31 Okt 2018

Die kranke deutsche Demokratie

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie - 17. Folge

Politischer Mord im Weserbergland

 

Fiktion: Sommerreise durch das Weserbergland

Erste Etappe von Hess. Oldendorf ueber Klein Suentel nach Bad Muender am Deister

 

Foto: Wikimedia Commons, Klein Suentel, ehem. Glashuette, Autor: Axel Hindemith

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„Liebe Jasmin, oder besser: Meine liebste Jasmin, was ich leider nicht sagen darf,“ so begann der Brief, den Chris Jasmin in ihrer Schreibtischlade hinterlassen hatte, bevor er mit seiner Mutter und Pierre nach Hess. Oldendorf zum Beginn der Sommer-Reise durch das Weserbergland aufgebrochen war. Auf den Briefumschlag hatte Chris eine kleine wilde Rose mit Tesafilm geklebt. Berührt hatte Jasmin den Brief einen Tag später geöffnet, als sie aus Hannover von einem Treffen mit Ralf zurückkam. Chris schrieb weiter: „Du kennst meine Gefühle zu Dir und weißt, dass ich oft in den Nächten davon träume, anstelle meiner Mutter an Deiner Seite und in Deinen Armen zu schlafen. Ich male mir aus, im Himmel könnte es nicht schöner sein. Aber ich freue mich auch, dass meine Mutter Dich liebt und Du sie. Ich muss Dir etwas gestehen. Ich weiß nicht, ob ich ihr damit unrecht tue. Es geht um Mona. Seit wir beide uns bei Deinem Schreibwettbewerb kennengelernt haben, interessiert sie mich. Ich finde, sie ist ein tolles Mädchen oder besser eine schöne und intelligente junge Frau. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ich wie bei Dir meinen Kopf in ihren Schoss legen würde. Ich frage mich auch, wie es wäre, wenn ich ihr einen Kuss gäbe, wie ich es bei Dir ausgekostet habe. Natürlich wage ich nicht, ihr das zu sagen oder vorzuschlagen. Vor allem auch, weil ich oft, wenn ich sie ansehe, Dein Gesicht sehe. Und wenn ich neben ihr sitze, kommt mir Dein Körpergeruch in Erinnerung, obwohl sie doch ganz anders riecht. Sie ahnt das nicht. Ist auch besser so. Ist das von meiner Seite ungehörig und unrecht ihr gegenüber? Womöglich hielte sie mich für verrückt, wenn sie wüsste, dass ich solche Gedanken im Kopf habe. Ich weiß auch nicht, ob ich ganz normal bin oder nicht. Aber was soll ich machen? Meinst Du, anderen Jungen und Mädchen ergeht es ebenso wie mir? Ist es das Alter, dass mich so sein lässt, oder gehört das einfach zu mir? Du hast meine Mutter als Frauenwunschbild abgelöst. Geht jetzt mein Liebeswunsch zu Frauen, wie ich ihn von klein auf hatte, zu Mona über?  Du bist die Einzige, mit der ich darüber sprechen kann, und die mich deswegen nicht komisch ansieht oder mich verurteilt. Jasmin, ich freue mich auf die kommende Sommer-Reise, an der auch Mona, Pierre und Simone teilnehmen. Vielleicht reifen meine Gedanken und Sehnsüchte während dieser Zeit, in der wir meine Mutter bei ihrer Wahlkampagne beistehen. Du wirst sicher ab und zu bei unseren Veranstaltungen dabei sein und darüber im WOM berichten. Wir haben dann wahrscheinlich keine Zeit, nur unter uns zu sein. Aber Du musst wissen, dass Du mich in meinen Gedanken die ganze Reise über begleiten wirst und mir Kraft gibst. So wie Du und meine Mutter möchte ich auch in meinem Leben für Freiheit und Liebe kämpfen. Das scheint mir das Wichtigste im Leben zu sein. Wir sehen uns. Eine liebe Umarmung und einen Kuss, Dein Chris.“ 

