9 Nov 2018

Die kranke deutsche Demokratie

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie - 20. Folge

Politischer Mord im Weserbergland

 

Fiktion: Planung eines politischen Mordes, Ende der Sommerreise

Foto: Wikimedia Commens, "Kornhus" in Bad Muender, Autor: Axel Hindemith

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Rainer, Fritz und Otto trafen sich am selbigen Montagnachmittag in Grossenwieden an den Fischteichen.  Otto war mit dem Grillen von frischen Fischen beschäftigt. Bier und Joints gab es zum Nachtisch. Rainer hatte Reginas Kundgebung in Bodenwerder unauffällig beigewohnt, während Fritz in Eschershausen weilte, wo er die Schnaps- und Curry-Wurst-Veranstaltung der Sozis aus gehöriger Entfernung verfolgte. Nach dem Verzehr der vorzüglich zubereiteten Fische, begann Rainer als Erster das Wort zu ergreifen: „Wenn ich den Wahlkampf im Weserbergland richtig einschätze, so sind wir Vaterlandsverteidiger in aussichtsreicher Position. Die Bürger-Bewegung hat die Altparteien komplett im Sack. Bei denen wird nicht mehr viel laufen. Sieht man sich die Sommer-Reise der Bürger-Bewegung an und surft im WOM, so sind alle Altparteien auf dem Rückzug, besonders die beiden sogenannten Volksparteien. Sie schäumen zwar vor Wut, weil ihnen die jungen Menschen den Rücken kehren und der Niedriglohnsektor geschlossen zur Unterstützung der Bürger-Bewegung auf dem Marsch ist. Die Altparteien werden bei der Wahl keinen Stich landen, es sei denn, das WOM und seine Redakteurin machten sofort dicht. Dann könnte in den letzten Wochen vor der Wahl das ‚schweigende Wahlvolk‘ diesen Parteien noch zu Hilfe kommen. Ich habe von Jäger freies Schussfeld auf die WOM-Redakteurin bekommen und das heimlich dokumentiert. Falls spätere Nachforschungen erfolgen sollten, so wird Jäger dran sein, nicht ich. Ihr wisst auch, dass die Neue Rechte ebenfalls erpicht ist, das WOM und die verantwortliche Redakteurin aus dem Verkehr zu ziehen. Die humanistische Bürger-Bewegung der parteilosen Kandidatin ist allen Parteien ein Dorn im Auge. Der Verantwortliche der Neuen Rechten hat mir ebenfalls freie Wahl gelassen, die WOM-Redakteurin zu attackieren. Auch das habe ich heimlich dokumentiert. Niemand soll mir und uns später etwas in die Schuhe schieben können. Wir wissen uns zu verteidigen. Nun, ich habe mir eine Strategie ausgedacht, wie wir vorgehen sollten. Ich habe da meine eigene Agenda. M. E. ist es wichtig, dass vor dem Wahltag nichts Gravierendes passiert, lediglich psychologische Kriegsführung. Die Redakteurin und auch die parteilose Kandidatin und ihr Sohn sollen so weitermachen wie bisher und die Chancen der Altparteien völlig zunichtemachen. Deren Anhänger gehen zu einem Teil zur Bürger-Bewegung über und zum anderen Teil zur Neuen Rechten. Die Volkswut gegenüber Musels und Negern, gegenüber Ausländern insgesamt, ist inzwischen derart verwurzelt, dass die Neue Rechte nur gewinnen kann. Aber sie sollte im Stillen ihren Wahlkampf gegen die Altparteien machen können, während der spektakuläre Wahlkampf gegen die Bundestagsparteien von der Bürger-Bewegung geführt wird. Wenn alles so läuft, wie ich das einschätze, dann wird die parteilose Kandidatin das Direktmandat gewinnen, aber der höchste Prozentsatz der Zweitstimmen könnte an die Neue Rechte gehen. In diesem Fall wäre das Verschwinden der Redakteurin und der Niedergang des WOM erst nach der Wahl angesagt. Was sagt Ihr über meine Strategie?“

