3 Nov 2018

Die kranke deutsche Demokratie

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie - 18. Folge

Politischer Mord im Weserbergland

 

Fiktion: Jasmin im Zentrum der Berliner Macht

 

Foto: Wikimedia Commons, Konrad Adenauer Haus in Berlin (CDU-Zentrale), Autor: Ansgar Koreng

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Jasmin nutzte die Reise im IC von Hannover nach Berlin, um mit Bürger-Journalisten des WOM zu kommunizieren. Sie saß in einem der wenigen geschlossenen Abteile in der zweiten Klasse und hatte Glück, dort einziger Fahrgast zu sein und in Ruhe arbeiten zu können. Die meisten Fahrgäste zogen die Großraumwagen vor. Jasmin hatte sich vom Getränke-Service einen Kaffee geben lassen. Sie freute sich schon auf ihre Eltern, bei denen sie übernachten würde. Der morgige Tag war für die Vorstellung des Wahlprogramms der Konservativen vorgesehen. Vielleicht würde sie auch am Vormittag Zeit finden, die beiden parteinahen Stiftungen der großen Parteien, die Konrad-Adenauer- und die Friedrich-Ebert-Stiftung, zu besuchen. Nach einer weiteren Übernachtung bei den Eltern hatte sie die Rückfahrt ins Weserbergland vorgesehen.

                Die Entwicklung des WOM seit Februar des Jahres verlief spektakulär. Bis zu den Sommer-Ferien hatten nahezu alle großen und kleinen Gemeinden des Weserberglandes ihre eigenen Seiten im WOM aufgemacht, die von vielen ehrenamtlichen Bürger-Journalisten täglich mit Nachrichten gefüttert wurden. Jasmin hatte diesen Journalisten Tipps gegeben, wie sie ihre Seiten für die Leser attraktiv gestalten und diese auch zum Schreiben animieren könnten. In allen zentralen Orten des Weserberglandes hatte sie dazu Fortbildungs-Veranstaltungen durchgeführt mit dem Ergebnis, dass jetzt mehr als die Hälfte aller Haushalte der Region jeden Morgen Nachrichten aus der Gemeinde, der Region, dem Bund und der ganzen Welt abrufen konnte. Die Nachrichten aus dem Bund und der Welt kamen frisch vom RND auf den Tisch, die Nachrichten aus der Gemeinde, dem Kreis und der Region wurden von den Bürger-Journalisten erstellt. Das WOM war deutschlandweit zum Muster-Magazin für politische Willensbildung und Demokratie-Ausübung gereift. Der Bürger hatte das Sagen im Gegensatz zu den etablierten Medien, bei denen Kapital- und Parteiinteressen auf den passiven Bürger herabrieselten. Das war der Stachel im Fleisch des Herrn Jäger, der ihn seit Erscheinen des WOM und Jasmins im Weserbergland nicht schlafen ließ. Die Einladung an Jasmin nach Berlin sollte ihm weiteren Aufschluss verschaffen, wie dem WOM und seiner Redakteurin das Handwerk gelegt werden könnte. Jasmin ihrerseits war sich bewusst, dass Jäger der Hauptwidersacher einer Bürger-Emanzipationsbewegung war. Das hatte sie aus all den Diskussionen und vor allem auch den Kommentaren im WOM herausgelesen. Auch wenn Jäger nicht direkt dabei auftrat, so war doch sein Wirken als wichtigster Politiker der Konservativen im Wahlkreis unübersehbar. Ob er allerdings auch sie direkt über Mittelsmänner angriff, das vermochte sie nicht zu sagen. Die Einladung nach Berlin war sicher so etwas wie ein Köder, den Jäger für Jasmin ausgelegt hatte. Aber sie musste diesen Köder notgedrungen schlucken. Vielleicht gewönne sie dadurch Erkenntnisse, wie sie sich in ihrer Situation einer offenen Streiterin für die Emanzipation des Bürgers und für direkte Demokratie gegen wirtschaftliche und politische Macht-Seilschaften am besten zu verhalten hätte.

