht-Frage in einer Demokratie. Analog zu den Altparteien sind wir strikt hierarchisch organisiert. Wir sind der festen Meinung, das Volk bzw. die Massen brauchen eine straffe Führung, ansonsten bricht Chaos aus. Die Bürger-Bewegung dagegen ist horizontal über lokale Bürger-Komitees organisiert, in denen es keine Führer gibt sondern eine kollektive Leitung mit charismatischen Persönlichkeiten an der Spitze. Daneben gibt es uns gegenüber den ideologischen Unterschied, der noch schärfer ist als zu den Altparteien. Sie tolerieren neben der traditionellen Familie andere neue Familienbilder. Sie sind offen für alle Kulturen auf der Welt und befürworten eine Integration auf geteilter ethischer Basis. Das Projekt Europa ist für sie unabdingbar, um Frieden für Deutschland zu garantieren. Die sogenannte Ausbeutung von rohstoffreichen Drittstaaten soll in Zukunft unterbunden und damit die weltweite Flucht eingedämmt werden. Die heimatliche Umgebung soll strikt ökologisch gestaltet werden mit Wissens- und Forschungs-Zentren als Entwicklungspole. Ihr könnt Euch vorstellen, wohin eine Politik dieser Art, die sie als eine humanistische bezeichnen, führen würde, nämlich zu Chaos und zu Ausverkauf der deutschen Heimat. Wenn diese Bewegung nur von ein paar Hundert Menschen im Weserbergland unterstützt würde, wäre sie nicht der Rede wert diskutiert zu werden. Nun zeigt sich jedoch, dass innerhalb von nur fünf Monaten die Bewegung zur stärksten politischen Kraft in der Region anzuwachsen droht. Das bedeutet, dass sie unser schärfster politischer Gegner in der ‚heißen‘ Wahlkampfphase wird. Vaterlandsverräter dürfen auf keinen Fall in den Bundestag. Dafür stehen wir als Partei. Deshalb bitte ich Euch zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Bürger-Bewegung und die parteilose Kandidatin Hauptfeind Nummer Eins sind. In der Debatte will ich Vorschläge hören, wie wir dieser Herausforderung begegnen sollten.“

                Nach diesen einleitenden Worten entspann sich ein reges Palaver. Vielerorts versuchten bereits Mitglieder der Neuen Rechten, im WOM zu posten und gegen die Bürger-Kandidatin sowie die verantwortliche Redakteurin Stimmung zu machen. Jedoch wurden wüste Beschimpfungen und Drohungen nicht zugelassen. Würde ein Mitglied der Neuen Rechten als offener Menschenfeind entlarvt, käme sofort die Forderung nach seinem Ausschluss aus dem WOM. Menschenfeinde hätten dort nichts zu suchen.

                Schließlich meldete sich Fritz aus Holzminden zu Wort: „Wie Ihr wahrscheinlich schon wisst, plant die Bürger-Bewegung einen Sommer-Marsch durch die Gemeinden des Wahlkreises. Dabei soll für die Ziele der Bewegung geworben und der innere Zusammenhalt gefestigt werden. Das sollte uns viele Möglichkeiten eröffnen, Gegendemonstrationen und Störungen dort zu veranstalten, wo die Bewegung aktiv wird. Vonseiten der Bundestagsparteien wird keine Opposition zu erwarten sein, denn das populistische Programm der Bewegung wird den Altparteien den Wind aus den Segeln nehmen. Ich schätze mal, der Wahlkampf wird jetzt auf ein Rennen zwischen uns und der Bewegung hinauslaufen. Die Altparteien werden weg vom Fenster sein, da die Kanzlerin das Land inzwischen an muslimische Messerstecher und Kulturbereicherer verscherbelt hat, was jetzt auch dem Dümmsten im Lande aufstößt. An diesem Punkt müssen wir die Bewegung um die Bürger-Kandidatin packen, denn sie predigt ein weltoffenes Deutschland. Das ist deren wunder Punkt. Sie sind Vaterlandsverräter und müssen als solche demaskiert werden. Ich schlage vor, dass wir eine schlagkräftige Truppe bilden, die die Humanisten, so wie sie sich selbst gerne bezeichnen, vor Ort anprangert und versucht, möglichst viele Leute von unserer Auffassung zu überzeugen. Jetzt ist die Heimat in Gefahr, wir werden sie mit allen Mitteln verteidigen!“

