5 Nov 2018

Die kranke deutsche Demokratie

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie - 19. Folge

Politischer Mord im Weserbergland

 

Fiktion: Die Sommerreise geht weiter von Bad Münder bis Bodenweder, Sozi-Wahlveranstaltung in Eschershausen, die Schlinge um Jasmins Hals zieht sich gefährlich zu

 

Foto: Wikimedia Commons, Muenchhausen Brunnen in Bodenwerder, Autor: Franzfoto

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Die Sommer-Reise-Gruppe der Bürger-Bewegung blieb noch zwei Tage im schönen Deister-Sünteltal. Der Montag wurde für eine Wanderung im Süntel und der Dienstag für eine Wanderung im Deister genutzt. Die Süntelwanderung führte zu Beginn zum Berggasthaus Bergschmiede. Von da aus ging es im Buchenwald steil bergan zum ehemaligen Gasthaus Eulenflucht, das noch Jahrzehnte nach dem Krieg beliebter Ausflugsort für die Menschen in der Umgebung war. Dort fanden Waldgottesdienste für Groß und Klein im ergrünenden Maien-Wald statt und in der Umgebung in Richtung Hamelspringe wurden unter den großen Fichten Zeltlager der Pfadfinder abgehalten. Niemand konnte eigentlich verstehen, dass dieses reizvolle Gasthaus an Privat-Menschen verscherbelt wurde, die keinen öffentlichen Zugang mehr dulden.  Unterhalb der Eulenflucht vorbei ging der Wanderweg hinauf zum Süntelturm, der im Süden des Bergzuges zusammen mit dem nördlichen Hohenstein zu den markantesten Anlaufpunkten für Wanderer zählt. Gottseidank ist der Süntelturm mit seiner Waldgaststätte auch heute noch für Ausflügler ganzjährig geöffnet. Von dort hat man wohl den besten Blick über das gesamte nördliche Weserbergland. Wenn Menschen, die in dieser Gegend geboren sind, über Heimat fachsimpeln, dann dürfen der Hohenstein und der Süntelturm nicht fehlen. Nach einer leckeren Gemüsesuppe unter den riesigen Bäumen im Umkreis des Turmes führte der Rückmarsch am ehemaligen von der NATO und den US-Amerikanern genutzten Gelände vorbei, wo während des Kalten Krieges nach dem NATO-Doppelbeschluss unterirdisch Raketen stationiert wurden, um einem vermeintlichen Panzervorstoß der Truppen des Warschauer Paktes Einhalt zu gebieten. Die Alt-Kanzler Schmidt und Kohl nahmen im Gegensatz zu weiten Teilen der deutschen Bevölkerung selbstverständlich verbrannte deutsche Erde und Menschen in Kauf. Das nannte sich dann Nibelungentreue gegenüber ehemaligen westlichen Siegermächten.  

                Der Dienstag war neben einer Besichtigung der malerischen aber langsam herunterkommenden historischen Altstadt von Bad Münder für eine Wanderung im Deister vorgesehen. Schon zur Süntelwanderung hatten sich zusätzlich zahlreiche mündersche Wanderer angeschlossen, hauptsächlich Rentner und Rentnerinnen. Die Wanderung im Deister wurde dann aber regelrecht zu einem Volksmarsch. Etwa 200 Ausflügler machten sich in kleinen Gruppen bei bestem Wetter auf den Weg. Zuerst ging es über das Berggasthaus Ziegenbuche in den Langen Grund. An seinem Ende angelangt führte die Wanderung weiter nach Kölnisch Feld, ebenfalls wie Eulenflucht eine ehemalige Wald-Gaststätte mit angeschlossenem Bauernhaus und heute auch dem Wanderer verschlossen. Welch‘ schöne Nachkriegserinnerungen und Geschichten waren mit Kölnisch Feld verbunden? Immer wieder fragt sich der Naturfreund, warum an den schönsten Waldplätzen Privatkapital Vorrang vor öffentlicher Nutzung haben soll. Nach einem weiten Bogen um Kölnisch Feld herum ging die Wanderung bis zum Annaturm. Glücklicherweise bot das dortige Bergrestaurant der Reise-Gruppe eine ganze Palette von Speisen an, die nach der langen Wanderung dankbar verzehrt wurden. Vom Turm aus hat man eine ähnlich weite Sicht über das östliche Weserbergland wie vom Süntelturm.  Es gibt auch einen Weg vom münderschen Ortsteil Nienstedt herauf zum Annaturm. Einige Nienstedter Wanderer beklagten sich über die schlechte Busanbindung des Ortsteiles an die Kernstadt Bad Münder, die an Wochenenden nicht existiert, obwohl sich Nienstedt in schönster Deisterlage befindet und eine Perle für den Tourismus sein könnte. Sie meinten, sie hätten von der münderschen Stadtverwaltung die Nase voll und wünschten sich eine Eingemeindung nach Barsinghausen. Das Thema Öffentlicher Nahverkehr war von Stund an ein nicht mehr wegzudenkendes Thema auf den Kundgebungen. Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte in Deutschland der private Autoverkehr Vorrang. Straßen gibt es überall hin, aber wer kein eigenes Auto hat oder will, der guckt dumm in die Röhre. Selbst die Wochenendbusverbindung von Bad Münder nach Hameln kann man vergessen. Es scheint, dass die Menschen im Niedriglohnsektor, die sich kein eigenes Fahrzeug leisten können, an den Wochenenden im Weserbergland zu Hause bleiben müssen, wenn sie außerhalb der größeren Orte wohnen, ganz nach dem Motto: Wer arm ist hat selber Schuld.  

