13 Nov 2018

Die kranke deutsche Demokratie

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie – 23. Folge

Politischer Mord im Weserbergland

 

Fiktion: Jasmins Ermordung

 

 

Foto: Wikimedia Commons, Weser-Faehre in Grossenwieden bei Hess. Oldendorf, Autor: Axel Hindemith

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                Reginas Abschlusskundgebung im Hamelner Bürgergarten zwei Tage vor dem Wahltag war das I-Tüpfelchen ihrer Wahlkampagne als Bürger-Kandidatin und als Mit-Initiatorin einer Bürger-Emanzipations-Bewegung im Weserbergland. Eigentlicher Protagonist dieser einmaligen Bewegung in der Region war das ‚Weserbergland-Online-Magazin‘ mit seiner verantwortlichen Redakteurin, die jedoch seit einer Woche von der Bildfläche verschwunden war. An diesem Freitagnachmittag vor der Wahl war die Rattenfängerstadt aus dem Häuschen. Seit dem Mittag kamen aus dem ganzen Landkreis Hameln-Pyrmont Unterstützer von Regina nach Hameln, mit Fahrrädern, mit Zug, mit Bussen und mit eigenem Fahrzeug. Es hatte den Anschein, als wären die Ängste, unter denen der deutsche Bürger chronisch zu leiden scheint, mit einem Mal verflogen, als hätte der Bürger buchstäblich Flügel bekommen, um aus dem Parteienstaat der Bürger-Republik entgegen zu fliegen. Weit mehr als zehntausend Menschen wollten Regina förmlich auf ihren Schultern nach Berlin tragen, beladen mit politischen Zielen wie Grundeinkommen, direkte Demokratie,  Flüchtlings- und Friedens-Politik mit menschlichem Antlitz und Umweltpolitik mit Liebe zu kommenden Generationen. „Der Parteien-Staat gehört auf den Misthaufen der Geschichte. Die Zeit der Bürger-Republik ist angebrochen! Politische Freiheit und Liebe unter den Menschen sollen unsere Bürger-Politik im Bundestag charakterisieren! Gemeinsam auf nach Berlin!“ Das waren Reginas letzte Worte, die durch ein tausendstimmiges, begeistertes „Auf nach Berlin! Regina in den Bundestag!“ beantwortet wurden. Erst in den frühen Morgenstunden verließen die letzten Kundgebungsteilnehmer die Hamelner Altstadt. Für den Wahlabend hatten die Bürger-Komitees dezentrale Veranstaltungen in ihren Heimat-Gemeinden geplant. In jeder Gemeinde wurden die Sympathisanten der Bürger-Bewegung eingeladen, auf einem zentralen Platz das Ergebnis für ihre Direktkandidatin zu feiern und Videos von den Versammlungen in das WOM einzuspielen. Regina und die Verantwortlichen der Bürger-Komitees hatten vor, laufend über den Stand der Auszählung in ihrer jeweiligen Gemeinde zu berichten. Vertreter der Bürger-Komitees wären auch in allen Wahlbüros anwesend, um mögliche Wahlfälschungen auszuschließen. Das WOM sollte ein einziger großer Marktplatz sein, auf dem die Bürgerinnen und Bürger des Weserberglandes zu Wort kommen sollten. Selbstverständlich seien auch die Vertreter der Parteien eingeladen, am großen Demokratiefest teilzunehmen. Für den Tag nach der Wahl hatte Regina vor, gemeinsam mit den Verantwortlichen der Bürger-Bewegung ein Kommuniqué herauszugeben. Sollte die Wahl für Regina und die Bewegung positiv ausgehen, sei ein erstes gemeinsames Treffen aller Komitees noch in der ersten Woche nach der Wahl in Hameln vorgesehen.