                Der martialische Einwurf von Fritz wurde begeistert aufgenommen. Die Versammlung beschloss, zwei Koordinationsstellen einzurichten, in Hameln und in Holzminden, wo Fritz sich bereit erklärte, die Verantwortung zu übernehmen. Auch für Hameln fand sich in der Person von Rainer ein geeigneter und unerschrockener Kandidat. Adressen wurden ausgetauscht und erste Termine für die Koordinationsstellen gegen Reginas Sommer-Reise wurden festgezurrt. So hatte sich der Vorsitzende der Neuen Rechten das vorgestellt. Er war stolz auf die Militanz der Mitglieder. Mit dieser Truppe würde es die Partei im Wahlkampf weit bringen.

 

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Realitaet: Vor Beginn der heissen Wahlkampf-Phase

Erfahrungen des Unterstützer-Unterschriften-Sammelns

Einblick in die Waehler-Seele

Gottseidank! Das Zweihundert-Unterstützer-Unterschriften-Sammeln ist vorbei und gut ausgegangen. Als parteiloser Bürgerkandidat habe ich diese Ochsentour seit Anfang März jetzt hinter mir. Dabei hatte ich die ersten beiden Monate überhaupt keine Unterstützung, was nach Übersiedlung von Panamá nach Deutschland auch nicht anders zu erwarten war. Erst die letzten beiden Monate bekam ich Unterstützung durch die PIRATEN, durch Privatpersonen und schließlich durch attac. Aber die eigentliche Herausforderung bestand in persönlichen Hausbesuchen, die den Hauptanteil der Unterschriften erbringen sollten. (Etwa 600 Hausbesuche, davon 200 mit durchschnittlich halbstündigem Gedankenaustausch, 350 km Fußmärsche, da weder Auto noch Fahrrad zur Verfügung standen) Es waren zwei Monate Wettlauf gegen die Zeit bei ungewissem Ausgang. Anfang Juli wurde er erfolgreich abgeschlossen, trotz zwischenzeitlicher Frustrationen und Schlafschwierigkeiten. Die dabei gemachten Erfahrungen möchte ich nicht missen. Sie werden Orientierung und Aufmunterung für die kommende Wahlkampfphase bedeuten. Ich hoffe jedenfalls, dass ich in der nun beginnenden heißen Phase des Wahlkampfes, die durch einen ‚Langen Marsch‘ durch die Gemeinden des Wahlkreises mit Bürgerversammlungen und gemeinsamen Auftritten mit weiteren Direktkandidaten gekennzeichnet sein wird, besser schlafen kann und einen Teil der Wählerinnen und Wähler für das Abenteuer der Bürger-Emanzipation gegenüber Parteienmacht und Parteienstaat begeistern kann. Ich gebe zu, dass Ohnmacht, Angst, Obrigkeitshörigkeit und verdeckte Wut des ‚Normalbürgers‘ mich doch beinahe in den vergangenen Monaten erdrückt haben. 