                Fritz: „Keine Frage, die Redakteurin muss weg. Sie hat in unserem Land nichts zu suchen. Sie ist gefährlich und wiegelt die Menschen auf, sich eine unabhängige Meinung zu machen und sich gegenüber Autoritäten zu emanzipieren. Das kann uns auch gehörig schaden, wenn wir einmal an die Macht kommen sollten. In der Tat ist die Bürger-Bewegung unser eigentlicher Feind, weil sie auch gleichzeitig Weltoffenheit, das heißt das friedliche Nebeneinander verschiedener Kulturen proklamiert. Dieses Gutmenschentum ist der Beginn des Untergangs des christlichen Abendlandes. Rainer, Du hast Recht. Wir sollten noch warten bis zum Wahltag, damit die Altparteien mit Sicherheit einen über die Rübe bekommen. Dann aber ist unsere Geduld am Ende. Ohne die Redakteurin wird das WOM dicht machen. Die jungen Leute, die jetzt darin das große Wort schwingen, werden eingehen wie die Primeln, wenn sie sehen, was mit der Chefin der Gutmenschen passiert ist. Aber vielleicht brauchen wir da gar nicht selbst einzugreifen. Es könnte durchaus sein, die Redakteurin zieht sich von selbst zurück aus lauter Angst vor unseren Drohungen. Wir werden jedenfalls genau hinsehen, wie sich die letzten Wochen vor der Wahl entwickeln. Otto, was meinst Du dazu?“

                Otto wusste nur Eines: So wie der Staat augenblicklich funktionierte, dürfte es nicht weitergehen. Die Altparteien, die diesen Staat rücksichtslos und ohne rechtliche Grundlage für ihre Zwecke ausnutzen und staatliche Kassen auf Kosten des einfachen Bürgers plündern, müssen bekämpft werden bis aufs Messer. Und die neue Bürger-Bewegung ist mindestens ein gleichwertiger Feind. Sie toleriert Fremde in der Heimat, die sich Arbeit, Land und Sozialausgaben unter den Nagel reißen und so den deutschen Menschen und die deutsche Heimat schädigen. „Ich bin auch dafür, dass das WOM und ihre Redakteurin sofort nach der Wahl verschwinden. So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe, die Altparteien und die Bürger-Bewegung.“

                Nach Konsumierung ihrer Joints fielen die drei Fremdenfeinde in einen traumlosen Schlaf an Ottos Fischteich.

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Nach Reginas Kundgebung in Bodenwerder brachen alle Dämme. Die Unterstützung der Jung-Sozis von Holzminden für die Bürger-Bewegung hatte eine Kettenreaktion zur Folge. In Hameln schwangen sich Jung-Sozis und junge Grüne ebenfalls auf ihre Räder und trafen sich mit Reginas Reise-Gruppe auf dem nächsten Halt, dem Jugendwaldlager bei Eschershausen. Es war vorgesehen, hier bis zum kommenden Sonntag, an dem eine zentrale Veranstaltung auf dem Holzmindener Markt stattfinden sollte, Station zu machen. In der Woche wollte Regina noch Kundgebungen in Uslar und Bodenfelde veranstalten sowie einen Besuch der Renaissance- Schlösser Bevern und Fürstenberg anschließen. Auch würden Mitglieder der verschiedenen Bürger-Komitees in allen Gemeinden des Kreises Holzminden Flyer verteilen und Aufkleber anbringen.

                Wie schon in Bodenwerder wurden die Kundgebungen in Uslar und Bodenfelde ein voller Erfolg. In Uslar kamen ebenfalls tausend Menschen vor dem Alten Rathaus zusammen. Sprecher der verschiedenen Gruppen des Niedriglohnsektors und die Jugendlichen erläuterten ihre jeweiligen Zielsetzungen und Regina fasste die Vorschläge zusammen. Der Besuch der Schlösser Bevern und Fürstenberg war ein besonderes Highlight. Die Kundgebung in Holzminden, wurde zu Jägers Leidwesen ein vorläufiger Höhepunkt der Sommerreise der Bürger-Bewegung mit etwa zweitausend Besuchern. Auf dem Marktplatz traten ebenfalls die kürzlich ausgetretenen Jung-Sozis auf und bekannten sich zur Unterstützung der Bürger-Bewegung. Die lokalen Medien berichteten zähneknirschend. Ein völliges Verschweigen der Veranstaltung würde als totale Nichtachtung der Leserschaft angesehen und ihre Leserzahl weiter verringern.