                Am Mittwoch ging es bei bestem Sommerwetter von Bad Münder über Hachmühlen und Coppenbrügge nach Lauenstein am Ith zur Jugenherberge ‚Naturfreundehaus‘ mit angeschlossenem Zeltplatz. Die inzwischen auf 70 Radfahrer angewachsene Reise-Gruppe durchquerte auf der Höhe des Dörfchens Bäntorf einen regelrechten Windmühlen-Wald. Lohnte sich für die Bauern die Verpachtung an kapitalstarke Windkraft-Unternehmen? Wahrscheinlich doch. In der Umgebung zwischen Hilligsfeld und Osterwald boten die nicht Windmühlen bestandenen Felder den Reisenden einen hervorragenden Anblick der Monokulturen Raps und Mais, die den Biogas-Anlagen zugefüttert werden. Kein einziges Insekt ließ sich auf den öl-glatten Blättern der Maispflanzen blicken. Die deutsche Chemie hatte ganze Arbeit geleistet. Klinisch rein, komplett desinfiziert, bravo! Auch flogen den Radfahrern keine Insekten mehr ins Gesicht, die in den Wiederaufbaujahren die Menschen noch belästigen konnten. Jetzt war brillenfreies Radfahren angesagt. Am Wegesrand erblickte Chris, wie ein einsames, flügellahmes Bienchen verzweifelt nach einem Klatschmond Ausschau hielt. Von Hilligsfeld zog ein zarter, süßlich-stinkender Gülle-Duft der Massen-Schweinehaltung über die lieblich anzuschauende Landschaft bis zum Windmühlen-Wald. „Mein Gott, was haben sich unsere Väter dabei gedacht? Ist das Fortschritt? Ist das die Antwort der Grün-Bewegten im Verein mit den Lebensmittelkonzernen auf das ‚verdammte‘ Atomkraftwerk Grohnde, dass zukünftigen Generation noch Milliarden an Steuern kosten wird und das bis in die Ewigkeit seine todbringenden Strahlen aussendet,“ fragten sich viele junge Teilnehmer. Sie wollten auf dem landschaftlich einmalig gelegenen Zeltplatz der Jugendherberge Lauenstein am Lagerfeuer über die Zukunft der heimatlichen Landschaft und seiner Menschen nachdenken. Wie sollte sie gestaltet werden? Inzwischen waren sternförmig andere Bürger-Gruppen aus Hameln, Emmerthal und Osterwald angereist, die ähnliche Landschaftseindrücke mitbrachten. Auf mehr als 100 Teilnehmer war die Bürger-Tour um Regina angeschwollen, und die Sorge um die Zukunft vereinte alle.

                Ja, wie im Weserbergland weitermachen? Wie eine nachhaltig gestaltete Zukunft für nachkommende Generationen in Gang setzen? So wie im Bund so auch in der Region konnte es nicht weiter gehen. Aber wenn das Weiterso gestoppt werden sollte, ginge das nur über das direkte Bürger-Engagement der jungen Menschen. Die Generation, die augenblicklich am Drücker war, schmorte zu sehr im eigenen Fett, aus dem herauszukrabbeln sie nicht die nötige Kraft besäße. Es kamen viele Ideen auf, was zu tun sei: Erst einmal ist eine ausreichende materielle Absicherung aller nicht arbeitenden Menschen, ob in Ausbildung, im Alter, mit schweren Behinderungen oder Krankheit über das Grundeinkommen von 1.100 Euro pro Monat sicherzustellen. Zur Finanzierung müsste eine Reichensteuer her. Dann braucht es im Weserbergland für alle jungen Menschen berufliche und universitäre Ausbildung einschließlich Forschungsmöglichkeiten. Diese sollen sich auf die nachhaltige Nutzung der natürlichen Reichtümer der Region beziehen, wie Holz, Glas, Stein, Erde, Heilquellen in Verbindung mit medizinischer Rehabilitation, landschaftliche, forstwirtschaftliche, touristische und kulturelle Ressourcen sowie sich auf saubere Luft und sauberes Wasser konzentrieren. Um ökologisches und solidar-gemeinschaftliches Leben und Arbeiten verbunden mit Forschung über ‚saubere Technologien‘ in Zukunft gewährleisten zu können, ist die Einrichtung eines Solidarkredit-Systems besonders für junge Menschen und Menschen, die aus dem Zwang der kapitalistischen Verwertung herauswollen, vonnöten.

