13 Nov 2018

Die kranke deutsche Demokratie

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie - 22. Folge

Politischer Mord im Weserbergland

 

Realität: Bürger-Phobie oder die panische Angst der Bundestagsparteien vor dem „mündigen“ Bürger

Fiktion: Wahlkampf-Endspurt

 

Foto: Wikimedia Commons, Hefe Hof mit Veranstaltungssaal "Lalu", Autor: Axel Hindemith

_ _ _

                13. September. Der Zuschauerraum im „Lalu“, einem Veranstaltungssaal in Hameln, fasst schätzungsweise bis zu 150 Besucher. Zu der von den Wirtschaftsjunioren veranstalteten Kandidatenbefragung  „10 Minuten Politik“ (10 Minuten insgesamt für jeden Kandidaten) war ich nachträglich eingeladen worden. Wieder einmal musste ich gegen meinen Ausschluss aus einer öffentlichen Veranstaltung protestieren. Mir wurde ein Platz im Publikum gestattet, um am Ende des Wahlchecks der anderen Direktkandidaten auch ein Wort zu meinen politischen Vorstellungen äußern zu können. Die Direktkandidaten der „staatstragenden“ und der „Über-5%-Parteien“ nahmen dagegen auf der erleuchteten Bühne vor Cocktailtischen Aufstellung. Erstwähler, d. h. Schüler und Lehrlinge, sollten Gelegenheit bekommen, sich ein Bild der Kandidaten und der hinter ihnen stehenden Parteien zu machen. Auf ihren Smartphones sollten sie die Beiträge der Kandidaten bewerten.

                Ziemlich weit vorn vor der Bühne sitzend, neben mir die jungen Menschen, ließ ich mir diese herabwürdigende Behandlung durch die Veranstalter geduldig gefallen. Der Schüler an meiner Seite flüsterte mir zu: „Sie sollten statt des AfD-Kandidaten auf der Bühne Rede und Antwort stehen.“ Als die Kandidaten die Programme ihrer Parteien recht und schlecht verteidigt und die Jungwähler ihre Bewertungen vergeben hatten, stieg ich auf die Bühne und schnappte mir das Mikrofon. Mit ein paar Sätzen erklärte ich meine parteilose Kandidatur und schlug den Erstwählern vor, bei der nächsten Wahl die Polit-Kandidaten mit von den jungen Wählern selbst ausgearbeiteten Forderungen zu konfrontieren anstatt passiv das Angebot der etablierten Parteien entgegenzunehmen. Die Zeit für Bürger-Emanzipation müsse endlich anbrechen.

                Ich hatte nicht einmal zwei Minuten gesprochen, da wurde mir das Mikrofon abgedreht. Mein Beitrag war offensichtlich zu viel des Guten an Demokratie. Unverzüglich und maßlos frustriert machte ich mich auf den Heimweg. Ich hatte das demütigende Procedere der Veranstaltung nur auf mich genommen, um mich wenigstens einmal an junge Wähler wenden zu können. Das Albert Einstein Gymnasium in Hameln hatte mich schon vorher nicht zur öffentlichen Diskussion eingeladen. Und die Nichtregierungsorganisationen, unter ihnen auch ein Leistungskurs des Schiller-Gymnasiums, auf dem ich einst mein Abitur machte, reservierten mir nur einen fünfminütigen Beitrag am Katzentisch, während sich die übrigen Kandidaten in der ausführlichen Verteidigung ihrer jeweiligen Parteiprogramme gefielen.

                Der nächtliche Fußmarsch nach Hause brachte mir erneut die Aussichtslosigkeit der Einforderung von direkter Demokratie in Deutschland ins Bewusstsein. Die Kandidatenkonterfeis und Wahlslogans der „Altparteien“ und der AfD, die ich unterwegs passierte, schienen mich im Lichte der Straßenlaternen geradezu zu verhöhnen: „Du unverbesserlicher Idealist, der als parteiloser Direktkandidat keinerlei staatliche- wie private Mittel besitzt, um sich auf Straßen und Plätzen im Wahlkreis sichtbar zu präsentieren, was predigst Du nur gegen unsere politische Monopolmacht? Der Bürger will nicht Souverän im Staate sein. Begreif das endlich! Auch auf öffentlichen Wahlforen der gesellschaftlichen Interessengruppen wie DGB, IHK, Bauernverband, Nichtregierungsorganisationen und auch öffentlichen Schulen existiert Demokratie nur in Form von Bundestagsparteien-Macht. Dort hast Du nichts zu suchen. Wer es wagt, Bürger-Emanzipation und direkte Demokratie ins Spiel zu bringen, wird vom öffentlichen Diskurs rigoros ausgeblendet. Wir etablierten Staatsparteien leiden allesamt unter ‚Bürger-Phobie‘. Der ‚Mündige Bürger‘ ist und wird auch in Zukunft lediglich als Schimäre die Sonntagsreden der etablierten Parteien schmücken.“                  