                Jasmin hatte auf Anraten von Helmut, Ralf und der zuständigen Direktorin im RND ihre Arbeit am WOM-Projekt zehn Tage vor der Wahl eingestellt. Die anonymen Morddrohungen gegen sie waren in einer Form abgefasst, die keine Zweifel mehr an tatsächlicher Tötungsabsicht ließen. Der RND und auch das IPB schätzten die Situation folgendermaßen ein: Dem WOM war es gelungen, massenhaft Menschen für Politik zu interessieren und sie zu ermuntern, am demokratischen Meinungsbildungsprozess aktiv teilzunehmen. Diese aktive Teilnahme ging jedoch in eine Richtung, die niemand vorhergesehen hatte, nämlich in eine emanzipatorische Richtung gegenüber dem etablierten Parteienstaat. Aus Umfragen wusste man, dass vor allem junge Menschen der Politik und den Medien misstrauten. Das WOM-Projekt war gerade auf die Beine gestellt, um dieses Misstrauen abzubauen. Aber anstatt sich den herrschenden Parteien zuzuwenden, führte das geweckte Interesse vieler Jugendlicher zur Entstehung einer unabhängigen Bürger-Bewegung, die in der parteilosen Kandidatin ihre Exponentin fand. Im Wahljahr musste das zur direkten Konfrontation mit den Bundestagsparteien und auch der Neuen Rechten führen. Beide politischen Richtungen sahen in Jasmin offensichtlich die Urheberin dieser Bürger-Emanzipations-Bewegung und mussten ein Interesse daran haben, dass Jasmin die weitere Arbeit am WOM-Projekt einstellte. Doch Morddrohungen konnte man sich nur aus der extremen rechten Ecke vorstellen, wenn auch das politische und wirtschaftliche Establishment keinesfalls an einer neuen Bürger-Bewegung analog zur 68er- oder der Bürgerrechts-Bewegung von 1989 Interesse hatten.

                Die Direktorin und Helmut rieten Jasmin, das Weserbergland umgehend zu verlassen. Sie würde ihre Bezüge selbstverständlich bis einschließlich Jahresende, wie im Vertrag vorgesehen, bekommen. Jasmin beriet sich mit Regina, was zu tun sei. Jasmin wollte unbedingt bis zur Wahlnacht, bis zum Wahlergebnis in direktem Kontakt mit Regina stehen, was notwendigerweise verheimlicht werden musste. Eine Freundin von Regina, die im Bürger-Komitee von Eschershausen engagiert war, erklärte sich bereit, dass sich Jasmin und Regina bei ihr heimlich treffen konnten. Das könnte immer nur für kurze Zeit geschehen und beide, Regina wie Jasmin, müssten ihre Autos wechseln. Regina bekam von Freunden der Bewegung ein Auto geliehen und Jasmin lieh sich ein neues kleines Auto aus. Bis zur Holzmindener Veranstaltung eine Woche vor der Wahl hatte sich Jasmin in dem Gasthaus ‚Ziegenbuche‘ am Deisterhang in Bad Münder einquartiert, das sie schon gut kannte, und wo sie in Ruhe ihre Erfahrungen, die sie mit dem WOM-Projekt gemacht hatte, auswerten konnte. Die günstige Lage direkt am Waldrand erlaubte es ihr auch, ihr morgendliches Jogging im Deister, vor allem im langen Grund, in vollen Zügen zu genießen.

                Am Abend der Holzmindener Kundgebung, fand Jasmin unter den Eingängen an die Redaktion des WOM eine besonders angsteinflößende Morddrohung gegen sich: „Glaube nicht, Du könntest Deinem Schicksal entrinnen. Wir werden Dich finden und kurzen Prozess mit Dir machen. In unserer Heimat gibt es keinen Platz für Dich!“ 

