17 Nov 2018

Die kranke deutsche Demokratie

Submitted by Hermann

Die kranke deutsche Demokratie - 24. Folge (Schluss)

Politischer Mord im Weserbergland

 

Realitaet: Fazit meines Wahlkampfes

Desaster auf der ganzen Linie. Wie geht das Leben weiter?

Fiktion: Epilog: Politischer Mord als letztes Mittel um Buerger-Emanzipation zu vereiteln

Foto: Wikimedia Commons, Markt-Kirche mit Hochzeitsheus, Autor: Varus 111

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Realitaet

 

20. September 2017. Vier Tage vor der Wahl findet das Wahlforum der Deister- und Weserzeitung (DEWEZET) sowie von Radio Aktiv in der Hamelner „Sumpfblume“ statt, zu dem ich als parteiloser Direktkandidat neben den sechs übrigen Direktkandidaten der „großen“ Parteien eingeladen wurde. Einmal nicht ausgeschlossen aus öffentlicher Diskussion! Das rechne ich den Veranstaltern hoch an. Die Neue Deister-Zeitung (NDZ) mit ihrem verantwortlichen Redakteur  hatte meine Teilnahme bei einer ähnlichen Veranstaltung in meiner Heimatstadt Bad Münder rundweg abgelehnt mit der Begründung, nur die „Über-5%-Parteien“ hätten eine reelle Chance, was auf mich nicht zutreffe. Offensichtlich sollten wohl Bürgerinnen und Bürger aus Bad Münder von meinen politischen Forderungen verschont bleiben. Diese Nichtzulassung meiner Teilnahme an einer öffentlichen Wahlveranstaltung in der Stadt meiner Kinder- und Jugendzeit tat mir besonders weh, aber immerhin hatte ich bereits an beinahe alle Haushalte der Stadt meinen Flyer verteilt.

                Die gut besuchte Hamelner Veranstaltung bedeutet für mich bereits das große Aufatmen nach sechsmonatigem Wahlkampf. Der Stress, die Frustration und die Enttäuschung über meinen nahezu vollständigen Ausschluss vom demokratischen Wettbewerb um politische Standpunkte lagen jetzt hinter mir. Die verschiedenen Interessengruppen wollten von der von mir propagierten Bürger-Emanzipation nichts wissen. Der schlafende Bürger, der lediglich alle vier Jahre einmal zum Wahllokal abgeholt wird, soll um Himmels willen nicht geweckt werden. PEGIDA und AfD bereiten schon genug Ärger. Eine humanistische Bürger-Bewegung darf nicht auch noch auf den Plan treten. Das könnte den fossilen Parteienstaat womöglich noch mehr verunsichern.

                Auf der Bühne der Sumpfblume verfolge ich die politischen Ausführungen meiner Mitstreiter an den Cocktailtischen mit Resignation. Sind sie und ich allesamt Rattenfänger in dieser schönen Stadt an der Weser, die in einem alle vier Jahre stattfindenden Wahlspektakel um Stimmen buhlen, um anschließend politischen Reibach in Berlin zu machen? Sind Wählerinnen und Wähler nichts weiter als Stimmvieh, das auf Rattenfänger-Flötentöne hereinfällt, um anschließend im Schwall des Weserflusses zu ertrinken, wie uns die Sage weismachen will? Schade eigentlich, dass das Wahlforum nicht im Rattenfängerhaus stattfindet, was sicherlich standesgemäßer gewesen wäre. Bin ich selbst ebenfalls ein Rattenfänger, wenn auch ein erfolgsloser? Jetzt würde ich gern unter den Zuhörern des Wahlforums sitzen, um gemeinsam mit ihnen die politischen Forderungen des Bürgers an die Politik heranzutragen. Aber was sollen diese Gedanken vier Tage vor der Wahl? Politik in Deutschland ist seit 70 Jahren Politik von Oben, von Bundestagsparteien-Oberen, die den Einflüsterungen des Kapitals nicht zu widersprechen wagen. Meine Vorstellungen von Graswurzel-Demokratie trage ich allein auf dem Nachhauseweg an der nächtlichen Weser mit mir herum. Ergeht es mir jetzt wie Don Quichotte, dem „Señor de la Mancha“?  