                An den frühen Abenden des Donnerstag und Freitag fanden Kundgebungen in Coppenbrügge und in Salzhemmendorf statt, bei denen die Diskussion um die Zukunft des Weserberglandes zu den Bürgerinnen und Bürgern getragen wurde und dort ihr Echo und Bereicherung widerfuhr. In  Coppenbrügge fanden sich im Innenhof der Burgruine im Zentrum des Ortes etwa 500 interessierte Menschen ein. In Salzhemmendorf  wurde die Veranstaltung vor dem Ratskeller und der St. Margarethen-Kirche von mehr als 600 Teilnehmern besucht. In beiden Orten hatte es derartig gut besuchte Wahl-Veranstaltungen noch nie gegeben. In der gesamten Umgebung verteilten vorher Mitglieder der Bürger-Komitees Flyer und brachten kleine Aufkleber an allen strategischen Punkten in den Gemeinden an. Regina konnte nicht mit den steuerfinanzierten Millionen der Bundestagsparteien mithalten, die Konterfeis ihrer Direktkandidaten und Parteien-Slogans überall im Wahlkreis anbrachten. Es sollte dem Wahlvolk suggeriert werden, ohne Bundestagsparteien liefe nichts in der Republik. Die Namen und Gesichter der Kandidaten, die alle mit leeren Floskeln um die Sympathien des Bürgers warben, sollten sich in den Köpfen der Menschen einbrennen, so dass nicht vergessen werden konnte, wo am Wahltag das Kreuzlein zu machen sei. Nach der Wahl könnte der Bürger dann die hohlen Phrasen wieder in den Wind schießen. Er hätte jedenfalls sein Wahl-Tagewerk erfolgreich vollbracht. In diesem Wahljahr waren die Bundestagsparteien auf Dienstleistungsfirmen angewiesen, um ihre Propaganda-Kampagnen zu fahren. Die vielen jungen Freiwilligen aus früheren Kampagnen hatten sich mehrheitlich Reginas Wahlzug angeschlossen. Dort konnten sie über ihre eigene Zukunft mitreden und hofften, bei Reginas erfolgreicher Wahl aktiv an der Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen mitwirken zu können. Dann sei die Zeit des ‚mündigen Bürgers‘ für außerparlamentarische Arbeit und direkte Demokratie gekommen, um Bürger-Macht gegen Parteien-Macht im Laufe der kommenden Legislaturperiode durchzusetzen. Am kommenden Wochenende sollte der Bürger-Reise-Zug Station in der Münchhausen-Stadt Bodenwerder machen, wo die Kundgebung vor der Stadtkirche in der Münchhausen-Straße geplant war. Als Unterkunft war die Jugendherberge oberhalb der Stadt am rechten Weserufer vorgesehen.