                Jasmin hatte schon viele Drohungen gegen sie gelesen und sie immer wieder beiseitegeschoben. Helmut und Ralf hatten recht, sie müsste schnellstens verschwinden. Aber warum versetzte gerade diese Morddrohung Jasmin in Todesangst. War es das Wort Schicksal? Sollte etwa ihr Schicksal ein früher Tod sein, ausgeführt von wahnsinnigen Menschenfeinden und Rassisten? Sie saß am Fenster ihres wohnlich eingerichteten Zimmers in der ‚Ziegenbuche‘ und sah in der Dämmerung hinunter zur Stadt Bad Münder, wo die Kirchturmspitze einen letzten Sonnenstrahl abfing. Der Süntelturm auf dem sich dunkel abzeichnenden Kamm des gegenüberliegenden Höhenzuges war schon nicht mehr zu erkennen. Sie musste an Regina denken, die längst ihre Kundgebung in Holzminden beendet hatte, und an Chris und an Pierre. Letzterer hatte auch unter rassistischer Hetze zu leiden. Was war bloß in die Deutschen gefahren? Erst zwei Jahre war es her, seit Kanzlerin Merkel den unheilbringenden Beschluss der offenen Grenzen verordnet hatte. Aus heiterem Himmel heraus. Warum war die Flüchtlingsproblematik nicht seit Jahren auf der Tagesordnung der EU und Deutschlands? Dann hätte es womöglich diese spontane fremdenfeindliche Bewegung im Lande nicht in dieser Form gegeben? Und warum wurden Bürgerinnen und Bürger nicht um ihre Meinung gefragt und Flüchtlinge dort untergebracht, wo die Menschen das ausdrücklich befürworteten? Wie dem auch sei. Jasmin müsste sich den Morddrohungen stellen. Der erste Schritt mit der Beendigung ihrer Tätigkeit beim WOM war getan. Jetzt hatte sie nur noch eine Woche bis zur Wahlnacht zu überstehen. Doch immer wieder beunruhigte sie das Wort Schicksal in der Morddrohung. Was war denn ihr Schicksal, jetzt, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen anderen Menschen aus ganzem Herzen liebte und auch ihre eigene kleine Familie gefunden hatte? Jetzt, wo sie erfolgreich eine Bürger-Emanzipations-Bewegung mit in die Wege geleitet hatte. Jetzt, wo ihre Träume konkrete Wirklichkeit zu werden schienen. Jasmin konnte nicht anders, als ihre aufkommenden Gedanken unmittelbar in Worte zu fassen, nieder zu schreiben und an Regina zu mailen:

Fragen und Antworten

Warum wurde ich ins Leben geworfen?

Ich wurde nicht darum gefragt.

Wer hat mein Wesen entworfen,

wer meinen Körper geformt,

wer meine Lebensziele genormt?

 

Ich weiß es nicht.

Weiß nur, dass ich so bin

und jeden Tag aufs Neue

nichts bereue

und mich am Leben freue.

 

Warum bin ich Dir begegnet?

Ist das Zufall, ist das Schicksal?

Ist es die Liebe, die uns eint?

Ist es Dein Wesen, das mir anziehend scheint,

ist es Dein Körper, der Schönheit strahlt,

Dein Kampf um Freiheit, den ich mag?

 

Ich weiß es nicht.

Weiß nur, dass ich Dich lieb‘,

bedingungslos,

hinaus über den Tod.

Wir teilen Freiheit und Liebe,

das ist Antwort genug auf unsere Fragen,

warum wir sind.

 

Solltest Du eines Tages ohne mich sein,

schau nur zum freien Vogel hinauf.

Der Vogel, der zu Dir fliegt,

über Berge und Täler,

über Wälder und Felder,

bringt Dir mein Herz und meine Seele.

Dann wirst Du wissen, dass ich es bin,

die immer Dir beisteht, die immer Dich liebt.