                24. September 2017. Aufgeräumte Stimmung bei der Wahlparty der DEWEZET. Alle Direktkandidaten sind anwesend bis auf den Herrn der AfD, der als Mitglied der Führungsspitze seiner Partei in Berlin einen wahrscheinlichen Triumpf der Nationalisten und Fremdenfeinde im Zentrum der Macht genießen möchte. Radio Aktiv darf bei dieser Wahlparty auch nicht fehlen, wenn die ersten Resultate nach 18 Uhr hereinkommen und die Direktkandidaten zu einer abschließenden Stellungnahme gebeten werden. Hauptsächlich die Anhänger der verschiedenen Bundestagsparteien sind anwesend, um die Performance ihrer Kandidaten und Parteien jubelnd oder enttäuscht zur Kenntnis zu nehmen. Ihre Nervosität steigt von Minute zu Minute. Schließlich geht es nicht nur für den gewählten Direktkandidaten sondern auch für über die Landesliste gewählte Kandidaten und für mögliche zukünftige Angestellte der Abgeordneten um Geld aus dem Steuersäckel. Da ergeben sich attraktive Jobs, entweder in Berlin oder im Wahlkreis. Auch entscheiden die jeweiligen Prozentsätze der Parteien über künftige Parteienfinanzierung und vor allem über die üppigen öffentlichen Zuschüsse zu den Parteinahen Stiftungen. Das unverschämte Abgreifen von Steuergeldern der bisherigen Bundestagsparteien ist bereits jetzt schon schwer zu verdauen. Nach der Wahl wird sich auch die AfD an dieser üblen Abzocke beteiligen. Und die Verteilung der größten Sahnestücke des öffentlichen Kuchens beginnt spätestens dann, wenn die Posten-Schacherei nach der Regierungsbildung beginnt. Dann werden insgesamt über eine Milliarden Euros an Tausende verdiente Bundestagsparteisoldaten ausgeschüttet, die in Top-Jobs in den deutschen Staatsapparat und in internationale Organisationen mit deutscher Beteiligung gehievt werden.

                Da fällt mir doch eine Geschichte aus Honduras ein, ein Land, in dem lediglich die Oligarchen und Caudillos mit entsprechendem Eigenkapital und dem Kapital ihrer Clans eine Chance bei den Präsidentenwahlen haben. Sie nehmen in ihrem Land die Rolle ein, die in Deutschland die Bundestagsparteien  mit ihren satten Mitteln aus Steuertöpfen  haben. Am Morgen nach der Wahl in Honduras verwandelt sich das Parteibüro des gewählten Kandidaten in ein Arbeitsamt. Parteianhänger aus dem ganzen Land strömen herbei, um einen gut bezahlten Job einzufordern und bilden Schlangen vor dem Parteibüro. Ein Präsidentenamt hat Tausende einträgliche Jobs zur Folge und die öffentlichen Kassen wollen gemolken werden, um das eingesetzte Kapital hochverzinslich wieder hereinzuholen.

                Vor mehr als zehn Jahren saß ich nach einer honduranischen Präsidentenwahl gegen 9 Uhr morgens in einem Taxi, als live im Radio ein Lokalreporter verschiedene Parteianhänger des gewählten Caudillos interviewte. Mit einem gab es folgenden Dialog: Reporter: „Señor, warum stehen Sie hier an?“ Antwort: „Ich suche einen Job.“ Reporter: „Ja, aber das hier ist doch kein Arbeitsamt, es ist der Sitz der künftigen Regierungspartei.“ Entgegnung: „Genau, deswegen stehe ich ja hier Schlange. Ich habe in meinem Department Wahlkampagne für den gewählten Präsidenten gemacht. Folglich habe ich in der neuen Regierung eine gut bezahlte Stelle verdient.“ Reporter: „Was haben Sie denn für eine Ausbildung?“ Antwort: „Ich habe keine besondere Ausbildung.“ Reporter: „Aber für welchen Job wollen Sie sich denn bewerben?“ „Ich kann alles sein. Minister für Landwirtschaft, oder für Bildung, oder Minister für Energie und Telekommunikation.“ Reporter: „Aber dafür braucht man doch eine gute Qualifikation?“ Schlüssige Antwort: „Der Präsident hat auch keine Qualifikation. Hat sein Abitur nicht geschafft. Ist aber jetzt Präsident. Wenn der Präsident sein kann, dann kann ich auch Minister sein.“

                Die Wahlparty in der DEWEZET nimmt Fahrt auf. Punkt 18 Uhr erscheinen die ersten Resultate auf Bundesebene auf den Bildschirmen. Ein Raunen geht durch den Saal. Verdammt noch mal, die AfD, drittstärkste Partei! Und welche Verluste für Union und SPD! Taufrisch erscheint die FDP wieder auf der Berliner Bildfläche. Grüne und Linke auf Augenhöhe.

                Kurze Zeit später dann die ersten Resultate aus dem Wahlkreis. Gegen 19 Uhr stehen die Ergebnisse einigermaßen fest. Für mich ist es absolut enttäuschend gelaufen: 0,9% der knapp 140.000 abgegebenen Stimmen, in absoluter Zahl: 1.250. Und das nach einem sechsmonatigen Wahlkampf. Für die Piraten war das Ergebnis noch ernüchternder. Ich hatte mir mehr erhofft, obwohl ich für den Bürger weitgehend „unsichtbar“ war. 