                17.  September. Der Wahlkampf neigt sich dem Ende zu. Meine letzten 5.000 Flyer landeten vor zwei Tagen per City Post vor allem in Briefkästen von Hamelner Nachbarschaften, in denen der Niedriglohnsektor zu Hause ist. Vorher hatte ich selbst etwa 5.000 Flyer verteilt; ein paar Hundert wurden auch von Freunden unter die Leute gebracht. Von den insgesamt 13.000 Flyern, die etwa 20% der Haushalte des Wahlkreises erreichten, war die Hälfte absichtlich an die ärmeren Familien in öffentlich geförderten Sozialwohnungen verteilt worden, die andere Hälfte in Ein- oder Zweifamilienhäusern der Mittel- bzw. der gehobenen Mittelschicht. Ich wollte nach der Wahl wissen, welche Bevölkerungsschichten mich gewählt haben und mit meinen Programmpunkten von Bürger-Macht und Sozialer Gerechtigkeit zumindest sympathisierten.

                Etwa 2.000 Euro an eigenen Ersparnissen hat mich die Kampagne gekostet. 500 Euro wurden mir von Freunden gespendet. Mein eigener Arbeitsaufwand und Lebensunterhalt von sechs Monaten kostete monatlich etwa 900 Euro. Alles in allem hat meine Kampagne 5.600 Euro an Eigenmitteln und 500 an Spenden gekostet. Hat ein unabhängiger „Normalbürger“ unter diesen materiellen Bedingungen überhaupt eine Chance, an einem sogenannten demokratischen Wahlkampf erfolgreich teilzunehmen? Auch wenn er/sie ein überzeugendes  Programm im besten Bürger-Sinn auf die Beine gestellt hat? Oder zerquetscht der Parteienstaat mit seinen Steuermillionen und den dahinter stehenden Interessengruppen und Seilschaften jegliches Aufflackern von Bürger-Emanzipation? Und das in einer satten, doch ängstlichen und obrigkeitshörigen Gesellschaft, die sich seit Jahrzehnten unter der Herrschaft von wirtschaftlichen und politischen Oligarchien duckt, so dass sie gar nicht mehr in Kategorien von politischer Freiheit und Humanismus zu denken vermag?

                Nur noch eine Woche, dann werden wir wissen, wie der Bürger entschieden hat, in Deutschland und in meinem ländlich geprägten Wahlkreis Hameln-Pyrmont/Holzminden. Seit Beginn der „heißen“ Phase des Wahlkampfes nach den Sommerferien habe ich mich damit abgefunden, keinen Blumenpott als parteiloser Bürgerkandidat gewinnen zu können. Freunde hatten mich gewarnt, überhaupt das Abenteuer eines Wahlkampfes auf mich zu nehmen. Deutschland sei nicht reif für eine Bürger-Emanzipation in diesem seit beinahe 70 Jahren eisern etablierten Parteienstaat, der seine Herrschaft vor allem gegenüber zwei Bürger-Herausforderungen mit Bravour bestanden hat: der Studentenrevolte der „68er-Generation“ und der Bürgerrechtsbewegung 1989 in der ehemaligen DDR, die schließlich die deutsche Wiedervereinigung zur Folge hatte. Der Traum von einer freien Bürgerrepublik von seinen Anfängen an im deutschen Bauernkrieg zur Zeit der Reformation, über die Zeit der Aufklärung hinweg, der Französischen Revolution, des Vormärz‘, der Frankfurter Nationalversammlung, der Weimarer Republik, der UN-Charta der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg und schließlich der Gründung der Bundesrepublik mit seinem Verfassungs-Versprechen einer Volkssouveränität, dieser Traum wurde und wird immer wieder mit Füssen getreten und das in dem Masse, dass selbst der Bürger wahre politische Freiheit und direkte Demokratie gar nicht mehr begehrt, sich diese  gedanklich gar nicht mehr vorstellen kann, geschweige denn erträumen kann. So sehr hat das wirtschaftliche und politische Establishment mit der Kanzlerin an der Spitze die Gehirne der Masse der Menschen vernebelt, dass tatsächlich die Bundesrepublik heute vom Bürger als die beste aller Welten, als das Nonplusultra der deutschen Geschichte wahrgenommen wird. Selbst wenn sich der Bürger real in unwürdiger Untertanen-Rolle befindet, und selbst wenn er sich real in Armut befindet, so identifiziert er sich mehrheitlich mit dem gesellschaftlichen Status quo. Noch hat er zu essen, noch hat er Frieden, auch wenn es rings um ihn herum bereits zu knallen beginnt. Bisher sind es nur die Nationalisten und die Menschenfeinde, die gegen den Parteienstaat aufbegehren, die „Verrat an Deutschland und am Abendland“ brüllen. Aber wie lange werden sie eine Minderheit sein?