Deine Jasmin

 

                Für die letzte Woche bis einschließlich Wahlnacht hatte sie ein kleines Zimmer am Ortsausgang von Grossenwieden gemietet,  am äußersten nördlichen Zipfel des Wahlkreises, was ihr erlaubte, Regina nach der letzten Großveranstaltung in Hameln zu treffen. Niemand würde auf die Idee kommen, dass sie sich hier versteckt hielt. In Grossenwieden gab es exzellente Bedingungen zur sportlichen Betätigung in früher Morgenstunde. Das Laufen auf den Wegen durch die Felder bis an die Bahnschienen und dann weiter an den Fischteichen entlang war wie geschaffen, um Kraft für den ganzen Tag zu schöpfen. Am Wahlabend hatte sie geplant, Regina spät abends in Eschershausen zu treffen, um dann hoffentlich mit ihr zur erfolgreichen Wahl anzustoßen. Noch in der Nacht ginge es dann zurück nach Grossenwieden. Danach galt es nur noch, den Leihwagen zu übergeben und mit dem Zug nach Berlin zu ihren Eltern zu fahren. Von dort aus würde sich die Kommunikation mit Regina erst einmal auf Internet und Telefon beschränken. Jasmin glaubte, sie hätte beste Vorsorge getroffen, um unerkannt die letzten Tage im Weserbergland wenigstens für ein paar Stunden mit ihrer großen Liebe verbringen zu können. Wenn beide Frauen eine vom Weserbergland ausgehende Bürger-Emanzipations-Bewegung anstoßen würden, wäre das die Erfüllung eines Lebenstraums, den sie mit Regina teilte.                      

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Am Mittwoch vor der Wahl gegen Mittag schrieb Otto aufgeregt eine eilige Mail an Rainer und Fritz: „Ihr beiden, seit fast einer Woche haben wir nichts von Jasmin im WOM gehört. Nun stellt Euch vor, die ist in Grossenwieden bis einschließlich Montag früh in einem Einfamilienhaus mit Zimmervermietung einquartiert. Das Haus liegt am Ende des Dorfes in Richtung Kleinenwieden. Gestern traf meine Mutter die Hauswirtin, die ihr die Nachricht überbrachte. Jasmin ist bereits seit Montag hier, kommt aber nur nachts zum Schlafen, geht in aller Frühe zum Joggen und fährt nach dem Frühstück wieder fort. Beim morgendlichen Laufen durch die Felder kommt sie auch bei den Fischteichen vorbei. Ich habe sie heute Morgen ganz in der Nähe meiner Hütte vorbeilaufen sehen, da ich herausfinden wollte, ob meine Mutter Recht hatte oder nicht. Das ist für uns eine einmalige Chance, ihr direkt am Montagmorgen nach der Wahl aufzulauern. Sie hat vor, wie sie der Wirtin sagte, nach Jogging und Frühstück gegen 10 Uhr auszuchecken. Mensch, das ist die Neuigkeit des Tages. Kommt sofort zu mir, damit wir alles planen können.“  

                Noch am Mittwochabend trafen sich die Drei mit Schlafsäcken bewaffnet in Ottos Hütte bei den Fischteichen. Das Gebiet war wie geschaffen, um jemanden ungesehen beiseite zu schaffen, vor allem in aller Herrgottsfrühe, wenn die Menschen im Dorf gerade aufstehen. Um sechs Uhr früh ist niemand weit und breit unterwegs, im Busch- und Baumgelände um die Fischteiche herum sowieso nicht. Schon am Donnerstag früh testeten die Drei aus, ob Jasmin den Zickzackweg durch das Gelände an den Fischteichen für ihr morgendliches Jogging wählen würde. Der Zugang zu Ottos versteckter Hütte betrug etwa 30 Meter, war aber wegen der dichten Vegetation nicht einsehbar. Von ihrem Versteck aus konnten sie tatsächlich exakt um 6.10 Uhr Jasmin beobachten, wie sie ganz dicht bei ihnen vorbeilief. Das wiederholte sich am Freitag, Samstag und Sonntag auf genau die gleiche Weise. Rainer übernahm die Planung für den Mord an Jasmin: „Sobald Jasmin Morgen an unserem Zugang ankommt, springe ich auf den Weg und halte sie auf. In dem Moment müsst ihr beiden etwa zwanzig Meter hinter ihr aus dem Gebüsch kommen und den Weg nach hinten absperren. Wir werden uns mit dicken Ästen bewaffnen und Handschuhe anziehen. Keiner darf Jasmin mit der Hand berühren. Am besten ist ein gezielter Schlag an die Schläfe. Das wird sie sofort ins Jenseits befördern. Ich will kein Blut sehen. Wir tragen sie dann in ein Versteck, wo sie erst in Tagen, wenn überhaupt, aufgefunden wird. Nach dem Mord fahren ich und Fritz sofort nach Bad Pyrmont und Holzminden zurück. Niemand darf wissen, dass wir hier waren. Masken brauchen wir nicht zu tragen. Jasmin ist allein. Niemand wird uns identifizieren.“