                Der Intercity hatte Hannover vor etwa einer halben Stunde verlassen, als die Tür zum Abteil energisch aufgestoßen wurde. Es war Jäger, der aus der ersten Klasse auf der Suche nach dem Bordrestaurant sie unabsichtlich im Abteil erblickt hatte. Welch‘ absonderlicher Zufall! Jäger fragte höflich, ob er sich einen Augenblick zu ihr setzen dürfe. Er hätte ihr sowieso einige Informationen für den morgigen Tag zu geben. Das hatten beide zwar für Morgen im Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Zentrale, ausgemacht, aber nichts sprach gegen Vorab-Infos. Jäger ließ sich ebenfalls einen Kaffee geben und stellte ihn auf dem Fenstertisch ab. Er setzte sich ihr gegenüber ans Fenster. Beide sahen sich einen Augenblick schweigend und gegenseitig abschätzend an. Es war ein unausgesprochenes Duell zwischen Löwe und Tigerin. Oder besser ins Mittelalter versetzt zwischen Groß-Inquisitor und Hexe, die die traditionale Ordnung zersetzt. So nahe war Jäger seiner Rivalin, wie er sie insgeheim bezeichnete, bisher nicht gekommen. In dem sich entspinnenden Gespräch fühlte sich Jäger bald selbst gefangen. Nur wenige Menschen konnten Jasmins Charme und scharfem Geist widerstehen. Vor allem wenn sie Machos mit ausgesprochenem Faible für schöne Frauen waren. Er ahnte, dass seine einzige Chance gegen sie darin bestünde, sie wie ehemals im Mittelalter als vom Teufel geschickte Hexe oder mit anderen Worten als unermüdliche und erfolgreiche Kämpferin gegen die herrschende parlamentarische Demokratie anzusehen. Er könnte sich Hals über Kopf  in diese Frau verlieben, um von ihr ‚gefressen‘ zu werden, oder seiner Lust nachgeben, sie mit Gewalt begehren zu wollen. Aber als treuer Vasall der Kanzlerin und der gesellschaftlichen Machtverhältnisse hätte er seine Lust und seinen Verstand im Zaum zu halten, und sie als ‚Teufelsweib‘ zu behandeln, der sich seine Partei und das herrschende System zu entledigen hätte. Jasmin ihrerseits fühlte sich seit ihrem Autounfall auf dünnem Eis. Was nützte ihr persönlich die Wertschätzung so vieler Menschen, die sich auf den Weg zu Freiheit und Demokratie aufgemacht hatten, wenn rings um sie herum die Statthalter der Macht und die Rassisten und Fremdenfeinde nur danach lechzten, sie würde lieber heute als morgen das WOM-Projekt hinschmeißen. Doch sie hatte sich ein für alle Mal dem Kampf für Bürger-Emanzipation, für Freiheit im Geist und Liebe zu den Menschen verschrieben. Ihre engen Freunde und vor allem die Liebe zu ihrer neuen Familie, zu Regina und Chris, gaben ihr den nötigen Mut, in ihrem Kampf nicht aufzugeben.              

                Im Laufe ihrer Unterhaltung beglückwünschte Jäger scheinheilig Jasmins Anteil am Erfolg des WOM und meinte: „Was Sie da auf den Weg gebracht haben, ist wahrlich erstaunlich und trägt zur politischen Willensbildung vor allem der jungen Generation bei. Mit einem derartigen Erfolg haben sicher der RND und das IPB nicht gerechnet, als sie das Projekt in die Wege leiteten. Die junge Generation wurde als apolitisch eingeschätzt. Nun stellt sich heraus, dass sie es nicht ist, dass es nur darauf ankommt, ihr die Gelegenheit zur Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten zu verschaffen. Das versuchen die Bundestagsparteien, auch meine Partei, seit langer Zeit. Die Idee mit dem WOM war ein Volltreffer, der zum großen Teil Ihrem Engagement zu verdanken ist. Wir von den Konservativen sehen in unserem Wahlprogramm viele Verbesserungen für die Jugendlichen vor, ganz nach dem Motto: ‚Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.‘ Aber auch Familien und Prekär-Beschäftigte werden von Frau Merkels kommender Regierung, und da zweifelt wohl niemand daran, profitieren. Es wäre schön, wenn Sie unser hervorragendes Programm, an dem ich auch stellenweise mitgewirkt habe, den jungen Menschen im Weserbergland nahe bringen würden. Jedermann in der Region weiß, welchen Einfluss sie auf die Leser des WOM haben. Was unsere Kanzlerin betrifft, so ist sie der beste Garant dafür, dass auch in Zukunft das Land in sicherem Fahrwasser bleibt.“