                Jasmin war gerührt über den Brief von Chris. Nach ihrer Eltern-Liebe fühlte sie zum ersten Mal Liebe von anderen Menschen in sich widerhallen: von Regina und von Chris. Die Erlebnisse mit Tom und Helmut waren sexueller Austausch. Mit Regina und Chris zog die Liebe mit aller Macht in ihr Leben ein. Doch sie wurde sich auch in letzter Zeit immer mehr bewusst, dass Liebe mit Hass einhergeht. Gerade hatte sie mit Ralf die fürchterlichen Hass- und Rassismus-Kommentare gegen sich durchgelesen, die in der Redaktion des WOM eingegangen waren. Es schien ihr, als ob die zunehmende Liebe in ihrem Leben durch zunehmenden Hass gegen sie begleitet würde. Warum steckt die Welt voll abgrundtiefer Lust auf Vernichtung des Fremden? Sicher, sie hatte vor allem im ‚Arabischen Frühling‘ das ,Monster Mensch‘ kennengelernt. Aber das Monster war damals nicht direkt gegen sie gerichtet. Jetzt hatte es sich gegen ihre Person erhoben. Wurde sie um ihre Liebe zu Regina und Chris beneidet? Bestimmt nicht. Davon wusste niemand. Eher begehrte das Monster gegen ihren Freiheitskampf auf, der gleichzeitig ein Kampf um Menschenliebe ist? Noch nie zuvor war ihr das Eintreten für Ideale zu einem lebensbedrohenden Phänomen erwachsen. War es den Juden in deutscher Geschichte ebenso ergangen? Sind Menschen, wo auch immer auf dem Globus zuhause, stets dem Gegensatzpaar Liebe und Hass ausgesetzt, das keinen Frieden zulässt? Ist das Wesen des Menschen zwiegestaltig: Monster-Mensch und empathischer Mensch? Müsste sie jetzt, da sie den Kampf für Bürger-Emanzipation aktiv aufgenommen hatte, mit diesem zwiegestaltigen Wesen des Menschen leben lernen? Sie schauerte vor diesem Gedanken, aber sie würde das auf sich nehmen. Das war sicher auch die Bestimmung ihres Lebens, und das verband sie mit Regina und auch mit Chris, der von alledem in frühem Alter zu ahnen begann.

                Vor dem Schlafengehen bereitete sich Jasmin noch einen beruhigenden Kräutertee zu. Morgen in der Frühe würde sie nach Hess. Oldendorf aufbrechen, um der ersten öffentlichen Kundgebung von Regina beizuwohnen und um darüber im WOM zu berichten.

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Die Fahrrad-Sommer-Reise der Bürger-Komitees sollte drei Wochen dauern. Um Kosten zu sparen, war das Übernachten in der Regel in Jugendherbergen oder in Zelten vorgesehen. Vier Absichten sollten parallel verfolgt werden: Wahlveranstaltungen in den größeren Gemeinden mit Flyer-Verteilen, Diskussionen innerhalb der Reise-Gruppe über die Wahlziele, Stärkung des inneren Zusammenhaltes der Bewegung und schließlich Besichtigen touristischer Orte im Weserbergland. Es könnten jederzeit neue Teilnehmer spontan dazu stoßen. Jeden Abend würde für den kommenden Tag vorgeplant. Die Reise sollte im Norden des Wahlkreises in Hess. Oldendorf beginnen, dann über Bad Münder, Coppenbrügge, Salzhemmendorf, Bodenwerder, Polle, Holzminden, Uslar, Bodenfelde und linksseitig der Weser über Ottenstein, Bad Pyrmont, Hämelschenburg wieder zurück nach Hameln führen. Drei große Veranstaltungen seien in Holzminden, Bad Pyrmont und Hameln vorgesehen. In den übrigen Gemeinden würde flexibel geplant werden. Die jeweiligen Verwaltungsbehörden seien bereits per Mail im Voraus kontaktiert worden. Regina hatte 100.000 Flyer und ebenso viele Aufkleber drucken lassen. Fünfzig junge Leute im Alter zwischen 15 und 30 Jahren hatten sich fest angemeldet. Beide Geschlechter waren gleich vertreten. Einige Rentnerinnen und Rentner wollten abschnittsweise dabei sein.

                Die Teilnehmer der Sommer-Reise trafen sich im Süntelbad-Camp in Haddessen bei Hess. Oldendorf, wo zwei Nächte eingeplant waren. Der erste Tag war für eine Hohenstein-Wanderung vorgesehen. Die begann nach einer kurzen Radfahrt über Bensen und Zersen zum Wanderparkplatz ‚Kreuzsteinquelle‘ im Blutbachtal. Dort wurden die Fahrräder abgestellt und eine unvergessliche Wanderung durch das Blutbachtal zur Baxmannbaude und hoch hinauf zum Hohenstein begann. Die meisten Mitglieder des Bürger-Komitees aus Hess. Oldendorf waren an diesem Tage mit Flyer-Verteilen in der Stadt beschäftigt, denn am nächsten Tag sollte die erste öffentliche Veranstaltung auf dem Marktplatz von Hess. Oldendorf stattfinden. Zwei ortskundige Mitglieder begleiteten die Hohenstein-Wanderer bei bestem Sommerwetter und erzählten von den Sagen dieser Landschaft seit vorchristlichen Zeiten, die bereits mit der Schlacht des Sachsen-Königs Widukind gegen die Truppen des Franken Königs und späteren Kaisers Karl dem Großen zu Ende des achten Jahrhunderts ihren ersten Höhepunkt hatten. Davon zeugen Landschaftsnamen wie Totental, Blutbach und die 50 Meter hohen Klippen des Hohensteins mit der Teufelskanzel, dem Hirschsprung und dem Grünen Altar. Vor der Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen war der Hohenstein eine bedeutende sächsische Kultstätte. Sie bietet eine atemberaubende Sicht hinunter ins Wesertal und stärkte die Lebensgeister der Reise-Gruppe zu Beginn ihrer Sommer-Wahlkampf-Tour.