                Die restliche Sommer-Reise ist rasch erzählt: Nach Holzminden ging es über die Ottensteiner Hochebene nach Bad Pyrmont, wo vor dem Hylligen Born dreitausend Menschen an der Kundgebung teilnahmen. Das wollte etwas heißen in diesem gutbürgerlichen und konservativ geprägten Staatsbad. Schließlich rundete ein Besuch der eindrucksvollen Weser-Renaissance-Schlösser Schwöbber und Hämelschenburg den ‚Sommer-Marsch‘ durchs Weserbergland ab. Die Schlussveranstaltung vor der Konzertmuschel im Hamelner Bürgergarten mit mehr als sechstausend Besuchern wurde nicht nur von den lokalen Medien sondern auch den regionalen erwähnt. Selbst die Kanzlerin hätte eine derartige Besucherschar nicht angelockt. Das Besondere an der Veranstaltung war, dass die meisten Teilnehmer vorher mit Politik nichts am Hut hatten. Doch dem unermüdlichen Einsatz und der Begeisterung der vielen ehrenamtlichen Bürger-Journalisten im WOM aus allen Gemeinden der Region war es zu verdanken, dass ein Optimismus die Menschen erfasste, gegen den erstarrten und selbstsüchtigen Parteienstaat den Bürgerwillen erfolgreich entgegenzusetzen. Regina als ‚Galionsfigur‘ und Jasmin als streitbare Kämpferin für politische Freiheit, Liebe und Menschlichkeit hatten das Weserbergland wahrhaftig aufgerüttelt und Bürgerinnen und Bürger aus dem Dornröschenschlaf von Angst, Ohnmacht und Obrigkeitshörigkeit erweckt.

                Zum Ende der Hamelner Veranstaltung im Bürgergarten setzten sich Chris, Pierre, Mona und Simone erschöpft aber glücklich in ein Eiskaffee in der Osterstrasse. Sie hatten die drei Wochen mit viel Arbeit aber auch viel Nachdenken, Ermutigung und Spaß verbracht. Jetzt waren sie einfach froh darüber, dass die Sommer-Reise so erfolgreich und ohne  negative Vorfälle zu Ende gegangen war. Regina hatte auf ihrem Mail-Account eine Botschaft von Jasmin erhalten, die einen Tag in Bad Karlshafen verbracht hatte, um nach allen Anstrengungen, die auch ihre WOM-Arbeit mit sich gebracht hatte, einfach mal im Wesertal auszuspannen. Regina ließ die jungen Menschen unter sich und suchte sich ein stilles Plätzchen in einem Café in der Nähe des Hamelner Museums. Sie wollte allein sein nach all dem Trubel der Sommer-Reise und endlich einmal wieder Zeit haben, um sich in Gedanken mit Jasmin zu vereinen. Erwartungsvoll öffnete sie die Mail.    

Meine liebe Regina, 

ich sitze hier bei Sonnenaufgang auf den ‚Hannoverschen Klippen‘ und blicke ins Wesertal hinunter. In der Ferne ruft das Weserufer in Bad Karlshafen zum Frühstück. Ich werde dorthin aufbrechen, wenn ich meine innere Ruhe wieder gefunden habe. Ich schreibe Dir von diesem wunderschönen Ort im Wesertal, ohne zu wissen, ob ich Dir diesen Brief jemals zuschicke. Aber ich muss meinen Gedanken und Gefühlen jetzt Raum geben, um Kraft zum Weiterleben zu finden. Ja, Du hast richtig gelesen: Kraft zum Weiterleben. In der Nacht habe ich kein Auge zugetan. Wir beide haben während Deiner Sommer-Reise keine Gelegenheit zum Austausch und zur Liebe gefunden. Du hast eine ungeheure Verantwortung auf Dich genommen, was Dir sicher zu Beginn Deiner Kandidatur in dieser Dimension nicht bewusst war. Aber jetzt bist Du nicht mehr nur Regina mit einem wunderbaren Sohn, jetzt bist Du zur Symbolfigur für Bürger-Freiheit, für Liebe im Miteinander von Menschen und für Direkte Demokratie geworden. Die Hoffnungen so vieler Menschen ruhen jetzt auf Dir, Ängste und Ohnmachtsgefühl hinter sich zu lassen und der Obrigkeit Zivilcourage entgegensetzen zu können. Das ist Emanzipation des Bürgers, das ist der Traum des Menschseins, an dem wir beide arbeiten.