                Jasmin versprach, ihr Bestes zu tun. Sie fragte Jäger, ob sie die Gelegenheit nutzen könnte, um auch die Konrad-Adenauer-Stiftung kennenzulernen. Jäger meinte, selbstverständlich könnte sie das. „Ich kann sie persönlich mit den Verantwortlichen der Stiftung bekannt machen. Ein Bericht über die Stiftung wäre auch interessant für die jugendlichen Leser des WOM. Viele haben jetzt ihr Abitur gemacht und die Stiftung bietet Stipendien für willige junge Menschen an, die sich mit unserer Parteiphilosophie identifizieren können. Ich war als Student auch Stipendiat der Stiftung. An mir können Sie ersehen, wie meine Partei zeitlebens Menschen fördert, die ihr wohl gesonnen sind. Wir können uns Morgen gegen 9 Uhr vor dem Eingang der Stiftung treffen. Wenn Sie heute Abend und morgen Abend noch nichts vorhaben, kann ich Sie mit einflussreichen Mitgliedern unserer Partei bekannt machen.“  Da sagte Jasmin jedoch mit Bedauern ab. Sie nähme die Gelegenheit wahr, ihre Eltern, die sie selten sähe, zu besuchen. 

                Jäger ahnte nichts von Jasmins persönlicher Agenda. Was sie brennend interessierte, war das Kennenlernen des politischen Machtapparates der Kanzlerin. Da spielte das Konrad-Adenauer-Haus sowie auch die Konrad-Adenauer-Stiftung eine herausragende Rolle. Die anderen Bundestagsparteien sind mit ihren Parteizentralen und ihren parteinahen Stiftungen ähnlich organisiert. Sie haben in ihrer Gesamtheit den Parteienstaat in festem Griff. Würde Regina das Direktmandat im Weserbergland gewinnen, wäre das erstmalig in der Geschichte der Republik nach 1949 der Eintritt eines parteilosen Bürgers ins politische Machtzentrum des Staates. Das könnte gleichzeitig der Ausgangspunkt für eine Bürger-Emanzipations-Bewegung sein. 

                Jasmin verlebte einen entspannten Abend mit ihren Eltern. Ihre Mutter hatte ihr eine leichte Kartoffelsuppe, mit Butter und Petersilie gewürzt, zubereitet, so wie Jasmin das seit Kindertagen liebte. Bei einem leichten Chardonnay ließen die Drei den Abend ausklingen. Jasmin erwähnte nichts von ‚ihrer Familie‘ und auch den fürchterlichen Hasskanonaden gegen sie, die ihre deutsche Identität infrage zu stellen versuchten. Sie wollte ihre Eltern, die in Jahrzehnten in Deutschland eine neue Heimat gefunden hatten, nicht verunsichern. In ihrer Gemeinschaftspraxis, wo sie als Arztehepaar sehr geschätzt wurden, waren sie selbst keinen persönlichen Anfeindungen ausgesetzt. Das geänderte feindliche Klima gegen Muslime und Ausländer allgemein war ihnen zwar nicht entgangen, aber die Eltern versuchten das auszublenden. So umschifften Eltern und Tochter das Thema Fremdenfeindlichkeit und Migranten-Identität und waren einfach froh, wieder einmal beisammen zu sein. 