                Zurück im Süntelbad-Camp bereiteten sich die Teilnehmer der Sommer-Reise auf die Veranstaltung am nächsten Tag vor.  Regina wollte ihre Kandidatur als eine gemeinsame Bürger-Initiative vorstellen. Aus jedem Bürger-Komitee im Wahlkreis wurde eine Sprecherin oder ein Sprecher ausgewählt, um ein Wahlziel vorzustellen. Anschließend hatte Regina eine Zusammenfassung vorgesehen, bevor auf Fragen und Vorschläge vonseiten der Zuhörer eingegangen werden sollte.

                Gegen elf Uhr vormittags begann die erste öffentliche Veranstaltung auf dem Marktplatz in Hess. Oldendorf. Mitglieder des Bürger-Komitees aus Hess. Oldendorf hatten vorher 3.000 Flyer an alle Haushalte verteilt. Im WOM war ebenfalls für die Veranstaltung geworben worden. Die etablierten Medien veröffentlichten eine kurze Notiz. Neben der Reise-Gruppe waren etwa 500 neugierige Bürgerinnen und Bürger aus der Stadt und dem Umland gekommen, um der Kundgebung beizuwohnen. Die Teilnehmer waren beinahe ausnahmslos regelmäßige Leser und Kommentatoren des WOM.

                Was sich in Hess. Oldendorf erstmalig abzeichnete, war typisch auch für die kommenden Veranstaltungen in den Gemeinden des Wahlkreises. Die Hälfte der Teilnehmer waren junge Menschen, die sich vom Parteienstaat und den sie vertretenden Seilschaften schon lange abgewendet hatten. Sie waren überwiegend Neuwähler oder den vorherigen Wahlen aus der Überzeugung heraus ferngeblieben, politisch doch nichts verändern zu können. Die Bundestagsparteien und ihre Oberen hätten den gesamten Staatsapparat fest in ihrer Hand, vor allem wegen ihrer, wie sie meinten, unverschämten Selbstbedienung aus staatlichen Haushaltstöpfen. Die andere Hälfte war eine bunte Mischung aus alleinerziehenden Müttern, Arbeitslosen und HartzIVlern, Rentnerinnen und Rentner und auch einige selbstständige Handwerker und Landwirte. Aktive Arbeiter, die traditionell mit Gewerkschaften und SPD verbandelt sind, waren an diesem Samstagmorgen wenig vertreten. Dafür erschienen junge Menschen aus Umweltorganisationen und auch Jung-Sozis, die vor allem den üblichen paternalistischen Stil ihrer ‚Oberen‘ satt hatten. Ihnen kam es auf das Mitreden und Mitentscheiden an, auf die Bürger-Macht.

                Die ausgeglichene Wirtschaftsstruktur hatte seit jeher im Weserbergland für eine politische Pattsituation zwischen Sozis und Konservativen gesorgt, die nicht selten die Entwicklung des Weserberglandes paralysierte. Schon immer war das Handwerk und die Industrie neben Land- und Forstwirtschaft stark vertreten, wobei die beiden ersten Sektoren vor allem den Sozis geneigt waren, während es die Bauernschaft mehrheitlich mit den Konservativen hatte. Der private Dienstleistungssektor war ebenfalls Revier der Konservativen und der öffentliche wiederum war Sozi-Land. Über die Lehrerschaft kamen auch die Grünen seit den 80er Jahren zu einigem Gewicht; ja und die Liberalen hatten es mit dem selbstständigen Mittelstand. Linke einerseits und Rechte andererseits waren politische Randgruppen, die sich jedoch nach der Wiedervereinigung immer stärker bemerkbar gemacht hatten, besonders die Neue Rechte. Sie begann nach Merkels Flüchtlingsentscheid im September 2015 an allen Ecken und Kanten der Gesellschaft zu zündeln und zog eine immer grösser werdende Anhängerschaft an, die freilich öffentlich noch nicht den Mut aufbrachte, wie die beiden Platzhirsche Konservative und Sozis aufzutrumpfen. Noch waren sie die gesellschaftlichen ‚Schmuddelkinder‘. Aber die kommende Wahl könnte ihnen einen Platz an der Sonne reservieren.