                Bevor ich auf die Erfahrungen dieser ersten Monate des Wahlkampfes und der daraus zu ziehenden Lehren eingehe, sei die Frage gestattet, wie es wohl den Direktkandidaten der BT-Parteien ergangen sein mag, um auf den Wahlzettel und später eventuell in den neuen Bundestag zu kommen. Sie sind meine Mitbewerber um ein Mandat im Wahlkreis. Haben sie eine vergleichbare Ochsentour hinter sich? Meine Vermutung: eine Ochsentour gewiss. Nur wird sie völlig anderer Natur und Dauer gewesen sein. Sie haben sich als Partei-Soldaten jahrelang andienen müssen, haben Koffer getragen, sind endlos Rad gefahren, haben sich in Ortsvereinen und Parteistrukturen hochgearbeitet, immer den Karriere-Blick auf die Partei-Mitglieder und vor allem auf ihre Partei-Oberen gerichtet. Ja nichts falsch machen! Die eigene Meinung geschickt dem Parteien-Mainstream anpassen! Bürger-Meinungen zwar anhören vor jeder Wahl, doch was zählt, ist das Antanzen bei den jeweiligen Parteien-Grosskopferten, das Auswendiglernen des Parteiprogramms und das Wiederkäuen der Parteiparolen vor den unmündigen Wählerinnen und Wählern aus den Wahlkreisen. Das sind alles Leistungen im Namen der Demokratie, die es zu bewältigen gilt. Und da sage einer noch, die Abgeordneten-Bezüge seien zu hoch, wie ich sie beispielsweise kritisiere. Ein eigenes Häuschen und eine stattliche Pension müssen hart erarbeitet werden. Um die zu bekommen, ist für den BT-Parteien-Kandidaten der Bürger alle vier Jahre am Wahltag König und wird mit millionenschwerer Parteien-Propaganda und tausenden von Konterfeien bombardiert: „Unsere Frau, unser Mann für Berlin“. Nach der Wahl darf der Bürger brav seine Untertanen-Rolle weiterspielen. Nun gut, solange der Untertan etwas zu beißen hat, und mir wird von demselben immer wieder versichert, in Deutschland habe er ja mehr zu beißen als in anderen Ländern, solange gilt der Spruch eines BT-Kandidaten aus dem Wahlkreis: „Schließlich sind wir mit unserer repräsentativen Demokratie bisher gut gefahren.“ 

                Man möge mir diese sarkastischen Bemerkungen über die Mitkandidaten, deren Fotos und Parteien-Logos ich jetzt immer häufiger die Landschaft zieren sehe, verzeihen. Es steckt gewiss kein Neid über millionenfache Parteienförderung aus öffentlichen Kassen und privaten Groß-Spenden der Wirtschaft dahinter. Es macht mich nur traurig und auch wütend, wie die kranke deutsche Demokratie mit ihrem sich alle vier Jahre wiederholendem Wahlspektakel funktioniert, geschmiert funktioniert, und das seit Ende des letzten großen Krieges und dem Wiederaufbau aus der Asche des Faschismus‘ heraus. Alle vier Jahre aufs Neue entdecken die BT-Parteien ihr Herz für die Menschen im Land, um dieses Parteien-Herz sogleich am Wahlabend geschwind wieder erkalten zu lassen. Sie rechnen mit der Dummheit und Trägheit des Wählers, der sich demütig dem vermeintlich unabänderlichen deutschen Demokratie-Modell fügt, obwohl sich doch die Väter des Grundgesetzes eine gänzlich andere, eine ‚mündige‘ Bürgerrepublik vorstellten, in der Parteienseilschaften, und nicht zuletzt der Bundestag, durch unabhängige Bürgermacht kontrolliert werden sollte. Diese Gedanken im aufkommenden Propaganda-Feldzug der BT-Parteien und der AfD mischen sich jetzt in der heißen Phase des Wahlkampfes mit meinen Erfahrungen beim Unterstützer-Unterschriften-Sammeln. Ich bin angetreten mit dem Versuch, eine Bürger-Emanzipation im Wahlkreis loszutreten: „Weg vom kapitalistischen Weiterso, weg von deutscher Xenophobie und hin zu mehr Menschlichkeit, Weltoffenheit, Solidar-Wirtschaft und Bürger-Macht in der Politik.“

                Nun zu den vorherrschenden Gemütslagen des Bürgers im Weserbergland (sicher auch im übrigen Bundesgebiet):

Angst: „Hermann, ich kann es mir nicht leisten, mit Dir assoziiert zu werden.“ Was hat diese häufige Aussage für Gründe? Beim abhängig Beschäftigten steckt die nackte Angst dahinter, meine system-kritischen politischen Aussagen könnten als vom Beschäftigten geteilt angesehen werden. Das sei für dessen Karriere hinderlich. Zu Brandts Zeiten gab es den Radikalenerlass und Berufsverbote, und gegenüber den Menschen, die diesen Makel mit sich herumschleppten, war Abstand geboten und Sympathie unmöglich.