                Rainer und Fritz versteckten sich die Tage in der Hütte, ohne dass sie von den wenigen Besuchern des Geländes um die Fischteiche herum gesehen wurden. Otto legte wie üblich jeden Tag den Weg zu seinen Eltern zu Fuß zurück und brachte Proviant mit. Die beiden wichtigsten Tätigkeiten für die drei Männer während der vier Tage waren die Beobachtung von Jasmin in den frühen Morgenstunden und das Rauchen selbstgedrehter Joints. Die meiste Zeit unterhielten sie sich über die bevorstehende Wahl und die Wahrscheinlichkeit über das Abschneiden der Neuen Rechten und der Bürger-Bewegung. Über ihre Handys erfuhren sie auch von der Hamelner Großkundgebung für Regina. Die beiden neuen politischen Strömungen hatten wohl im Weserbergland die größte Aussicht, das Rennen zu machen. Ansonsten vertrieben sich die drei Verschwörer die Zeit mit Joint-Rauchen, bis sie völlig zugekifft waren. Das half dabei, die steigende Nervosität vor dem Mord zu dämpfen und in ihre Träume als Retter einer ausländerfreien Heimat abzutauchen.

                Der Mord an Jasmin geschah, wie Rainer es geplant hatte. Er selbst stoppte Jasmin um Punkt 6.10 Uhr auf dem Durchgangsweg. Fritz und Otto schnitten Jasmin den Rückweg ab. Aber weder Rainer noch Fritz wollten den Mord an Jasmin persönlich begehen. Sie überzeugten Otto, der total high war und keiner rationalen Überlegung mehr mächtig, den Mordkomplott zu vollenden. Er wäre der wahre Held, der die Heimat vor der Eroberung durch schädliche Ausländer retten würde.

                Rainer hielt die Hinrichtung von Jasmin durch Otto auf seinem Handy fest. Er und Fritz schleppten anschließend die Leiche auf ein benachbartes Grundstück und versteckten sie dort im Unterholz. Gegen 6.30 Uhr ließen sie den verwirrten Otto allein in seiner Hütte zurück, der sich noch einige Bier hinunterkippen wollte. Sie eilten zu ihrem Wagen, den sie weit abseits vom Ortsausgang Kleinenwieden geparkt hatten, und fuhren davon, bevor die Bewohner der umliegenden Dörfer mit ihren Fahrzeugen zur Arbeit fuhren.

                Um 8 Uhr torkelte Otto nach Grossenwieden zum Fährhaus. Er war stockbesoffen und konnte nur noch lallen. „Na Otto, hat Dich das Wahlergebnis so angetörnt, dass Du Dich mal wieder besaufen musstest,“ fragte der Fährmann. „Wir haben die Heimat gerettet, wir haben die Heimat gerettet! Gib mir noch ein Bier,“ war Ottos kaum verständliche Antwort. Der Fährmann verweigerte ihm das Bier und schickte ihn zu Muttern. „Otto, weißt Du überhaupt, was Du redest? Schlaf Dich erst einmal richtig aus. Du kannst Dich ja kaum noch auf den Beinen halten."  Otto grummelte etwas vor sich hin und trollte sich schließlich davon, als ihm der Fährmann einen gutmütigen Klapps auf die Schultern gab.                 