                Chris hielt sich mit Pierre, Mona und Simone in der Nähe des Eiscafés gegenüber dem Rathaus auf. Vor der Sparkasse war eine Bühne aufgebaut. Regina hatte sich dort inmitten der Menschenmenge mit den Verantwortlichen der Bürger-Komitees eingefunden. Ein Mitglied des Komitees aus Hess. Oldendorf versuchte, auf der Bühne mit Hilfe eines Mikrophons für Aufmerksamkeit zu sorgen. Es waren zwei Transparente angebracht: ‚Regina in den Bundestag‘ und ‚Bürger-Macht statt Parteien-Macht‘. Als die Kundgebung offiziell beginnen sollte, kam plötzlich eine kleine Gruppe von Fremdenfeinden und Anhängern der Neuen Rechten aus Richtung Rathaus herbeigeeilt. Sie trugen zwei Transparente vor sich her: ‚Neger und Musels raus aus unserer Heimat‘ und ‚Gutmenschen sind Vaterlandsverräter‘. Sie stürzten sich direkt auf die Gruppe um Pierre und wurden handgreiflich. Ihr Anführer packte Pierre und schrie: „Mach Dich aus dem Staub! Du hast in Hessisch Oldendorf nichts zu suchen!“ 

                In diesem Augenblick kam ein großer Afrikaner, der gerade ein Eis gekauft hatte, mit einem Riesensatz aus dem Café gesprungen und drückte dem Anführer das Eis ins Gesicht, schüttelte ihn hin und her und drohte in gebrochenem Deutsch: „Wenn Ihr Rassisten nicht sofort verschwindet, setzt es Hiebe!“  Die Umstehenden ergriffen sofort Partei für Pierre und den unbekannten Farbigen, so dass die Fremdenfeinde fluchtartig den Schauplatz verließen, noch bevor die Polizei gerufen werden konnte.

                Regina erkannte blitzschnell die Situation und auch die Gefahr für die Kundgebung. Die Polizei könnte diesen Vorfall zum Anlass nehmen, um die Veranstaltung zu verbieten. Sie stieg auf die Bühne und beruhigte die Gemüter der Anwesenden. „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit werden uns nicht einschüchtern, für Gleichheit und Menschlichkeit einzustehen. Die Ewig-Gestrigen werden Deutschland nicht wieder in ein Land der Intoleranz und des Hasses gegenüber dem Fremden verwandeln. Das hat schon einmal in der Geschichte zu einer wahnwitzigen Katastrophe geführt, vor der sich Deutsche bis heute schämen müssen. Aber wir wissen auch, dass wir vor allem der GroKo dieses Anwachsen von Rassismus und Menschenfeindlichkeit in jüngster Zeit zu verdanken haben. Integrations- und Flüchtlingspolitik ist derart unverantwortlich angepackt worden, dass die Neue Rechte mit jedem weiteren Tag nur die Früchte dieser verfehlten Politik einzusammeln braucht. Flucht muss da bekämpft werden, wo sie beginnt, wo unmenschliche Lebensbedingungen Menschen zum Verlassen der Heimat zwingen. Und Integration bedeutet nicht nur Brot und Arbeit anzubieten, wie es seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts geschieht, sondern das tägliche Miteinander auf Basis einer gemeinsam getragenen Verhaltensethik zu gestalten, ohne Menschen zweiter Klasse bzw. Parallelgesellschaften zu schaffen. Doch lasst uns diesen traurigen und ärgerlichen Anlass nehmen, um über unsere Bürger-Bewegung nachzudenken. Gerade dieser Vorfall zeigt uns, warum der Bürger nicht länger abseits stehen bleiben darf. Den etablierten Parteien die politische Verantwortung für die Wohlfahrt der Bürger weiterhin unhinterfragt zu überlassen, bedeutet sich selbst und seine Zukunft aufzugeben. Die Bundestagsparteien sind nicht länger fähig, das Land allein und selbstherrlich zu regieren. Sie haben innen- und außenpolitisch Schaden angerichtet, der schwer zu reparieren sein wird. Parteien sind von Natur aus selbstsüchtig und bedürfen der starken Kontrolle vonseiten einer humanistisch gesinnten und emanzipierten Bürger-Bewegung. Wir werden diese Botschaft im Weserbergland verbreiten und sie auch nach Berlin tragen, sollten wir gewählt werden. Ich sage bewusst: Sollten WIR gewählt werden. Das bedeutet, dass ich gemeinsam mit Euch Wählerinnen und Wählern im Bundestag sitzen werde. Ihr seid die außerparlamentarische Opposition hinter meinem Rücken. Wir werden zusammen Gesetzesvorschläge ausarbeiten, so wie wir bisher unsere politischen Ziele unter uns diskutiert haben. Diese Vorschläge bringe ich stellvertretend für Euch in den Bundestag ein und wehe, die etablierten Parteien schmettern alles ab. Dann kann es für uns nur ein Ziel geben: Den Kampf für Volkssouveränität auf die Straße und das Internet zu verlagern und deutschlandweit eine mächtige außerparlamentarische Bewegung auf den Weg zu bringen. Niemand wird uns daran hindern können, es sei denn unsere eigene Trägheit und Verzagtheit. Ich möchte Euch bitten: Schließt Euch der Sommer-Wahl-Reise an. Jeder, der sich mit der Idee einer humanistisch ausgerichteten Bürger-Macht anfreunden kann, ist bei uns herzlich willkommen. Nach dieser Veranstaltung brechen wir nach Bad Münder auf. Es wird einen dreiwöchigen Marsch per Fahrrad von Norden nach Süden und wieder zurück nach Hameln geben, wie im Weserbergland-Online-Magazin angekündigt. Wir werden für unsere Wahlziele werben aber auch das schöne Weserbergland genießen und unseren gemeinsamen Spaß haben.“