                Der morgige Tag begann wie verabredet im Gebäude der Konrad-Adenauer-Stiftung. Jasmin hatte bereits während ihrer Arbeit als Journalistin zur Zeit des ‚arabischen Frühlings‘ konkrete Bekanntschaft mit den Büros der parteinahen Stiftungen im Ausland gemacht. Mehr als 300 Auslandsbüros dieser Stiftungen rings um den Globus wetteiferten mit US-Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen, um durch Anwerben von nationalen Mitarbeitern und Experten in den verschiedenen Ländern an Insider-Informationen zu kommen und um ihre jeweiligen Ideologien zu verbreiten. Das muss man sich einmal praktisch vorstellen, dass bspw. die Rosa-Luxemburg-Stiftung der Linken sozialistische Bewegungen unterstützt, während parallel dazu die Konrad-Adenauer-Stiftung das nationale Kapital zu fördern versucht. Der politische Auslandstourismus der anderen parteinahen Stiftungen geht in die gleiche Richtung. Sie arbeiten alle auch den jeweiligen deutschen Botschaften zu, die sich hauptsächlich der Förderung des deutschen Kapitals im Ausland widmen. So kommt es zu einer absurden Wühlarbeit von deutschen Bundestagsparteien in der Welt, und das seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts. Das lässt sich die Bundesregierung jährlich etwa 500 Mio. Euro kosten, wobei die Konrad-Adenauer- und die Friedrich-Ebert-Stiftung jeweils 150 Mio. Euro absahnen. Zusammen mit ihren Stipendien-Programmen zur Förderung ihres eigenen Nachwuchses  und den öffentlichen Veranstaltungen in Deutschland rechtfertigen so die Bundestagsparteien ihren sogenannten Auftrag zur politischen Bildung. Dass sich die deutsche Öffentlichkeit eine derartige Förderung der Bundestagsparteien-Stiftungen neben der jährlichen Parteienförderung von insgesamt 150 Mio. Euro gefallen lässt, war für Jasmin ein Unding. Längst hätte vor dem Bundesverfassungsgericht ein Prozess des Verbots von staatlicher Förderung der Parteistiftungen geführt werden müssen. Es gibt etliche zivilgesellschaftliche Initiativen in Deutschland, die weit mehr zu politischer Bildung beitragen als ausgerechnet die Parteistiftungen, die aber keine steuerfinanzierte Förderung erhalten. Tausende von Parteisoldaten profitieren von diesem deutschen Selbstbedienungs-Modell aus öffentlichen Kassen, was gekrönt wird durch die Besetzung aller Spitzenpositionen der drei Gewalten im Staate, der Judikative, der Legislative und der Exekutive, durch verdiente Parteisoldaten. 

                Jasmin hatte sich schon immer gewünscht, diesen alles verschlingenden Moloch in Gestalt der Parteienapparate, die von Berlin aus über die Länder bis in die Kreise und Gemeinden den gemeinen Bürger im krakenhaften Griff haben, kennenzulernen. Die vernichtende Gewalt dieses Molochs manifestiert sich psychologisch im sprichwörtlichen Ohnmachtsgefühl des Bürgers gegenüber dem Staat: „Gegen die da oben können wir eh nichts machen.“ Die Neue Rechte hatte sich aufgemacht, den Moloch Parteienstaat anzugreifen mit dem Ziel, selbst schrecklicher Teil des Molochs zu werden. Das Schizophrene dieser Konstellation ‚Moloch Parteienstaat‘ versus ‚Ohnmächtiger Bürger‘, ist, dass dieses Gewaltverhältnis in den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger als naturwüchsig angesehen wird, das historisch immer existierte und eben zum Wesen des Menschseins dazugehört. Die Parteien nennen das Verhältnis Parteienstaat zu Bürger mit vierjährigem Absegnen des Parteienstaates durch den Bürger Parlamentarische Demokratie, die sich in der Nachkriegszeit bestens bewährt und dadurch legitimiert hätte, wie auch Jäger und der Direktkandidat der Konservativen im Wahlkreis nicht müde wurden zu betonten. Für Jasmin ist Berlin bester Anschauungsort der kranken deutschen Demokratie oder besser gesagt der sanften Diktatur des Parteienstaates, in der der unbedarfte Bürger bzw. Untertan, fröhlich dem Moloch Parteienstaat huldigt, als sei das die natürlichste Sache der Welt. Doch sagte nicht Einstein, dass man nie aufhören solle zu fragen? Jasmin wünschte sich all die jungen Leute herbei, die durch das WOM ermuntert begannen, Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen. Sollte nicht wahre Demokratie von den Menschen in der kleinsten Gemeinde ausgehen und getragen werden bis nach Berlin? Aber nicht durch Parteisoldaten und Parteifunktionäre sondern durch die Bürgerinnen und Bürger selbst. Wer hatte die Angestellten der Konrad-Adenauer-Stiftung beauftragt, in alle Welt zu gehen und dort Oppositionsgruppen gegen lokale Regierungen zu unterstützen, Stipendien zu vergeben und Propaganda über die eigene Parteiideologie zu verbreiten? Waren es die Menschen ‚draußen im Land‘, wie Partei-Obere gern zu sagen pflegen, oder waren es die Partei-Bonzen, die den Moloch Parteienstaat dirigierten und mit ihren steuerfinanzierten Stiftungen ein überaus effektives Machtinstrument in der Hand hielten?