Beim pensionierten Mittelständler kommt Angst gegenüber dem Freundeskreis auf. „Mein Gott, Du hast doch immer die Union oder die SPD gewählt. Wieso kommst Du auf Deine alten Tage dazu, auszuscheren (aus der jeweiligen Seilschaft), selbst wenn Du Hermanns Ideen für diskussionswürdig ansiehst und ihn sympathisch und ehrenhaft findest.“ Insgesamt hat der Mittelständler ungeheure Angst, seinen privilegierten Lebensstandard zu verlieren. Gesellschaftliche Veränderungen könnten unabsehbare Folgen zeitigen. Deshalb korreliert Merkels unvergleichlicher Nimbus direkt mit der großen Angst des Mittelständlers, seine materiellen Privilegien könnten den Bach runter rutschen. Dabei ist gar nicht einmal die Sorge um die Zukunft von Kindern und Enkelkindern wichtig, sondern die Sorge, im Alter kein ‚sattes‘ Leben mehr führen zu können. Zukünftige Genenationen sind eigenverantwortlich, wie sie es selbst ihr Leben lang waren. „Sollen sie doch sehen, wie sie zurechtkommen. Ich musste es ja auch in meiner Zeit.“

                Dann ist da die Angst eines stetig anwachsenden Niedriglohnsektors und der Prekär-Beschäftigten. Man muss sich das einmal vor Augen führen, dass unser kapitalistisches System immer mehr abhängig Beschäftigte produziert, die Zeit ihres entfremdeten Arbeitslebens Ängste mit sich herumschleppen, irgendwann einmal aus dem System herauszufallen und im Alter ungenügend versorgt zu sein. Das sind inzwischen 40 bis 50% der Bevölkerung. Ihr Krankheitsstand und Lebenserwartung sind mitnichten vergleichbar mit der Situation des Mittelstandes. Bei der Lebenserwartung haben wir inzwischen eine um zehn Jahre reduzierte Lebenserwartung der etwa 30% der ärmsten Bevölkerung. Das ist eine gravierende Menschenrechtsverletzung, die längst hätte eingeklagt werden müssen. Nichts da mit dem dummen Spruch: „So gut wie heute ging es den Deutschen noch nie!“ Es müsste dagegen heißen: „So wenig öffentliche Wohlfahrt bei so viel gesellschaftlichem Reichtum ist ein Versagen der Politik, wie es nicht schlimmer sein kann.“ 

                Schließlich gibt es die „German Angst“, diejenige, die durch die Kriegs-Generation auf die erste Nachkriegsgeneration übertragen wurde. Meine Generation mag teilweise durch Erzählungen von Müttern, Vätern und Großeltern angstbesessen sein, doch überwiegend ist mein heutiger Eindruck: Diese fürchterlichen Existenz-Ängste, die alle sozialen Gruppen durchziehen, außer den ‚Steinreichen‘ der deutschen Gesellschaft, sind ein Produkt des kapitalistischen Nachkriegssystems, dem es in erster Linie um Anhäufung materieller Werte ging und weiterhin geht auf Kosten entfremdeter und prekärer Arbeitsverhältnisse. Kapital und seine von ihm abhängige Politik machen das Angebot an den Bürger nach ihrem Gusto. Der angstverhaftete Bürger/Untertan hat das Angebot zu akzeptieren oder bei Ablehnung die Konsequenzen zu tragen. Dagegen muss die politische Forderung unserer Zeit lauten: Erst die selbstbestimmte Nachfrage des Bürgers nach Gütern und Diensten macht würdige Lebensbedingungen für alle Menschen im Lande möglich. Oder anders ausgedrückt: Der Bürger muss endlich Subjekt seiner eigenen Geschichte werden. Politische Parteien und Staat sind seine Diener, nicht seine Gebieter.