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Jasmin und Regina trafen sich zum letzten Mal am späten Abend des Wahlsonntages in Eschershausen bei einer Bekannten des Bürger-Komitees. Bis um 22 Uhr hatte die Bürger-Bewegung in Holzminden auf dem Marktplatz den Sieg ihrer Kandidatin überschwänglich gefeiert. Regina hatte knapp über 50% der Erststimmen eingefahren. Der Kandidat der Neuen Rechten war mit 20% dabei, genau wie Regina und Jasmin den Prozentsatz der Fremdenfeinde im Land eingeschätzt hatten. Die Direktkandidaten der sogenannten Altparteien teilten sich die restlichen 30% der Erststimmen. Die zwei ehemaligen Volksparteien waren zu Kleinparteien geschrumpft, zumindest was die Erststimmen anbelangte. Um 22.30 Uhr fand sich Regina bei der Bekannten in Eschershausen ein. Auch dort hatte das Bürger-Komitee die Wahl Reginas begeistert verfolgt. Jasmin und Regina fielen sich in die Arme und stießen auf Reginas Ergebnis an. Im Fernsehen verfolgten sie die Wahlergebnisse im ganzen Land. Die ‚Altparteien‘ waren auf Bundesebene noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Die Neue Rechte stürmte mit geschwellter Brust in den zukünftigen Bundestag. Aber die eigentliche Sensation der Wahl war der erstmalige Einzug einer Parteilosen in den Bundestag seit seinem Bestehen im Jahr 1949. Die Journalisten der Mainstreammedien überschlugen sich in Kommentaren, da ihr Ergebnis von 50% das höchste eines Direktkandidaten im gesamten Bundesgebiet war. Alle Welt wollte mit der neuen parteilosen Abgeordneten sprechen. Die ließ aber von Holzminden verlauten, sie würde erst im Laufe des Montages zusammen mit Vertretern ihrer Bürger-Bewegung ein offizielles Kommuniqué herausgeben. Solange sollten sich die Medien gedulden bzw. sich ins Weserbergland-Online-Magazin einklinken, wo zahlreiche Mitglieder der Bewegung die Wahl im Weserbergland bereits kommentiert hatten.

                Jasmin machte sich erst um 4 Uhr morgens in Eschershausen auf den Weg nach Grossenwieden, wo sie gegen 5 Uhr einzutreffen hoffte. Sie verabredete sich mit Regina in Berlin bei ihren Eltern. Regina glaubte, erst am Donnerstag in die Bundeshauptstadt kommen zu können, da sie sich vorher mit den Bürger-Komitees absprechen wollte, wie jetzt die Bewegung am besten ihren Schwung mit in die Berliner Abgeordneten-Arbeit nähme. Der Abschied der beiden Freundinnen und Liebenden war überschattet von den Morddrohungen gegen Jasmin. Doch beide redeten sich Mut zu, es jetzt geschafft zu haben und außerhalb der Weserbergland-Region ein weniger gefahrloses Leben führen zu können. Reginas letzte Worte, bevor Jasmin ins Auto stieg, waren: „Meine liebe Jasmin, Dir habe ich diesen beispiellosen Sieg zu verdanken. Du hast gewusst, wie Herzen und Verstand der Jugend entzündet werden, und nach und nach auch weitere Bevölkerungsteile von der ewigen deutschen Angst und Ohnmacht befreit würden, um sich auf den Marsch der Bürger-Emanzipation zu begeben. Ich verdanke Dir alles, was mir in diesem Wahljahr passierte. Und sicher dankt Dir Chris ebenso. Gib mir bitte, wenn Du im Zug nach Berlin sitzt, eine Nachricht. Unser gemeinsamer Kampf geht weiter. Die erste Etappe, die Initialzündung für die Bürger-Emanzipation ist überstanden. Liebe Jasmin, lass mich Dich noch einmal in Liebe und Dankbarkeit umarmen und Dir einen Kuss geben. Wir sehen uns bald. Und pass gut auf Dich auf!“ 

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