                Eine Stunde später geben alle Direktkandidaten mit Ausnahme des AfD-Kandidaten, der mit Pauken und Trompeten über die Landesliste gewählt wurde, ihre Statements zur Wahl ab. Der junge SPD-Kandidat gewinnt das Direktmandat. Die LINKE-Kandidatin wird über die Landesliste gewählt. Der Wahlkreis schickt wie in der vorangegangenen Legislaturperiode drei stramme Parteivertreter nach Berlin, von AfD, SPD und der LINKEN. Ist das nicht ein gutes Omen für die Demokratie im Weserbergland? Ich hoffe jedenfalls, dass sich die Drei für den Wahlkreis stark machen und sich für junge Menschen, die dort eine langfristige Lebens- und Berufsperspektive verdienen, die Hacken ablaufen werden. Ich hatte mir vorgenommen, gleich nach der Wahl mit Vertretern der Zivilgesellschaft in der Region einen Dialog zu beginnen, wie sich das Weserbergland in eine Wissens- und Forschungsregion entwickeln und wie in Berlin endlich eine Politik mit menschlichem Antlitz und mit Bürger-Macht beginnen könnte. Daraus wird nun nichts. Für so ein langfristiges Projekt braucht es Unterstützung von zahlreichen engagierten Menschen, die bereit wären, über das Weiterso hinauszudenken. Eine Internationale Friedensuniversität und ein Europäisches Berufsausbildungszentrum, die den jährlichen Exodus von jungen Menschen aus der Region aufhalten könnten, sind nur durch aktive Mitarbeit der Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Auch ein Bedingungsloses Grundeinkommen oberhalb der Armutsgrenze und eine Integrations- und Friedenspolitik, die diesen Namen verdienen, können ohne aktive Bürger-Unterstützung nicht in die Wege geleitet werden. Aber derartige politische Themen sind eben keine Themen, die den Wähler vom Hocker reißen könnten. Gejubelt wird schon eher über nebulöse Floskeln wie Mutti Merkels „Schönes Deutschland“, Schulzens “Sozialer Gerechtigkeit“ und die „Rettung des Abendlandes vor Musels und Negern“ der AfD. Im Übrigen will der Wähler einfach weiter seine Ruhe haben und sein Schicksal getrost in die Hände der Bundestagsparteien legen, wie er es seit Jahrzehnten gewohnt ist. Und derjenige, der die Nase gestrichen voll von den „Altparteien“ hatte, konnte seinen Zorn und Hass über den Parteienstaat der AfD zugutekommen lassen.          

                Trotz Desillusion meinerseits, wenig bis gar nichts an Ermutigung des Bürgers zu Zivilcourage, zum Aufstehen gegen Parteien-Macht und zum Kampf für Menschenwürde beigetragen zu haben, hat sich mein Wahlkampfabenteuer gelohnt. Hautnah habe ich nach 40 Jahren Abwesenheit aus Deutschland  erfahren, wie perfekt deutsche Parteienherrschaft über den Bürger funktioniert; so perfekt, dass dieser zwar sein Untertanendasein spürt, sich jedoch  damit abfindet, als sei das „Schweigen der Lämmer“ der natürlichste Zustand des deutschen Menschseins. Das wird mir immer wieder selbst von Menschen beteuert, die es eigentlich besser wissen müssten: „Hermann, wir haben doch alles, was wir wollen. Wir dürfen reden und kritisieren. Wir leiden keine materielle Not. Wir haben Renten und Pensionen wie sie wenige Menschen auf der Welt haben. Wir können immer wieder die neuesten Konsumgüter kaufen. Was wollen wir mehr? Seit 1949 verwalten die Bundestagsparteien unser Schicksal. Bisher sind wir damit gut gefahren. Das deutsche parlamentarische System ist Garant für politische Stabilität und unser aller Wohlergehen. Nie in der Geschichte ging es uns Deutschen so gut wie jetzt. Was redest Du da von Bürger-Emanzipation, wenn wir doch unsere Bundestagsparteien haben, die den Laden so gut es geht schmeißen?“

                Es nieselt leicht bei gerade einmal zehn Grad, als ich meinen langen Heimweg durch die verlassene, triste Hamelner Altstadt antrete. Nirgendwo Böller zu hören, nirgendwo Gesänge von Parteiangehörigen wie: „So eine Tag, so wunderschön wie heute!“ Zumindest AfD- und FDP-Sympathisanten hätten wahrlich Grund zu nächtlicher Ruhestörung.