(18. September 2017)

- - -

Fiktion: Wahlkampf-Endspurt

Die letzte Woche vor der Wahl brach an. Noch einmal buhlten Bundestagsparteien und Neue Rechte was das Zeug hielt um die Gunst der Wählerinnen und Wähler im Weserbergland. Noch einmal flatterten glänzende Flyer in die Briefkästen aller Haushalte und die lokalen Medien luden zu Wahlforen ein, in denen die Kandidaten der Bundestagsparteien und der Neuen Rechten brillieren konnten, ganz nach dem Geschmack ihrer Klientel. Da diese Wahlforen in geschlossenen Räumen mit begrenztem Auditorium stattfanden, sollte ihr Echo durch Radio und Presse im gesamten Wahlkreis widerhallen. Wie der Sozi-Kandidat in Anlehnung an den geschätzten Alt-Kanzler (Schröder im Oktober 2000: „Aufstand der Anständigen“) betonte, sollten jetzt fünf Minuten vor Zwölf endlich die ‚Anständigen‘ im Weserbergland den Aufstand proben, sich auf ihre Verantwortung besinnen und sich aus ihrem bisherigen Schweigen aufmachen, um der Bürger-Bewegung an der Wahlurne massiv die Stirn zu bieten. Das ließen sich die Unterstützer der Bürger-Bewegung so nicht bieten, und schon kurz darauf veröffentlichte einer von ihnen die nachstehende Antwort im WOM, die die heiße Phase des Wahlkampfes noch einmal so richtig zum Kochen brachte: 

Vom Wesen des ANSTÄNDIGEN und des UNANSTÄNDIGEN Deutschen

Was ist das Wesen des ANSTÄNDIGEN Deutschen

Deutsche, Deutscher, warum hast Du Angst?

Ist es die Angst vor dem Tod?

Die Angst vor Krankheit und Not?

Die Angst vor Naturgewalten?

Die Angst vor dunklen Gestalten,

die Dich in düst‘ren Träumen überrollen

und mit Dir machen, was sie wollen? 

Arme, Armer, wovor hast Du Angst?

Ist es die Angst vor dem Vorgesetzten,

dem hilflos Du ausgesetzt bist?

Ist es die Angst vor der Arbeit,

der Du nicht gewachsen bist?

Ist es die Angst vor Armut im Alter

und Angst, ein Versager zu sein

inmitten von Tüchtigen?

Deutsche, Deutscher, warum fühlst Du Ohnmacht?

Warum bist Du schwach?

Warum hast Du zum Widerstand keine Kraft.

Sind es die da Oben im Elfenbein-Turm,

die Dich behandeln wie einen Wurm,

Dich mal treten, mal verlachen,

und entsorgen, wenn Leistung fehlt? 

Was ist Deine größte Tugend?

Gehorsam, und noch mal Gehorsam.

Hören auf Obrigkeit zu jeder Zeit,

hören auf Bürokraten,

einreihen in den Kreis der Partei-Soldaten.

So geht’s Dir gut.

So lebst Du gern

trotz Angst und Ohnmacht

auf Deutschlands Obrigkeits-Stern.

Das ist das Wesen des ANSTÄNDIGEN Deutschen. 

Doch was ist das Wesen des UNANSTÄNDIGEN Deutschen?

Er hat zwar Angst vor Leid und Tod,

vor Katastrophen und Hungersnot.

Aber er weiß der Angst zu begegnen,

mit Courage, Herz und Verstand,

und vor allem mit der Schwester und dem Bruder an der Hand.

Ohnmacht kennt er nicht,

kennt kein Unten und kein Oben,

auch wenn Mächtige noch so toben. 

Obrigkeit existiert für ihn nicht.

Regeln kennt er schon,

doch achtet er sie nur,

wenn sie nützlich

und für Alle gültig sind.

Das ist der UNANSTÄNDIGE Deutsche,

vor dem die Mächtigen erzittern bei allen Wahlen

und bibbern und leiden Höllenqualen. 

Ich will ein UNANSTÄNDIGER Deutscher sein,

auf dass mein Herz soll bleiben rein.