                Während die Kundgebung nach Reginas unvorhergesehener Eröffnung ihren geplanten Verlauf nahm, stellte sich der Afrikaner der Gruppe um Pierre und Chris vor: „Ich heiße Christian und bin ein Flüchtling aus Nigeria. Ich bin vor den Islamisten Boko Haram im Norden des Landes geflohen und seit eineinhalb Jahren in Deutschland. Seit sechs Monaten wohne ich hier in Hess. Oldendorf in einer Wohngemeinschaft mit anderen Flüchtlingen. Ich finde Eure Wahlinitiative gut. Ist es möglich, dass ich mich Euch anschließe? Ich habe wenig Gelegenheit, mit Deutschen zusammenzukommen und die Sprache besser zu lernen. Auch finde ich Eure Wahlziele gut. Ich habe sie bereits im WOM gelesen. Alles, was ich nicht verstehe, übersetze ich im Internet ins Englische. In meinem Heimatland war ich Lehrer. Wenn bei uns wieder Frieden einkehrt, möchte ich unbedingt wieder zurück in die Heimat. Es gibt so viel zu tun. Aber in Deutschland will ich alle Möglichkeiten ausschöpfen, um so viel wie möglich zu lernen.“

                Chris und Pierre bedankten sich erst einmal für die spontane und resolute Hilfe gegen die Gruppe der Neuen Rechten. Christian, der sicher doppelt so alt war wie sie, fanden sie auf Anhieb sympathisch und freuten sich über dessen Interesse, die Sommer-Reise mitzumachen. Auch Regina war von Christian angetan und hatte nichts dagegen, dass er mitkäme.

                Die Kundgebung wurde allgemein begeistert aufgenommen. Keine andere Veranstaltung einer politischen Gruppierung hatte bisher eine vergleichbare Resonanz gefunden. Insbesondere die Wortbeiträge vieler Bürgerinnen und Bürger kamen gut an und wurden als Ergänzung zum bereits ausgearbeiteten Programm festgehalten. Abschließend lud Regina die vielen Zuhörer ein, in drei Wochen zur großen Abschlusskundgebung der Sommer-Reise nach Hameln zu kommen. Auch könnte sich Jedermann der Reise anschließen, und sei es nur für ein paar Tage. Nach offizieller Beendigung der Kundgebung, wurde die Weiterfahrt nach Bad Münder am südwestlichen Süntelhang besprochen, die über Unsen, Flegessen und Klein Süntel bis zum Jugendheim Süntelbuche in Bad Münder führen sollte. Der Abschied aus der mittelalterlichen Stadt mit seinen vielen typischen Fachwerkhäusern fiel der Reisegruppe schwer. Zehn neue Mitglieder aus Hess. Oldendorf schlossen sich der Reise an.

                Jasmin hatte unauffällig der Kundgebung beigewohnt und Fotos geschossen sowie kurze Videos aufgenommen. Ein Reporter von der WETAZET war ebenfalls anwesend. Jasmin verabschiedete sich kurz von Regina und fuhr mit ihrem Wagen nach Bad Münder zum Gasthaus und Hotel Ziegenbuche am Deisterhang. Dort hatte sie ein schönes Zimmer mit Blick auf die Stadt hinunter gebucht und konnte in aller Ruhe einen ersten Bericht über die Sommer-Reise für das WOM schreiben.  