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Auf Einladung der Sozis fuhr Jasmin am Sonntagmorgen von Holzminden zur Wilhelm Raabe-Stadt Eschershausen. Eine Parteikundgebung auf dem Marktplatz sollte die Verbundenheit mit der Bevölkerung der Dichter-Stadt und dem Deutschen Gewerkschaftsbund Ausdruck verleihen. Das Sozi-Wahlprogramm, von Kanzlerkandidat Schulz und der umtriebigen Ministerin Nahles abgesegnet, sei längst in den Köpfen der Partei-Funktionäre angekommen, so dass die frohe Kunde von Sozialer Gerechtigkeit für die Bürgerinnen und Bürger verkündet werden konnte, und das aus dem Munde eines Jung-Sozi-Direktkandidaten. Für Schnaps und Curry-Wurst sei bestens gesorgt, damit der Bürger auf den Geschmack kommen möge. Leider hatte der Alt-Kanzler seinen Besuch abgesagt, obwohl sein Leibgericht Currywurst offeriert wurde. Bedauerlicherweise müsste er sich um aktuelle Probleme des Pipeline-Baus von Russland durch die Ostsee bis nach Deutschland kümmern. Den lokalen Sozi-Granden kam das gerade recht, denn dadurch konnte der verdiente Alt-Kanzler mit unangenehmen Fragen bezüglich seiner Agenda-Initiative zur Einrichtung und rasanten Ausweitung des Niedriglohnsektors nicht belästigt werden. Und die Sozis kämen auch nicht in die Bredouille mit ihren Wischiwaschi-Aussagen zur Sozialen Gerechtigkeit, waren sie doch die Urheber der Neuen Armut in der Republik. Gut, die Kanzlerin hatte die Armut in ihren zwölf Regierungsjahren fleißig vertieft, aber der Ursprung lag beim Alt-Kanzler und dem jetzigen hochverehrten Bundespräsidenten. Den altgedienten Parteifunktionären, dem jungen Kandidaten und den verdienten Gewerkschaftlern kam es auch hauptsächlich darauf an, den Sozi-Stallgeruch der seit 1875 existierenden Partei im Wahlkreis erfolgreich aufrecht zu erhalten. Wer könnte sich dem verlockenden Geruch von Schnaps und Curry-Wurst auf dem Eschershausener Marktplatz verweigern, fragte sich Jasmin, als sie ihr Auto abstellte und sich in den Dunstkreis des Stallgeruchs aufmachte. Die Konservativen hatten allenfalls Linsensuppe und Bier im Angebot. Auch dieser Stall-Geruch konnte so manchen Bürger überzeugen. Doch die Kanzlerin hatte in den letzten Jahren auf Kartoffelsuppe gesetzt.

                Jasmin und andere bereits anwesende Presse-Vertreter nahmen an einem Extra-Tisch mit dem Kandidaten Platz, auf dem Schnaps und Curry-Wurst bereits auf den Verzehr warteten. Jasmin wurde von den übrigen Pressevertretern neugierig gemustert. Insgeheim waren sie sauer und neidisch auf diese junge Journalistin, die es in kurzer Zeit geschafft hatte, das WOM zum weitaus einflussreichsten Medium der Region zu machen. Und an ihren Leitartikeln kam niemand vorbei. Vor allem die Jugend stürzte sich darauf und ließ sich von den Artikeln in ihren Emanzipationsbestrebungen inspirieren. Der wohl wichtigste Erfolg von Jasmin bestand darin, dass es inzwischen Hunderte von sogenannten ehrenamtlichen Bürger-Journalisten in allen Gemeinden, so auch in Eschershausen, gab, die täglich lokale Nachrichten und auch eigene Beiträge schrieben. Jasmin hatte das Weserbergland heftig in Bewegung gebracht und für rasanten Leserschwund der etablierten Medien gesorgt. Da war es auch nicht verwunderlich, dass neben Neid Hass aufkam. Der Sozi-Kandidat bemühte sich besonders um sie, versorgte sie mit dem Parteiprogramm und einem eigenen Flyer sowie mit Schnaps, den sie jedoch dankend weitergab. Schließlich müsste sie noch Autofahren. 

                Gegend Mittag gab es eine Überraschung: Eine Werkskapelle eines Holzmindener Unternehmens rückte mit einigen Spielern an, um für lautes Tamtam zu sorgen. Das lockte etliche Bürgerinnen und Bürger der kleinen Stadt aus ihren Häusern, sodass der Kandidat nach einem musikalischen Aufgalopp zu seiner Wahlrede ansetzen konnte. Vor etwa 200 Teilnehmern begann der Kandidat seine Rede, gespickt mit Slogans aus dem Sozi-Wahlprogramm und voll des Lobes über den ausgezeichneten Kanzlerkandidaten und sich selbst. Die Menschen des Weserberglandes könnten sich glücklich schätzen, dass zwei Persönlichkeiten von diesem Format und die jahrhunderte-alte Sozi-Partei den Menschen im Weserbergland, analog zum Schlachtruf der Kanzlerin, zuriefen: „Für ein Weserbergland, in dem Soziale Gerechtigkeit das gute Leben für weitere vier Jahre sichert!“

                Doch gerade auf dem Höhepunkt seiner Rede angelangt klingelte sein Handy derart penetrant, dass der Kandidat sich entschuldigte, um einen Anruf entgegenzunehmen. Er erbleichte augenblicklich, verharrte einige Sekunden, ohne ein Wort zu sagen, und entschuldigte sich danach bei allen Teilnehmern der Kundgebung mit den Worten: „Es tut mir leid, die Versammlung sofort verlassen zu müssen. Aber unvorhergesehene Ereignisse veranlassen mich, jetzt gleich nach Bodenwerder zu fahren.“ Er bat die verantwortliche Sozi-Frau von Eschershausen, die Veranstaltung zum guten Ende zu führen. Sie würde von ihm in einigen Stunden hören. Die Kosten für Schnaps und Curry-Wurst seien durch die prall gefüllte Partei-Kasse gedeckt, dank Schäubles Großzügigkeit. Mit einem letzten Gruß an die Kundgebungsteilnehmer verabschiedete er sich und rannte zu seinem Auto, das er so liebevoll mit einem Sozi-Spruch dekoriert hatte.