- - -

Die Bürger-Bewegung mit Regina an der Spitze konzentrierte sich in dieser letzten Woche auf zwei abschließende Großveranstaltungen: am Sonntag vor der Wahl in Holzminden und am Freitag, zwei Tage vor der Wahl in Hameln. Im Kreis Holzminden, in Uslar und Bodenfelde organisierten die Bürger-Komitees Busse nach Holzminden. Der Marktplatz war zum Bersten mit Bürgerinnen und Bürgern besetzt, die selbstgebastelte Parolen und Wahlziele vor sich hertrugen. Selbst in angrenzenden Straßen und vor der Kirche war das Gedränge der Menschen zu einem einzigen fröhlichen Wahlfest angewachsen, um ihrer Bürgerin zum Wahlsieg zu verhelfen und ihr die Wünsche der Menschen aus diesem Teil des Weserberglandes mit auf den Weg zu geben. Sechs bis sieben Tausend waren herbeigeströmt. So etwas hatte die Stadt noch nicht erlebt. Die Bürger-Komitees und Arbeitsgemeinschaften gaben Statements über ihre diskutierten Wahlziele ab.

                Regina versprach allen Anwesenden abschließend: „Sollte ich dank Eurer Unterstützung gewählt werden, so nehme ich Eure Wünsche und Sehnsüchte mit nach Berlin. Gemeinsam werden wir Bürger-Luft in den Bundestag einziehen lassen und das Machtmonopol der Parteien zugunsten von Bürger-Macht brechen. Der Bundestag gehört in die Hände der Bürgerinnen und Bürger im Land, ebenso wie der Staat vom Bürger kontrolliert gehört. Das ist das Versprechen der Gründungsväter des Grundgesetzes an das deutsche Volk. All die 68 Jahre seit Gründung der Bundesrepublik haben die Bundestagsparteien das Volk in Unmündigkeit gehalten und ihm die Souveränität verweigert. Unsere heutige Demokratie ist durch und durch krank, doch die Bundestagsparteien wollen uns Bürgerinnen und Bürgern immer wieder weismachen, wir lebten nicht nur in der beste aller Welten, wie Leibniz einmal sagte, sondern wir hätten auch die bestmögliche Form von Demokratie. Volks-Souveränität stünde zwar im Grundgesetz, aber Parteien-Souveränität meinten die Väter des Grundgesetzes wirklich. Sie hätten sich in der Wortwahl vertan, und das sei menschlich. Dem widersprechen wir und begeben uns gemeinsam auf den Marsch, diese kranke deutsche Demokratie zu heilen. Das geht aber nur, wenn wir eine kraftvolle Bürger-Emanzipations-Bewegung in die Wege leiten. So, wie das 20te Jahrhundert das Jahrhundert der Frauen-Emanzipation war, so soll das 21te Jahrhundert das Jahrhundert der Bürger-Emanzipation werden. Auch wenn ich zu Beginn nur ein einsamer Rufer im Parlament sein sollte, so wird mich Eure mächtige Stimme auf den Straßen und Plätzen des Weserberglandes und der Republik begleiten. Der Bürger ist dann mächtig, wenn er sich auf den Mitbürger verlassen kann. Der Bürger ist dann ‚mündig‘, wenn er sich von Polit- und Wirtschafts-Eliten und der Bevormundung durch die Mainstreammedien emanzipiert. Ade Parteienstaat! Auf zur Freiheit und Menschlichkeit! Auf zur Bürger-Republik!“ 

                Die Veranstaltung von Holzminden war ein riesiger Erfolg für Regina und die Bürger-Bewegung. Nicht nur wurde die Kundgebung im WOM von Hunderten kommentiert und von Tausenden gelesen, vor allem die Mundpropaganda durch die Teilnehmer erreichte alle Wählerinnen und Wähler im südlichen Teil des Wahlkreises. Die etablierten lokalen Medien gaben kurze Notizen heraus und zitierten die Polizei, die die Veranstaltung auf einige hundert Teilnehmer schätzte.   

                Rainer und Fritz hatten sich unauffällig unter die Menschenmenge gemischt, um nach Jasmin Ausschau zu halten. Schon seit zwei Tagen war von ihr keinerlei Lebenszeichen im WOM erschienen. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt. Das WOM war ihr ‚Zuhause‘,  doch dort war sie nicht anzutreffen. Die beiden Verschwörer erkundigten sich scheinheilig bei einigen jungen Leuten, die offensichtlich im WOM ebenfalls zuhause waren, ob Jasmin über diese Veranstaltung einen Leitartikel auf der Online-Plattform veröffentlichen würde. Sie wären Bewunderer von Jasmin und fänden ihre Artikel immer überaus treffend. Übereinstimmend meinten die Jugendlichen, sie sollten nur ein wenig Geduld haben. Dann würden sie wissen, ob es einen Leitartikel von Jasmin geben würde oder nicht. Leitartikel hin oder her, auf der Holzmindener Veranstaltung waren so viele Bürger-Journalisten anwesend, die die Veranstaltung beschrieben und kommentierten, dass es gar keines Leitartikels mehr brauchte, um Reginas Kandidatur und die Bürger-Bewegung insgesamt ins rechte Licht zu rücken.

- - -