                Die Radtour nach Bad Münder war eine erste gemeinsame Übung, in großer Gruppe zu fahren. Das wurde dann besonders schwierig, wenn es keine Radwege gab und die Radfahrer notgedrungen einer hinter dem anderen in einer langen Schlange zu fahren hatten. Dabei mussten alle lernen, sich nicht durch rücksichtslose Autofahrer aus der Ruhe bringen zu lassen. Regina hatte bei der Polizei angefragt, ob es auf den Landstraßen ohne Radweg eine Eskorte der Polizei geben könnte. Die hatte aber abgewunken und meinte, bei korrektem Verhalten der Radfahrer sei kein Risiko vorhanden. Eine besondere Verantwortung kam auf die letzten Radfahrer in der Gruppe zu, die den von hinten kommenden Autoverkehr einschätzen und ein Signal zum Langsamfahren geben sollte. Es ist schade, dass das Fahren in großer Gruppe auf radweglosen Straßen die Möglichkeiten, die Landschaft ausgiebig zu genießen, erschwert. Der Weg um den südlichen Rand des Süntels herum von Unsen über Flegessen und Klein Süntel bis nach Bad Münder an diesem wolkenlosen Sommer-Samstag-Nachmittag war etwas ganz Besonderes. Das war denn auch der Grund, weswegen die Gruppe in Klein Süntel einen Halt einlegte. Hier ergab sich ein weiter Blick nach Bad Münder hinunter und wieder hoch zum Deister und auch in Richtung Osterwald und Coppenbrügge, der dort von einer Kette von Windmühlen jäh gebremst wurde. Das ganze Drama der Landwirtschaft im Deister-Sünteltal mit Massentierhaltung, Monokulturen Mais und Raps und entsprechendem Chemie- und Gülle-Einsatz, Biogas-Anlagen und Windräder en masse wurde auf einen Blick sichtbar. Diese Problematik der Weserbergland-Landwirtschaft sollte in den kommenden Wochen der Sommer-Reise ein heißes Thema auf den öffentlichen Versammlungen werden. Die Grünen, frohgemut vor 35 Jahren aufgebrochen zu ihrem Kampf für eine nachhaltige Landwirtschafts- und Energiepolitik, hatten sich offensichtlich komplett vertan. War daran das Atomkraftwerk Grohnde an der Weser schuld, dass Alternativen zur Atomkraft herausgefordert hatte und letztendlich in erneuerbaren Energien mit gleichzeitiger Zerstörung einer nachhaltigen Landwirtschaft endete?  

                Regina war froh, als die lang auseinandergezogene Gruppe von 60 Fahrerinnen und Fahrern schließlich wohlbehalten am frühen Abend in Bad Münder eintraf. Sie war sich bewusst, was bei einem Unfall passieren könnte. Wohl würden sich viele lokale Größen im Weserbergland klammheimlich freuen, wenn der angekündigte Marsch der Bürger-Bewegung durch den Wahlkreis in einem Desaster enden würde. Das hätte verheerende Folgen für die Kandidatur von Regina, die sicher als unverantwortliche Kandidatin gebrandmarkt würde.   

                Wie in Hess. Oldendorf auch hatten Mitglieder des Bürger-Komitees in Bad Münder schon zwei Tage lang Flyer über Reginas Kandidatur an alle Haushalte verteilt. Morgen am Sonntag sollte die Wahlkundgebung um 11 Uhr im Kurpark vor der Musikmuschel  stattfinden. Wie nicht anders zu erwarten, machte Stadtverwaltung und Stadtrat ein Riesen-Gezeter um die Veranstaltung. Nicht nur war der Sketch über die ‚Schildbürger von Bad Münder‘ den vielen lokalen Möchtegern-Häuptlingen sauer aufgestoßen. Jetzt wollten die Jugendlichen auch noch aus der Wahl-Kundgebung für Regina ein Fest im Kurpark machen. Eine Gruppe von Jung-Sozis und jungen Konservativen unterstützten Reginas Kundgebung vehement und hatten ihren Parteien den Rücken gekehrt. Zum ersten Mal seit langer Zeit legten die Rathaus-Parteien und die Verwaltung ihre traditionellen Querelen bei und beschlossen, Gründe für eine Ablehnung der Veranstaltung zu finden. Es könnte zu gewaltmäßigen Auseinandersetzungen mit herbeigeholten Neonazis aus Bad Nenndorf geben, obwohl diese schon seit 2016 ihre sogenannten Trauermärsche eingestellt hatten. Eine andere Begründung war, dass die Feuerwehrkapelle, die am Nachmittag in der Musikmuschel zur Belustigung der Kurgäste aufspielen wollte, nicht genug Vorbereitungszeit hätte. Auch könnten sich die Kurgäste durch eine politische Veranstaltung genötigt sehen, sich Wahlkampfthemen anzuhören. Das sei ihrem erholsamen Spaziergang und dem Einnehmen von Heilquellen-Wässerchen sicherlich abträglich. Im WOM hagelte es Proteste noch und noch über das beabsichtigte Unterbinden der Kundgebung. Viele Jugendliche Nutzer drohten für diesen Fall offenen Zoff an: Wenn das offizielle Bad Münder Angst vor Ausübung der Demokratie hätte, dann müsse diese eben auf der Straße erkämpft werden. Was dann letztendlich das Einsehen der Verwaltung bewirkte, die Veranstaltung zuzulassen, waren wohl hauptsächlich die Jugendlichen der Honoratioren-Familien, die ihren Eltern gehörig einheizten. Auch bekamen die beiden Parteien der Sozis und Konservativen weiche Knie, weil sie einen kompletten Einbruch bei der Wahl befürchten mussten.