                Jasmin hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, keine kritischen sondern auf freundliche Weise unverfängliche Fragen zu stellen. Sie wollte nicht als Gegnerin des herrschenden Systems erkannt werden. Dadurch würden ihr Informationen vorenthalten. Sie konzentrierte sich hauptsächlich auf Beobachtungen über Gebäude, Parteifunktionäre, ihr Gehabe, die PR-Arbeit und die Stimmung und das Selbstverständnis insgesamt unter den Angehörigen des Parteiapparates. Es kam ihr darauf an, das Wesen des Molochs Parteienstaat zu erspüren, und dazu hatte sie eine äußerst sensible Nase. Wenn der Bürger überhaupt eine Chance zur Emanzipation haben wollte, müsste er notgedrungen das Wesen des Parteienstaates in all seinen Facetten erkennen, vom Berliner Kopf hinunter bis zu seinen Füßen in den Gemeinden des Weserberglandes und wieder hinauf zum Berliner Elfenbeinturm bzw. gläsernen Parteipalast Konrad-Adenauer. So schön glas-durchsichtig dieser Palast von außen ist, so undurchdringlich ist das erbarmungslose Spiel um Macht und Einfluss in seinem Innern. Immerhin geht es um nicht mehr oder weniger als am gestrafften Zügel des Kapitals das Volk bei Stange zu halten.

                Am Nachmittag hielten dann die Kanzlerin und Seehofer Hof in der Bundesgeschäftsstelle der Konservativen, im Konrad-Adenauer-Haus. Stolz machte Jäger Jasmin mit einigen Parteikollegen bekannt, bevor er sich möglichst weit nach vorn zum Machtzentrum der Partei drängelte. Jasmin schämte sich für den Pulk von Journalisten und Kameraleuten, die nichts anderes gewohnt waren, als dienstbeflissen den Posaunentönen der Konservativen Partei zu lauschen und getreue Zusammenfassungen an ihre Redaktionen zu senden. Tenor der freudigen Wahl-Botschaft der Kanzlerin bis in den letzten deutschen Winkel hinein war: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. CDU und CSU im brüderlichen Schulterschluss vereint werden auch in den kommenden vier Jahren unter bewährter Führung von Frau Dr. Merkel den Bürger glücklich machen.“ An der Erstellung des Wahlprogramms hätten neben Parteimanagern auch viele Bürgerinnen und Bürger mitgewirkt.