                Die Sozi-Verantwortliche riss sofort die Initiative an sich, um die entstandene Verwirrung nicht grösser werden zu lassen. Sie forderte alle Anwesenden auf, doch kräftig zuzulangen und sich die Programm-Broschüren nicht entgehen zu lassen. Die Pressevertreter blickten sich ratlos an. Einige versuchten auf ihren Handys Bekannte aus Bodenwerder anzurufen. Jasmin erreichte Chris, der sich auf Reginas Veranstaltung in Bodenwerder befand. Regina selbst sei sicherlich zu beschäftigt, um mit ihr sprechen zu können. Chris informierte Jasmin darüber, dass aus Holzminden eine Juso-Gruppe herübergekommen war und sich auf Reginas Veranstaltung mit ihrer Wahlkampagne solidarisch erklärte, und sie im weiteren Wahlkampf unterstützen würde. Sie trugen zwei große Transparente mit den Slogans: „Holzmindener Jusos unterstützen Regina“ und: „Holzmindener Jusos für Direkte Demokratie“.

                Was für eine politische Bombe im Weserbergland! Jasmin antwortete Chris, dass sie gleich nach Bodenwerder herüberkäme. Sie würden sich später an der Jugendherberge treffen. Jasmin verabschiedete sich ebenfalls eilig von den Sozi-Veranstaltern und fuhr schnurstracks nach Bodenwerder.

                Dort hatte Reginas Veranstaltung gegen 11 Uhr begonnen. Die Kirchenbesucher waren erstaunt, vor ihrer ehrwürdigen Kirche eine Menschenansammlung von etwa Tausend Leuten anzutreffen. Das Zentrum der historischen Münchhausen-Stadt platzte aus allen Nähten. Es schien, dass alle Dämme des Niedriglohnsektors gebrochen waren: Nicht nur Jugendliche aus Bodenwerder und Umgebung versammelten sich bei bestem Sommerwetter. Es waren auch Gruppen von Behinderten, von Arbeitslosen, HartzIVlern und vor allem alleinerziehenden Müttern anwesend, die mit eigens angefertigten Spruchbändern ihre soziale Ausgrenzung angriffen und die Bürger-Bewegung von Regina unterstützten. Landwirte, Arbeiter und Angestellte in Arbeit und Brot sowie der gutsituierte Mittelstand und auch Ausländer waren nur vereinzelt und aus Neugierde erschienen, nicht aber aus Sympathie für die Bürger-Bewegung. Selten oder nie in ihrem Leben waren sie auf die Straße gegangen, um für politische Forderungen einzustehen. Warum auch?  Bisher hatte ihr Kreuzlein doch dafür gesorgt, eine ausreichende Mietswohnung oder ein eigenes Haus mit Garten zu haben und ein bequemes Leben zu führen. Warum denn auch politische und wirtschaftliche Seilschaften hinterfragen, wenn diese Seilschaften das Weiterso, in dem gut und gerne gelebt wird, zur Zufriedenheit garantierten?

                Regina hatte zu Beginn eine einleitende Rede gehalten, um die Notwendigkeit einer Bürger-Bewegung zu unterstreichen. Dann traten in kurzer Reihenfolge verschiedene Vertreter von Bürger-Komitees und Interessengruppen auf, die die unterschiedlichen Begründungen vortrugen, weswegen sie sich der Bewegung angeschlossen hatten. Es ginge darum, dass endlich der emanzipierte Bürger aufstünde, um persönlich aktiv zu werden und sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Während dieser Beiträge kam plötzlich Bewegung aus Richtung des Münchhausen-Brunnens auf. 