                Nachdem sich ein Teil der Reise-Gruppe im Jugendheim Süntelbuche eingerichtet und ein anderer die Zelte aufgeschlagen hatte, wurde ein Lagerfeuer angezündet und ein betagter Münderaner aus dem nahegelegenen Reitverein erzählte Geschichten und Sagen aus dem Deister-Sünteltal. Das war die rechte Einstimmung der Reise-Gruppe auf die morgige Veranstaltung. Die anschaulichen Erzählungen ließen das Wesen der Menschen in diesem lieblichen Tal erahnen.

                Der Erzähler begann mit Geschichten aus vorchristlicher Zeit, als die Sachsen im Süntel am Hohenstein ihre Thingstätte hatten, auf der ihren Gottheiten geopfert und Recht gesprochen wurde. In diese Zeit fiel auch das Erscheinen der beiden Riesen Esegir und Haniel im Deister-Sünteltal, die einen unerbittlichen Kampf gegeneinander austrugen. Sie buhlten um ein schönes Hirtenmädchen und bewarfen sich mit riesigen Felsbrocken. Dabei wurde Haniel von einem mächtigen Sandsteinblock in den Rücken getroffen und verstarb kurz darauf. Dieser riesige Sandsteinblock ist als Teufelskanzel bekannt und unterhalb des Nordmannsturms im Ortsteil Nienstedt von Bad Münder zu bestaunen. Vom dortigen Deisterrand geht der Blick durch das Tal zum Süntel hinüber, wo der Riese Esegir bis heute sein Unwesen treiben soll. Das schöne Hirtenmädchen wurde von keinem der beiden Riesen erobert. Diese Geschichte steht bis heute stellvertretend für den ewigen Streit der Menschen im Tal. In der Nazi-Zeit bekämpften die selbsternannten guten Germanen die schlechten Juden, und die münderschen Bürgerinnen und Bürger sahen teils mit Genugtuung zu, wie die Juden vom Feuerteich der Stadt zu Beginn der 40er Jahre in die Konzentrationslager abtransportiert wurden. Noch in den Monaten vor der Kapitulation wurden haufenweise junge Männer im Volkssturm verheizt, wovon die Gräber auf dem Friedhof Zeugnis ablegen. Und unmittelbar nach Ende des Krieges wurden im Deisterhort, der als Tbc-Krankenhaus diente, Zwangsarbeiter vor allem aus osteuropäischen Ländern bis zu ihrem Tode gepflegt. Auch darüber erzählt der Friedhof traurige Geschichten. Nach dem Krieg ging der Kampf von Esegir und Haniel weiter. Die Konservativen und Sozis bekämpften sich ohne Ende, so dass das schöne Hirtenmädchen in Gestalt einer guten Entwicklung der Stadt und des Umlandes ihre Bestimmung nicht finden konnte. Das ist heute an verkommenden Fachwerkbauten in der Altstadt abzulesen, an maroden Gebäuden wie dem Kurhaus, dem Hallenbad, den Straßen, die teilweise verkommen, an Geschäften im Zentrum, die dem Reibach der Lebensmittelkonzerne geopfert werden, aber auch vor allem an der auswandernden Jugend, die in der Stadt keine Zukunft mehr sieht. Esegir und Haniel werfen weiterhin Steinbrocken gegeneinander, ohne Frieden zu schließen und ohne sich um das Wohlergehen des schönen Hirtenmädchens zu kümmern. Die trotzige Antwort der selbstgefälligen Bürgerinnen und Bürger am Markttag, wenn es darum geht, die Sorge um die schöne Heimat ins Bewusstsein zu bringen, lautet deshalb: „Lasst mich in Ruhe. Ich will meinen Cappuccino beim Italiener oder vor dem Kornhus trinken. Für diejenigen, die im Schatten Bad Münders leben, gibt es die Tafel und den Umsonstladen.“ 