                Was mich betrifft, so hatte ich mich mit dem Projekt der Online-Plattform von Anfang an auf eine Fahrt ins Ungewisse begeben. Schon in den Ländern des ‚Arabischen Frühlings‘ fragte ich mich: Was bringt Menschen dazu, für die Freiheit zu kämpfen? Ist das Sehnen des Menschen nicht hauptsächlich auf das Täglich Brot und Sicherheit gerichtet? Wenn Täglich Brot und Sicherheit stimmen, dann kann doch offensichtlich der Mensch auf Freiheit und Machtstrukturen pfeifen? Man lebt ja, und in Deutschland meistens nicht schlecht, so wie die Kanzlerin sagt: Ein Land, in dem wir gut und gerne leben. Ich ergänze: Aber ein Land, in dem wir nichts zu sagen haben und unser Schicksal in die Hände der Mächtigen legen, die es gut oder schlecht mit uns meinen können. Das spielt sich so in weiten Teilen der Welt ab, in harten und auch weichen Diktaturen. Und zu den weichen zähle ich mein eigenes Heimatland, eine weiche oder sanfte Diktatur, mit anderen Worten, eine kranke Demokratie, in der die meisten Menschen Objekt oder Untertan sind. Wie gesagt, so hatte ich mich zu Beginn des WOM-Projektes auf die Fahrt zur Seele des Menschen im Weserbergland gemacht. Und was ist dabei herausgekommen? Etwas, dass ich schon ahnte, aber jetzt in der Realität erfahren musste. Die Masse der erwachsenen Menschen ist mit Brot und Sicherheit vollauf zufrieden und gibt die Verantwortung an Politik und Wirtschaft ab. Junge Menschen, die noch den Traum des Ganzen Menschen träumen, d. h. des Menschen der neben Brot und Sicherheit auch nach Freiheit und Selbstbestimmung strebt, können dem Untertan- und Objekt-Schicksal entgehen, wenn sie dazu die äußeren Bedingungen vorfinden. Und zu diesen Bedingungen gehört eine freie, humanistische Erziehung, Experimentier-Möglichkeiten und ein ethischer gesellschaftlicher Rahmen, der die Liebe zum Menschen und zur Natur als oberste Leitziele erklärt.

                Meine liebe Regina, unsere beiden Wege haben sich gekreuzt, mussten sich kreuzen. Aber wir beide, in Liebe und Freiheit vereint, haben, abstrakt gesprochen, den Teufel im Menschen herausgefordert. Anders gesprochen: Wir haben die Mächtigen in ihrem Schloss herausgefordert, und wir haben in vielen erwachsenen Menschen die niedrigen Instinkte geweckt. Sie sinnen unsere Niederlage und sogar meinen Tod herbei. Wir beide haben die Gesetze des Status quo, des Weiterso, des Konservativismus, der Mediokrität und vor allem der Herrschaft von Menschen über Menschen missachtet und sollen dafür bestraft werden. Wir sind ausgebrochen aus dem Land, in dem sich doch angeblich so gut leben lässt und haben uns auf den Weg des Ganzen, des Einen, des Freien, des Gleichen und des Brüderlichen Menschen gemacht. Das kann tödliche Folgen haben, besonders für mich. Der RND weiß um die Drohungen gegen mich und hat mir freigestellt, jederzeit kündigen zu können. Ich weiß von den Kommentaren an die Redaktion, dass die Mächtigen in der Region und die Fremdenfeinde nur darauf warten, dass ich aufgebe. Ihr Kalkül ist, die Bürger-Emanzipations-Bewegung, die wir beide verantwortlich ins Leben gerufen haben, würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Auch wird mir von den Fremdenfeinden die deutsche Heimat abgesprochen. Wie ehemals die Juden, sei ich eine Auszustoßende, die hier nichts mehr verloren hat, weil ich einen fremden Namen und ein fremdartiges Gesicht mit mir herumtrage. Wie einst meine Eltern auswandern mussten, wird mir die Auswanderung empfohlen oder der Tod herbeigewünscht.