Ohnmacht: „Was können wir Bürgerinnen und Bürger schon gegen ‚die da oben‘ ausrichten?“ Mir wird schlecht bei diesem Seufzer, der fast unisono an mein Ohr dringt. Es kann doch nicht sein, dass außer der politischen und wirtschaftlichen Elite ein ganzes Volk diesen Trauergesang verinnerlicht hat! Mit Ausnahme lokaler Probleme, bei deren Lösung der lokale BT-Parteienfilz nicht komplett das politische Machtmonopol ausübt, fühlt sich der Bürger hilflos, wenn es um die wichtigsten Entscheidungen über seine Lebensbedingungen geht. „Machen Sie sich nur keine Illusionen, dass Sie etwas als parteiloser Bürger-Abgeordneter im BT bewirken könnten.“ So wird es mir immer wieder um die Ohren gehauen. Ich frage mich nach 40 Jahren Auslandstätigkeit, in welch ein Land bin ich zurückgekommen? Was ist mit meinen Landsleuten seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts passiert? Was für ein ängstlicher und sich ohnmächtig fühlender Menschentyp ist der deutsche ‚Normalbürger‘, der im Vergleich zu Menschen anderer Länder und Kulturen wie die Made im Speck lebt? Derlei Bekenntnisse von mehr als 90% der Menschen katapultieren mich einfach aus den Socken! Immer wieder widerhallt dagegen Merkels Spruch in meinem Kopf: „So gut wie heute ging es den Deutschen nie!“ Wo nimmt die Kanzlerin diese Überzeugung her? Wird dieser leere Spruch deswegen ständig wiederholt, um nicht vor lauter Verzweiflung den eigenen Abgang antreten zu müssen? Wäre ich in vergleichbarer Position, würde ich vor Scham im Boden versinken, so ein verängstigtes und sich ohnmächtig fühlendes Volk in der Welt zu vertreten! Kommt Stolz und Selbstbewusstsein in der deutschen Zivilgesellschaft nur dann hervor, wenn es um Fußball geht oder um Protzerei und Herausstellung materiellen Wohlstands von braven Konsumenten und folgsamen Leistungs-Erbringern? Heute kommt ja auch als zusätzliche Erfolgs-Kategorie und Stimulus für das Selbstbewusstsein des Deutschen das Tricksen dazu, das Ottonormalverbraucher nicht merken soll. Nicht umsonst reitet De Maizière auf der tollen ‚deutschen Leitkultur‘ herum, die bewirkt, dass die deutsche Gesellschaft immer stärker in Arm und Reich auseinanderdividiert wird, mit dem mehrheitlichen deutschen Angsthasen und Ohnmächtigen auf der einen Seite und dem erfolgreichen Leistungsträger als Mitglied der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes andererseits. Auf eine solche ‚deutsche Leitkultur‘, die sich im jüngsten Diesel-Skandal wieder einmal von der besten Seite präsentierte, kann ich verzichten.