               Eine Gruppe Holzmindener Jung-Sozis machte sich auf den Weg zur Stadtkirche. Sie trugen zwei Spruchbänder vor sich her, um ihre Unterstützung für die parteilose Regina und um ihr Eintreten für Direkte Demokratie auszudrücken. In ihrer Mutter-Partei hätten nur die Partei-Oberen etwas zu sagen, während das Fußvolk lediglich zur Kärrner-Arbeit herangezogen würde. Das hätte jetzt ein Ende. Die Jung-Sozis wollten über ihre eigene Zukunft mitreden. Beifall brauste auf. Regina hieß die jungen Sozis willkommen. Gemeinsam würden sie für Bürger-Rechte kämpfen: „Jeder hat seinen Platz in unserer Bewegung, der guten Willens ist und mit der Neuen Rechten nichts am Hut hat. Auf nach Berlin! Auf in eine humane Zukunft! Auf in eine Bürger-Republik, in der Menschlichkeit, Liebe, Freiheit, Selbstverwirklichung und Schutz der natürlichen Umgebung groß geschrieben werden!“

                Die Bodenwerder-Kundgebung wurde zum Startschuss einer unaufhaltsamen Bürger-Bewegung im Weserbergland. Der Sozi-Kandidat und die lokalen Sozi-Granden schäumten vor Wut und drohten den Holzmindener-Jung-Sozis den Ausschluss aus der Partei an. Die erwiderten, sie würden freiwillig aus der Gruppierung und der Partei austreten und sich der Bürger-Bewegung anschließen. Politische Freiheit sei allemal politischer Gängelei vorzuziehen. Den Bundestagsparteien wehte trotz schönem Sommer ein eiskalter Wind ins Gesicht. 

                Entgegen seiner ursprünglichen Absicht nach Bodenwerder zu fahren, fuhr der Sozi-Kandidat zum Holzmindener Parteivorsitzenden, mit dem er die Jung-Sozi-Revolte besprechen wollte. Beide kamen überein, den Ausschluss der Rebellen aus der Jugendorganisation und der Partei sofort zu beantragen. Was aber noch wichtiger sei, sei ein Geheimtreffen mit Jäger und dem Kandidaten der Konservativen, auf dem der ‚Fall WOM und der verantwortlichen Redakteurin‘ behandelt werden müsste. Das sollte unbedingt noch am Montag geschehen. 

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Der Montagmorgen wurde den beiden Sozis gründlich versaut. Beim Kaffee und Butter-Croissant surften sie im WOM, um sich ein Bild von der Reaktion auf die gestrigen Ereignisse im Wahlkreis zu verschaffen. Ihnen lief die Galle über, als sie Jasmins Beitrag über die Eschershausener Schnaps- und Curry-Wurst-Veranstaltung inklusive Kommentare der Leserschaft und den Bericht von Reginas Kundgebung in Bodenwerder lasen. Die Rebellion der Jung-Sozis aus Holzminden diskreditierte den jungen Sozi-Kandidaten, der sich kurz vor dem Einzug in den Olymp des deutschen Staates wähnte. Ihr rebellisches Verhalten begründeten die Jung-Sozis damit, dass sie die traditionelle Korruption in ihrer Partei-Seilschaft nicht länger hinnehmen wollten. Der junge Kandidat konnte das zwar nachvollziehen. Er selbst hatte mit siebzehn Jahren den Parteisoldaten-Start in der Sozi-Seilschaft begonnen und verinnerlicht. Nach vielen Jahren hatte er nun endlich die Karriere-Leiter soweit erklommen, dass lebenslange satte Absicherung und Teilhabe an staatlicher Macht sowie die goldene Pension in greifbare Nähe gerückt waren auf Kosten eines verbogenen Rückgrats. Andererseits war er unendlich wütend über die bisherigen Weggefährten, die aus dem deutschen Seilschaften-System aussteigen wollten, weil es ihnen zuwider geworden war. Wie sollte er der Wählerschaft plausibel machen, dass sich seine bisherigen Freunde von ihm abgewandt, und dass sie offensichtlich von der Partei die Nase voll hatten? Wie sollte er jetzt den Kampf gegen die schier unaufhaltsame Bürger-Bewegung aufnehmen, die den deutschen vertikal organisierten Parteienstaat mit ihren Eliten auf dem Olymp durch eine horizontal organisierte Bürgerrepublik ersetzen wollte, in der der Mensch statt Parteien und Kapital im Mittelpunkt stehen würde? Der Sozi-Kandidat musste, ob er wollte oder nicht, mit Jäger und dem Kandidat der Konservativen ein Bündnis schließen. Das WOM und seine Redakteurin seien subversiv und müssten möglichst von der Bildfläche verschwinden. Dann würde auch die Bürger-Bewegung zusammenbrechen. Wenn das bis zur Wahl nicht gelänge, dann wenigsten bis zum Jahresende. Er begann, die Weitsicht Jägers zu bewundern, der von Anfang an das WOM verteufelt hatte. Warum hatte er nur eine solch lange Leitung, um das zu begreifen? Vielleicht sei jetzt bereits alles zu spät. Regina würde gewählt werden und eine mächtige Bürger-Bewegung würde vom Weserbergland seinen Ausgang nehmen und das Land erobern? Nicht vorzustellen!       