                Wir beide haben in den letzten Wochen darüber nicht sprechen können. Doch Du kannst Dir vorstellen, mit welcher Last ich jeden Tag aufstehe und mich zwingen muss, meiner Berufung zu folgen. Ja, es ist meine Berufung, es ist unsere Berufung, es ist die Berufung eines jeden Menschen, der noch Ideale und Prinzipien hat, für Liebe und Freiheit und Mehr Demokratie einzutreten, koste es, was es wolle. Ich werde den Herrschenden nicht kampflos aus dem Wege gehen. Und ich bin mir sicher, dass Du und jetzt so viele andere junge Menschen, Frauen und Männer ebenfalls meine Meinung teilen, für den Traum eines gerechten Menschseins zu kämpfen. Sollen die Mächtigen in ihren Palästen am großen Fressen ersticken und die Menschenfeinde sich in ihrem Wahn verzehren, die Liebe und die Freiheit werden über beide siegen. 

Liebe Regina, ich schenke Dir mein Herz und meine Seele. Es ist alles, was ich habe. Du musst wissen, dass Du immer in mir lebst, solange ich lebe,

Deine Jasmin

PS: Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich Dir diese Gedanken am Ende Deiner Sommer-Reise schicken sollte. Ich glaubte, sie könnten Dich auf der letzten Etappe des Wahlkampfes verunsichern. Aber ich möchte, dass Du sie als Stärkung empfindest. Du bist nicht allein. Wir kämpfen gemeinsam. J.

 

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Realität: Der unsichtbare Kandidat

 

Kaum gehe ich aus dem Haus, da lacht mich schon ein erstes Konterfei eines Direktkandidaten einer Bundestagspartei strahlend an. Die Busfahrt in die Stadt Hameln von meinem derzeitigen Domizil aus beschert mir weitere, teils riesige Plakate aller Bundestagsparteien und ihrer Direktkandidaten. Sie scheinen mich schier anzuschreien: „Du Bürger, merke Dir meinen Namen, merke Dir meine Partei, damit Du Dein Kreuzlein am Wahltag richtig setzt!“

                Soll sich im Unterbewusstsein des Bürgers festsetzen, dass nur Bundestagsparteien einen Platz im Parlament beanspruchen dürfen, dass nur sie fähig sind, die Geschicke der Bürgerinnen und Bürger während der nächsten vier Jahre durch unsichere politische Verhältnisse zu steuern? Jedenfalls erschlägt die allseits sichtbare Präsenz der Direktkandidaten der mit Millionen Steuergeldern gemästeten Bundestagsparteien den Bürger auf seinem Weg zur Arbeit, zum Einkauf und auf seinem Spaziergang. Er möge möglichst weder in Träumen noch Albträumen auf die Idee kommen, es gäbe neben diesen Parteien auch unabhängige Bürger-Kandidaten und Bürger-Parteien.

                Im Lichte dieser sichtbaren All-Gegenwärtigkeit des Parteienstaates fühle ich mich unsichtbar als parteiloser Kandidat. Wie soll ich dem Wähler sichtbar werden, wie meine Botschaft von Bürger-Emanzipation gegenüber Bundestags-Parteien-Herrschaft verbreiten können? 

                So haben sich die Verfasser des Grundgesetzes die deutsche Demokratie sicher nicht vorgestellt: durch und durch krank, von Demokratie kaum eine Spur, verkommen zu einem Parteienstaat, in dem sich der sogenannte mündige Bürger alle vier Jahre zur Bundestagswahl selbst entmündigt, wie auch jetzt wieder, 72 Jahre nach dem letzten großen Krieg und Beendigung des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte. Laut Grundgesetz sollte die deutsche Demokratie auf zwei Säulen gegründet sein: Auf freie Wahlen von politischen Parteien und Parteiunabhängigen sowie auf Volksabstimmungen. Dadurch sollte einer mündigen Bürgerschaft Souveränität und politische Freiheit verliehen werden, um ein Machtmonopol von Parteien in einem Parteienstaat zu verhindern und um Kontrolle über den Staat, in dessen Funktion als Diener der Bürgerschaft, ausüben zu können. Die Souveränitätsrolle des Bürgers sollte darüber hinaus durch die vierte Gewalt im Staate, die unabhängigen Medien, unterstützt werden.