Obrigkeitshörigkeit: Angst und Ohnmachtsgefühl sind zwei wesentliche Komponenten der Obrigkeitshörigkeit, die in den Köpfen der deutschen Untertanen seit vorreformatorischen Zeiten, erst durch die katholische Kirche, dann während der Reformation und dem deutschen Bauernkrieg durch Luthers gefordertem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, bis heute tief eingebrannt sind. Beispiel: Eine typische Unterhaltung mit zwei Rentnern in meinem Alter vor ihrem schmucklosen Sozialwohnungsblock, einer mit einer Rente von 650 Euro/Monat, der andere mit 1.150 Euro/Monat, inkl. Betriebsrente, beide ehemalige Arbeiter im selben Betrieb. Auf meine Frage, ob es nicht sinnvoll sei, allen Erwachsenen ein Grundeinkommen von 1.100 Euro zukommen zu lassen (derzeitige Armutsgrenze in Deutschland), antwortete der Bessergestellte: „Ich bin nicht dafür, habe 45 Jahre hart gearbeitet, kann mir zwar nichts leisten, komme aber einigermaßen mit meiner Rente zurecht. Sicher, die medizinische Versorgung ist nicht mit der eines Wohlhabenden zu vergleichen, aber Sie sehen ja, ich lebe noch. Dass mein ehemaliger Kollege mit dem Grundeinkommen genauso viel haben soll wie ich, das sehe ich nicht ein. Der hat ja viel weniger als ich gearbeitet. Wer sich abrackert wie ich, der kommt im Alter auch irgendwie über die Runden.“ Der Kollege mit 650 Euro wurde mit 50 Jahren wegen betriebsbedingter Krankheit zwangspensioniert und muss deshalb mit weniger Geld auskommen. Auf meine Frage hin, ob das denn gerecht sei und auch auf den Hinweis, dass die medizinische Versorgung dieser beiden Rentner eine weitaus geringere Lebenserwartung bedingte, als die der Mittelschicht, kam dann die Antwort: „Was soll ich denn machen? Ich habe Pech gehabt im Leben. Na ja, mein Kollege hatte eben mehr Glück als ich. Im Übrigen werde ich sowieso nicht mehr lange leben. Was soll mir jetzt noch ein höheres Grundeinkommen nützen. Bis das kommt, bin ich längst unter der Erde.“ Derartige Antworten und Reaktionen machen mich fassungslos. Immer wieder muss ich über die Ergebenheit des deutschen Bürgers/Untertans gegenüber Staat und Politik staunen. Die relativ glatte Durchsetzung von Schröders Agenda 2010 hatte mich schon gewundert. Aber vor allem die unwidersprochene, diktatorische Entscheidung der Kanzlerin im Herbst 2015, ohne vorherige Diskussion selbst in ihrer eigenen Partei und im Kabinett, über die Öffnung der Grenzen zugunsten der Flüchtlinge, eine einsame Entscheidung, wie sie in deutscher Nachkriegsgeschichte ohne Beispiel ist, ist m. E. eklatantes Beispiel für Obrigkeitshörigkeit. Und das selbst, wenn die diktatorische Entscheidung einen humanitären Akt betrifft. Auch ein solcher muss in einer gesunden Demokratie auf Konsensentscheidung beruhen, die mit Beginn der akuten Flüchtlingskrise seit Lampedusa (2013) hätte vorbereitet werden können.

Verdeckte Wut: Wie oft wurden mir die Türen vor der Nase zugeknallt! Häufig mit wütenden Äußerungen begleitet: „Verdammte Politik! Lassen Sie mich damit bloß in Ruhe. Diese elenden Politiker, die sich auf unsere Kosten bereichern!“ Die Politik und ihre Vertreter genießen ein Ansehen bei ‚Ottonormalverbraucher‘, das diesen eigentlich die Schamröte ins Gesicht treiben müsste. Die Politikerin und der Politiker von heute können von Glück reden, wenn sie wegen der Obrigkeitshörigkeit des Bürgers bislang einigermaßen sicher in ihrem Treiben sind. Noch hält der ‚gemeine Bürger‘ seine geballte Faust mehrheitlich unter dem Tisch verborgen, wenn auch nach Merkels autoritärer Entscheidung ein Teil der Bevölkerung die Untertans-Wut offen heraus lässt: Siehe PEGIDA, siehe offene Bedrohungen von Politikern, siehe die zahlreichen Hass-Kommentare in den Medien. Die Stimmung gegenüber der Politik wird merklich gereizter und feindlicher. Wenn ich den Wählerinnen und Wählern erkläre, ich sei kein Politiker, will niemals einer sein, will jedoch mich als Bürger in die Politik einmischen, um meine Lebensbedingungen aktiv mitzugestalten und will andere Menschen ebenfalls ermutigen, das Gleiche zu tun, dann kommt immer wieder die Antwort: „Das ist ein aussichtsloses Unterfangen. Die Politik und ihre etablierten Parteien werden das keinesfalls dulden. Da bekommen Sie keinen Stich. Das ginge nur, wenn die Medien mitspielen würden, denn ohne die geht gar nichts.“

                Dieser letzte Satz über die Medien ist sicher entscheidend für meine Chancen, von den Wählerinnen und Wählern wenigstens wahrgenommen zu werden und mein Programm publik zu machen. Das habe ich bisher bereits zur Genüge erfahren müssen. Wie dieses Problem und die bisher gemachten Erfahrungen, die ich aus dem Unterschriften-Sammeln gewonnen habe, die heiße Phase meines Wahlkampfes bestimmen werden, werden die kommenden Wochen bis zur Wahl zeigen. Am 10. August, in wenigen Tagen, ist meine erste Bürgerversammlung fällig. Es wird spannend werden.

 

(Anfang August 2017)