                Das Treffen bei Jäger fand unter acht Augen statt: Die beiden Direktkandidaten von Sozis und Konservativen und ihre jeweiligen lokalen Vorsitzenden fanden sich zum geheimen Stelldichein bei Kaffee und feinstem Cognac ein. Dieses Mal brauchte Jäger keine Zeit zu verschwenden, um das WOM und seine Redakteurin in Grund und Boden schlecht zu machen. Mit Genugtuung stellte er fest, dass sich die Anwesenden von Beginn der Aussprache an darin einig waren, dass das WOM des Teufels sei und die Redakteurin seine helfende Hand. Aber die Krux war: Wie sich des WOM samt Redakteurin entledigen?

                „Ich hoffe doch, alles, was wir hier besprechen, bleibt unter uns,“ begann Jäger. „Wir sind zwar in der alltäglichen Politik oft erbitterte Gegner, aber diese Gegnerschaft muss da seine Grenze haben, wo unsere parlamentarische Demokratie und unser gut funktionierender Parteienstaat massiv angegriffen wird und unsere geteilte Machtposition ins Wanken zu geraten droht. Wie kann sich der Bürger erdreisten, uns kontrollieren zu wollen und Chaos zu säen? Bei aller Sympathie zum ‚mündigen Bürger‘, aber das, was sich jetzt vor unserer Haustür abspielt, geht dann doch zu weit. Ich gebe zu, dass meine wichtigste Informations-Quelle seit einem Monat das WOM geworden ist. Und was dort über den gestrigen Sonntag berichtet wird, verursacht bei jedem anständigen Demokraten das kalte Grausen. Das trifft auf Bodenwerder wie auf Eschershausen zu. Die Bürger-Bewegungs-Kundgebung mit mehr als tausend Teilnehmern und der Rebellion der Jung-Sozis in Bodenwerder sowie die Schnaps- und Curry-Wurst-Veranstaltung in Eschershausen zeigen glasklar, wohin die Fahrt im Weserbergland gehen wird, wenn wir nicht gemeinsam tätig werden. Ich hatte das bereits Ende Februar vorausgesagt. Jetzt können wir uns nicht länger selbst in die Tasche lügen. Wie wir bereits auf unserer Kaffee- und Kuchen-Veranstaltung in Heyen betont haben, ist es an der Zeit, konkret zu handeln. Ich bin froh, dass Sie von den Sozis zur gleichen Meinung gekommen sind.“

                „Also, wenn ich von meiner Seite aus etwas anführen darf,“ warf der Kandidat der Konservativen ein, „dann muss ich Herrn Jäger hundertprozentig beipflichten. Unsere Demokratie ist in Gefahr. Wir können es nicht länger dulden, dass ich bspw. als derzeitiger Bundestagsabgeordneter und Kandidat für die kommende Wahl von vielen jungen Menschen nach Strich und Faden runtergeputzt werde. Ich verzehre mich täglich in meiner Zuarbeit für die verehrte Kanzlerin und in der Sorge ums Vaterland. Entschuldigen Sie mich, heute muss es ja korrekt heißen: Sorge ums Mutter- und Vaterland. Aber glücklicherweise haben wir hier keine Feministinnen unter uns. Also ich werde im WOM als Stiefelputzer, als Radfahrer und Schleimer, als Wasser- und Kofferträger, Speichellecker und Arschkriecher und als Diäten-Abstauber und Schmarotzer auf Steuerkosten beschimpft, was noch die harmloseren Schimpfwörter sind. Wenn das Bürger-Demokratie sein soll, in der Politiker aufs Übelste beschimpft werden und dazu noch in einem vom RND gesponserten Online-Portal, dann ist es höchste Zeit, um einzuschreiten. Sollten unsere Parteifreunde im Aufsichtsrat des RND sich derzeit nicht trauen, das WOM-Projekt zu schließen, müssen wir uns vor Ort Alternativen überlegen.“  