                Doch eine derartige Souveränität des Bürgers gibt es de facto nicht und unabhängige Medien als vierte Gewalt bleiben eine schöne Illusion. So müssen etwaige parteilose Bürger-Kandidaten und kleine Bürger-Parteien unsichtbar bleiben. Das Motto gilt: „Es lebe der Parteienstaat und die Herrschaft seiner Bundestagsparteien!“

                Wie hat sich bisher für mich als parteiloser Bürger-Kandidat die heiße Phase des Wahlkampfes 2017 entwickelt? Bleibe ich für den Wähler unsichtbar? Sollte ich besser gleich vor der protzenden Bundestagsparteien-Macht die Segel streichen? Es ist, als ob ich die versteckte Drohung wahrnehme: „Du kleiner Bürger-Wicht, mach uns bloß keinen Strich durch unsere alle vier Jahre aufs Neue erfolgreiche Machtergreifung des Parlamentes! Wecke nicht den ängstlichen, ohnmächtigen, obrigkeitshörigen Bürger aus seiner satten Trägheit und fehlenden Zivilcourage! Er wird sich nie auf den Weg des Widerstandes gegen unsere Parteien-Herrschaft begeben. Vergiss das!“

                Ende Juli, Anfang August, nachdem meine Kandidatur als parteiloser Direktkandidat auf der Liste der Piraten, die mir zu Beginn des Unterstützer-Unterschriften-Sammelns beistanden, feststand, erfuhr ich von ersten Diskussions-Veranstaltungen mit Direktkandidaten der Bundestagsparteien. Bereits vor den Sommerferien gab es eine derartige Veranstaltung, einberufen von der Gleichstellungsbeauftragten des hiesigen Landkreises. Ich war nicht dazu eingeladen. Auf meinen Protest hin konnte ich dann doch an der öffentlichen Veranstaltung teilnehmen. Nun aber, in der beginnenden ‚heißen‘ Phase des Wahlkampfes gab es offensichtlich einen Konsens aller Veranstalter von Direktkandidaten-Wahlforen, den einzigen parteilosen Bürger-Kandidaten mit dem Slogan ‚Bürger-Macht statt Parteien-Macht‘, nämlich mich, von vornherein ‚unsichtbar‘ zu machen und von jeglichen öffentlichen Auftritten auszuschließen. Das schien umso leichter zu sein, als ich lediglich auf eigene äußerst bescheidene Mittel angewiesen bin und an Plakatieren nicht zu denken ist. Meine Ausgrenzung von gemeinsamen Wahlforen mit den anderen Direktkandidaten wurde von den jeweiligen Veranstaltern generell damit begründet, ich sei ein Direktkandidat einer Partei, die eh nicht die Chance hat, die 5%-Hürde zum Bundestag zu überspringen. Auf meinen Einwand hin, was das denn für ein Demokratie-Verständnis sei, und dazu angesichts einer allgemeinen Politikmüdigkeit und Fehlens humanistischer Alternativen zu den Weiterso-Parteien und der AfD,  wurde mir regelmäßig geantwortet, aus technischen Gründen sei eine Teilnahme von mehr als sechs Teilnehmern, nämlich Direktkandidaten der derzeitigen Bundestags-Parteien sowie derjenigen der FDP und der AfD, leider nicht möglich. Eine solche Antwort schmerzt umso mehr, als diese Antwort auch von einem Bündnis unabhängiger Nichtregierungsorganisationen gegeben wurde, die sonst lauthals das Fehlen von Alternativen zu den Bundestags-Parteien beklagen. Ich kann das nur als vorauseilenden Gehorsam gegenüber den Bundestagsparteien erklären, die den seit 1949 errichteten Parteienstaat ein für alle Mal zementieren wollen, und die ein erdrückendes Obrigkeits-Gehorsams-Netz über die deutsche Zivilgesellschaft ausgeworfen haben, das nicht zerrissen werden darf. Inzwischen haben diese Organisationen auf mein Insistieren hin mir wenigstens die Möglichkeit eines kurzen Auftritts gewährt. Auch zu einer öffentlichen Dorf-Veranstaltung wurde ich eingeladen. Allerdings werden in der Berichterstattung nur einige weniger wichtige politische Ziele von mir erwähnt, nicht aber das grundlegende Ziel einer Abschaffung des deutschen Parteienstaates zugunsten einer bürgerbestimmten Republik.