                Jasmin verließ nach den Reden der beiden Parteivorsitzenden den sich selbst wichtig findenden Tross um Deutschlands Führungsgestalten und eilte schleunigst zu ihren Eltern. Sie hielt es nicht länger aus im Rudel der eifrigen Journalisten und Kameraleute, die jeden Gesichtsausdruck und jede Händehaltung, inklusive Raute der Kanzlerin, zu deuten versuchten. Das Zentrum des deutschen Parteienstaates mit all seinen mächtigen und weniger mächtigen Persönlichkeiten widerte sie einigermaßen an. Sie brauchte normale Menschen um sich und stellte sich vor, wie Regina, falls sie denn gewählt würde, das Leben in Berlin aushielte. Aber gerade das war der springende Punkt: Berlin müsste vom ‚mündigen Bürger‘ besetzt werden, um in die Regierungsgeschäfte Bürger-Sinn und Bürger-Macht einziehen zu lassen.

                Bei ihren Eltern angekommen überlegte Jasmin einen Augenblick, wie sie jetzt im WOM ihren Bericht über die Berliner Veranstaltung abfassen sollte. Nicht nur Jäger, auch die Verantwortlichen der übrigen Parteien im Weserbergland würden genau hinsehen, was sie schreiben würde. Jäger erhoffte sich eine positive Berichterstattung. Merkel würde mit Sicherheit wieder neue Kanzlerin werden. Und das Wahlprogramm entspräche bereits in Grundzügen dem neuen Regierungsprogramm. Darauf sollte der Wähler im Weserbergland, vor allem auch der junge, schon einmal eingestimmt werden.         

                Jasmin war Meisterin in diplomatischer und eleganter Ausdrucksweise. Sie berichtete neutral, um niemandem auf den Schlips zu treten. Dabei hob sie die wichtigsten Programmpunkte der Konservativen hervor, die nach Aussagen der Partei auch von Bürgerinnen und Bürgern aus dem ganzen Land mit ausgearbeitet worden seien. Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung, deren vornehmste Aufgabe die politische Bildung des Volkes sei, hätte neben vielen Parteifunktionären und Experten am Programm mitgearbeitet. Bei aller Diplomatie konnte sich Jasmin am Ende ihres Berichtes drei Fragen nicht verkneifen: Erste Frage: Gibt es Personen aus dem Weserbergland, die an der Programm-Erstellung mitgewirkt haben, und welches sind deren Vorschläge? Zweite Frage: Gibt es Personen im Weserbergland, die schon einmal von der politischen Bildungsarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung profitiert haben? Dritte Frage: Wie werden die wichtigsten Programmpunkte der Konservativen von den Menschen im Weserbergland bewertet?   

                Als Jäger am Morgen nach der Programmvorstellung im WOM surfte, um Jasmins Artikel und die Resonanz darauf zu lesen, wusste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Am Artikel war nichts auszusetzen. Auch die Fragen konnten grundsätzlich nicht kritisiert werden. Sie könnten durchaus positiv gemeint sein. Aber die Masse der jungen Leser wusste, worauf die Fragen hinzielten. Aus dem Weserbergland hätten höchstens ein oder zwei Parteifunktionäre an diesem oder jenem Satz herumgewerkelt. Die Konrad-Adenauer-Stiftung, die wie andere Parteistiftungen Millionen einsackt, hätte politische Bildungsarbeit bzw. Parteipropaganda lediglich eigenen Funktionären zukommen lassen. Und die Programmpunkte der Partei, die auf das Wahlvolk wie ein warmer Regen herab sprühten, seien eine Fortsetzung der Weiterso-Politik der Kanzlerin mit der Folge der Verbreiterung der Schere zwischen Arm und Reich.

                Am Ende der Lektüre aller Kommentare, einschließlich wohlwollender Kommentare von Parteimitgliedern der Konservativen, konnte Jäger nicht anders als weinen. Die Masse der Leser des WOM verweigerte offensichtlich der konservativen Partei die Treue. Wenn jetzt nicht im letzten Moment der ‚schweigende Bürger‘ aus seinem Loch dem konservativen Kandidaten an der Wahlurne zu Hilfe kommen würde, dann sähe es für ihn und auch die Partei im Wahlkreis zappenduster aus. Das Experiment mit Jasmin sei ein Rohrkrepierer geworden. Der Artikel hatte erst recht die Seele der jungen Wählerinnen und Wähler, aber auch der Angehörigen des Niedriglohnsektors, zum Kochen gebracht.

 

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