                Als der Erzähler seine Geschichten beendete, hatte die Nacht ihren schwarzen Mantel über die Reise-Gruppe ausgebreitet. Beim Verglühen des Lagerfeuers nahmen sich die zumeist jungen Leute vor, die ewige Indifferenz und Bequemlichkeit des Bürgers zu überwinden und die Riesen Esegir und Haniel in Gestalt von Politik und Wirtschaft von ihrem Piedestal herunter zu zerren und auf eine Ebene mit dem Bürger zu bugsieren. Alle hofften außerdem darauf, dass am morgigen Sonntag nicht wieder die Neue Rechte aus ihren Löchern gekrochen käme. Aber darauf wären sie jetzt besser vorbereitet. Ein Gruppe um Christian und andere kräftige junge Männer würden den Fremdenfeinden einen raschen Garaus bereiten.            

                Wie in Hess. Oldendorf wurde die Kundgebung im Kurpark von Bad Münder zu einem vollen Erfolg für Regina und die Bürger-Bewegung. Mehr als 600 Teilnehmer waren gekommen. Die lokalen Granden ließen sich allerdings nicht blicken. Im Verein mit ihnen blockierte auch der Chefredakteur der Süntel-Deister-Zeitung jedwede Berichterstattung über Reginas Wahlkampf. Nach den einleitenden Worten über die bisher formulierten Wahlziele begann eine rege Diskussion über die Armuts- und Flüchtlingssituation sowie die Umwandlung der bisherigen Ohnmacht des Bürgers in eine souveräne Macht. Dann aber war die lokale Politik das Thema, was den meisten Anwesenden auf der Seele lag. Es müsse sich grundlegend in der Heimat etwas ändern. Der bisherige Schlendrian könne nicht so weitergehen. Statt Schildbürger sei jetzt der ‚Mündige Bürger’ gefragt. Die Beiträge der Zuhörer gingen immer wieder um Fragen, wie mehr Arbeitsplätze in Stadt und Region geschaffen werden könnten. Vor allem für junge Leute braucht es Ausbildung in Hameln und in Bad Münder. Das ginge nur über öffentliche Investitionen. Das Warten auf den großen Kapitalisten dauerte schon seit Jahrzehnten an, in denen Arbeitsplätze in der Industrie wegrationalisiert wurden. Doch jedermann wüsste auch, dass das Kapital nur dann kommt, wenn öffentliche Bildungs- und Forschungseinrichtungen vorhanden seien. Auch die Integration der vielen neuen Flüchtlinge bereitete Kopfzerbrechen. Einzig der Gesundheitsbereich floriert relativ gut, aber auch da könnte viel mehr an Ausbildung gearbeitet werde.

                Kurz vor Ende der Kundgebung tauchte dann doch noch von der Mini-Golf-Anlage herkommend ein notorischer Reichsbürger mit einem Transparent auf: „Deutschland ist kein rechtmäßiger Staat!“ Dann schrie er sich die Lunge aus dem Hals: „Alle Bundestags-Kandidaten sind Polit-Kriminelle! Die Wahl hat keine Rechtsgültigkeit.“  Eine kleine Gruppe drängte den Störenfried in Richtung Friedrich-Ebert-Allee ab, bevor die Veranstaltung wie geplant friedlich zu Ende ging.

                Jasmin war von ihrer Unterkunft im Gasthaus Ziegenbuche zu Fuß hinunter in den Kurpark gelaufen. Sie freute sich über den Sommertag und die fröhliche und rege Kundgebung, von der sie viele Eindrücke dokumentierte, die sie dann später im WOM zu veröffentlichen gedachte. Zur Veranstaltung waren auch Familien mit Kindern erschienen. Für diese wurden in angrenzenden Bereichen des Kurparks Spiele durchgeführt, so dass die Erwachsenen vor der Musikmuschel ungestört an der Diskussion teilnehmen konnten.

                Bevor Jasmin wieder zur Ziegenbuche zurückging, teilte sie Regina mit, sie hätte von Jäger eine Einladung zur Parteiveranstaltung der Konservativen in Berlin bekommen, auf der Kanzlerin Merkel und der CSU-Chef Seehofer das Wahl-Programm vorstellen würden. Jäger wäre froh, sie könnte nach Berlin kommen, um darüber ausführlich im WOM zu berichten. Er würde ihr einen Presse-Ausweis für die vorgesehene Pressekonferenz besorgen. Jasmin sagte zu, auch auf den Rat von Ralf hin, der meinte, sie müsse unbedingt etwas für die Ausgewogenheit des WOM tun. Wahrscheinlich würde sie später ebenfalls eine Einladung von den Sozis erhalten, deren Programm-Propagierung im Wahlkreis zu kommentieren.

 

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