                „Liebe Kollegen von der Konservativen Partei,“ wandte der Sozi-Kandidat ein, der nach der Rebellion der Jung-Sozis und der Schnaps- und Curry-Wurst-Veranstaltung die ganze Nacht über schlecht geschlafen hatte. „Ich muss leider bekennen, dass ich mit der Einschätzung des WOM-Projektes im Frühjahr völlig falsch gelegen habe. Ich hatte mir davon versprochen, die Jugend im Weserbergland für unsere Politik zu gewinnen. Uns allen war der Verdruss der jungen Menschen über Politik und Medien klar, aber wir hofften, die als apolitisch eingeschätzte Jugend von unseren politischen Vorstellungen überzeugen zu können. So wie auch ich als Teenager zur Sozi-Partei fand und mich schnell mit dem Stall-Geruch vertraut machte. Doch jetzt sehen wir, dass die Jugend sehr wohl politisch ist, aber von unserem parlamentarischen System nichts mehr wissen will. Sie will mitreden, sie will Politik machen. Sie will das Geschäft übernehmen, dass wir Parteifunktionäre seit 1949 bestens wahrgenommen haben, sie will nicht länger den Untertan spielen. Obwohl ich der Jüngste unter uns bin, weiß ich doch, dass ein Aufbegehren des Volkes immer nur ein kurzes Strohfeuer gewesen ist. Noch nie in der Geschichte hat ein Volk auf Dauer seine Eliten abschütteln können. Selbst die Vorstellungen vom Sozialistischen Paradies und der Selbstmordthese der Eliten und Einführung horizontaler Bürger-Macht sind nichts als nebelhaftes Wunschdenken. Das Wesen des Menschen ist seit Menschengedenken auf Bequemlichkeit und Sicherheit ausgerichtet, nicht auf Verantwortung-Übernehmen und Mitregieren-Wollen. Wir Volksparteien sind jetzt gefragt, die aufkommende Bürger-Bewegung im Keim zu ersticken, bevor dem Parteienstaat größerer Schaden zugeführt wird. An der 68er Revolte und der Bürgerrechtsbewegung haben wir zur Genüge erfahren, dass eine Bewegung rasch im Sande versiegt, auch wenn sie temporär eine Berechtigung haben sollte. Wirtschaftliche und politische Eliten sind die Garanten unseres Parteienstaats, der die beste Form von Demokratie für unser Volk ist.  Deswegen, lieber Herr Jäger, bin ich voll auf ihrer Linie. Packen wir‘s an, bringen wir das WOM zu Fall.“

                „Soweit, so gut, packen wir’s an!“ meinte Jäger. „An dieser Stelle muss ich Ihnen etwas im Vertrauen offenbaren, was ich bereits persönlich in die Wege geleitet habe.“ In diesem Moment machte Jäger einen verschwörerischen Eindruck, rückte seinen Sessel näher an die anderen Teilnehmer heran, wiegte sein Cognac-Glass bedeutungsvoll in seiner rechten Hand, beugte seinen Kopf nach vorn und fiel in einen geheimnisvollen Flüsterton, so als ob er fürchtete, seine Frau könnte in irgendeinem Winkel des Hauses etwas von dem Gespräch aufschnappen. 

                „Seit geraumer Zeit habe ich Kontakt zu einem ehemaligen V-Mann aufgenommen. Sie wissen, dass ich mich mit Inlands-Spionage bestens auskenne. Dieser hat die Aufgabe, die verantwortliche Redakteurin des WOM und die Bürger-Kandidatin zu beobachten. Durch geeignete Maßnahmen soll dieser V-Mann dafür sorgen, dass die Redakteurin freiwillig ihre Koffer packt und aus dem WOM-Projekt aussteigt, entweder aus Angst oder wegen ständiger übler Nachrede. Sollte das geschehen, würde m. E. der Elan all der sogenannten ehrenamtlichen Journalisten erlahmen oder sie auch die Hosen voll bekommen und ihre sogenannte Zivilcourage an den Nagel hängen. Ich bin mir bewusst, dass das eine fiese Methode ist, aber sie könnte in unserem Fall effektiv sein. Ich werde dafür sorgen, dass wir nicht in eventuelle spätere Nachforschungen verwickelt werden. Die Tatsache, dass die Redakteurin ausländische Wurzeln hat, wird dafür sorgen, dass sich das Mitgefühl für sie in Grenzen halten wird, wenn sie aussteigt oder ihr etwas zustoßen sollte. Insbesondere die Neue Rechte hätte Grund zum Jubeln. Was die Bürger-Kandidatin anbelangt, so ist sie ein ähnlich gelagerter Fall. Kämen sie und ihr Sohn aus irgendeinem Grunde in Schwierigkeiten, könnte sie sich ebenfalls noch vor der Wahl gezwungen sehen, auf ihre Kandidatur zu verzichten. Damit wäre für uns zumindest ein Teilziel erreicht und unsere beiden Direktkandidaten hätten freies Feld zur Wahl vor sich.“ 

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