                Mein Einspruch gegen das Unsichtbar-Machen meiner Direktkandidatur durch die lokale Presse hatte überraschenderweise einigen Erfolg. Es wurde mir Unparteilichkeit und Berichterstattung zugesichert. Selbst zum zentralen Schluss-Wahlforum mit den Direktkandidaten veranstaltet durch lokale Presse und Radio wurde mir Teilnahme zugesichert. Außerdem haben mich nach und nach alle Presseorgane im Wahlkreis zu Interviews eingeladen. Könnte es gelingen, in der Endphase des Wahlkampfes doch noch sichtbar für den Wähler zu werden?  Am Wahltag wird man mehr darüber wissen.      

                Was habe ich gegen die Unsichtbarkeit meiner Bürger-Kandidatur getan? Anfang August wurde mein Wahl-Flyer mit Hilfe von Freunden erstellt. Zum 10. August veranstaltete ich eine erste Wahlveranstaltung im „Kornhus“ in Bad Münder. Leider war der Flyer erst eineinhalb Tage vorher verfügbar. 1.400 Flyer konnten bis zur Veranstaltung, an der knapp zwanzig Wählerinnen und Wähler teilnahmen, verteilt werden. Ein Journalist war anwesend und berichtete. Insgesamt war ich über die Resonanz einigermaßen enttäuscht, vor allem auch, da es mir schwierig scheint, ein Bürgerforum zu gründen, das nach der Wahl beginnt, der Bürger-Emanzipation mit konkreten politischen Forderungen Ausdruck zu verleihen.

                Am 18. August sollte eine andere Wahlveranstaltung von mir in Hessisch Oldendorf stattfinden. An vier Tagen gelang es mir vorher, etwa 1.500 Flyer zu verteilen. Ergebnis: Totaler Reinfall. Außer Freunden kamen keine Wählerinnen und Wähler. Ob das dem regnerischen Wetter während des ganzen Tages zu verdanken war oder aber dem totalen Desinteresse des Bürgers in der Stadt sei dahingestellt. Die Reaktionen der Menschen, die ich auf der Straße während des Verteilens ansprach, waren insgesamt positiv. Man wünschte mir Erfolg, jedoch klang immer wieder das Ohnmachtsgefühl gegenüber dem Parteienstaat durch: „Gegen die da oben können Sie nichts machen. Die machen mit uns Bürgern, was sie wollen.“  Diese Mutlosigkeit des Bürgers zieht sich wie ein roter Faden durch alle Begegnungen mit Menschen während meines bisherigen Wahlkampfes.

                Für den 25. August hatte ich eine Veranstaltung in Coppenbrügge geplant, die ich jedoch wegen der bisherigen dürftigen Resonanz der Wählerinnen und Wähler abgeblasen habe. Was bleibt mir bis zum Wahltag, um die Unsichtbarkeit meiner Kandidatur aufzuheben? Ich müsste meinen Flyer wenigstens in einer Stückzahl verteilen, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung des Wahlkreises von mir überhaupt erführe. Das ist ein nahezu aussichtsloses Unterfangen. Ich habe einfach nicht die finanziellen Mittel, um das auf die Beine zu stellen. Großzügige Steuergelder und Spenden aus der Wirtschaft stehen mir als Bürger-Kandidat nicht zur Verfügung. Ich will sie auch nicht. Viele kleine Bürger-Spenden wären mir dagegen willkommen. Doch die würden vom Spender die Absicht voraussetzen, die Untertanen-Rolle gegen die Subjekt-Rolle einzutauschen. Bei der Wahl zum Bundestag bin ich als Person unwichtig, wichtig jedoch in der Rolle eines Hebels zur Bürger-Emanzipation. Mein vorgestelltes politisches Programm ist auch nicht als Angebot der Politik an den Bürger zu verstehen wie bei den Direktkandidaten der Bundestagsparteien, sondern soll Ausgangspunkt sein für die Diskussion über die bewusste Nachfrage des Bürgers nach der Art und Weise der Umstände und Perspektiven seines Lebens. Was werden die letzten vier Wochen bis zur Wahl bringen?

 

(Ende August 2017)