                Gottseidank habe ich einen Schirm bei mir und mümmele mich in meine warme Jacke ein. Sechs, sieben Monate Wahlkampf ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Dazu muss ich auch die letzten Monate in 2016 mitrechnen, in denen mein Entschluss, an der Wahl teilzunehmen, gereift ist, und in denen ich die Grundzüge meines Programms ausgearbeitet hatte.  

                Warum ist meine Wahlkampagne so desaströs ausgegangen? Was habe ich falsch gemacht, was falsch eingeschätzt? Was werde ich für Lehren aus meinem Wahlkampf ziehen? Kann man den deutschen Parteienstaat überhaupt als Demokratie bezeichnen? Und wenn nicht, wie könnte der kranken deutschen Demokratie wieder auf die Füße geholfen werden?

                Ich rufe mir noch einmal die Gründe meiner Kandidatur ins Gedächtnis. Als aktiv Beteiligter an der Revolte der 68er war und ist mir die politische Freiheit des Individuums stets höchstes Gut gewesen, um Herrschaft von Menschen über Menschen abzuschaffen oder zumindest zu mindern. In diesem Sinne habe ich während meiner beruflichen Laufbahn versucht, meinen bescheidenen Beitrag in Ländern der Peripherie, in Bürgerkriegssituationen, in Katastrophengebieten, beim Wiederaufbau und bei der Verteidigung elementarer Menschenrechte von Minderheiten zu leisten. Die Ermutigung zu politischer Freiheit, zu direkter Demokratie, zur Subjektwerdung des Individuums als Voraussetzung, um gesellschaftliche und natürliche Umwelt aktiv und im humanistischen Sinne mitzugestalten, das war und ist ethisches Gebot. Meine Nachkriegs-Generation ist durch dieses im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehene Demokratieverständnis geprägt und hat in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts versucht, in diesem Sinne das verheerende Erbe des Hitler-Faschismus zu überwinden. Die in 1948 verabschiedete Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen hat dazu die ethischen Grundlagen gelegt. Während der vier Jahrzehnte, die ich außerhalb Deutschlands in peripheren Ländern verbrachte, verfestigte sich jedoch die deutsche Demokratie hin zu einem Parteienstaat, der den Bürger schlicht zum Abstimmungsvieh für die Bundestagsparteien degradierte. Lediglich auf kommunaler Ebene kommen dann und wann unabhängige Bürgermeinungen und Bürgerinitiativen zum Tragen. Auf Landes- und nationaler Ebene steht der Bürger der politischen Monopolmacht der Bundestagsparteien ohnmächtig gegenüber. Die im Grundgesetz proklamierte Volkssouveränität, durch Volksentscheide, durch parteilose Bundestagsabgeordnete und durch die Möglichkeit von Gesetzesinitiativen aus der Zivilgesellschaft heraus, haben die Bundestagsparteien bisher bewusst abgewürgt. Und der Bürger hat mithilfe der Leitmedien diese durch und durch kranke deutsche Demokratie derart verinnerlicht, dass er gar nicht erst in der Kategorie von politischer Freiheit zu denken vermag. Die Meinungs- und Pressefreiheit sowie das vierjährige Abnicken bei Wahlen dienen dem Parteienstaat dazu, Demokratie zu suggerieren, wo in Wahrheit nur Parteien-Macht existiert. Das alles war mir seit Jahren bewusst und in diesem Sinne begann ich seit 2012 Beiträge in alternativen Online-Medien zu publizieren. Mein konkreter Entschluss zur Kandidatur reifte nach der katastrophalen diktatorischen Merkel-Entscheidung im Herbst 2015, abrupt und ohne vorherige innenpolitische wie außenpolitische Diskussion die deutschen Grenzen für Millionen von Flüchtlingen zu öffnen sowie durch Besuche in meiner alten Weserbergland-Heimat. Diese erschien mir bar jeglicher Zukunftsvision und entwicklungsmäßig mehr und mehr von attraktiven Ballungszentren abgehängt. Beide Gründe, die zu meiner Bürger-Kandidatur führten, sind für mich bildhafter Ausdruck der kranken deutschen Demokratie auf nationaler und auf lokaler Ebene; krank deshalb, weil die Einbeziehung eines emanzipierten Bürgers in die aktive Gestaltung des öffentlichen Raumes nicht stattfindet und dies von einer autoritär geführten Politik nicht gewollt wird. Wenn Parteien und ihre Repräsentanten diktatorisch den öffentlichen Raum besetzen, dann geschieht das durch die bewusste Degradierung des Bürger in die Schlafmützen-Rolle und durch seine materielle Ruhestellung. Das hat mit Demokratie wenig bis gar nichts zu tun, vor allem auch deshalb, weil die Bundestagsparteien nicht nur das politische Machtmonopol im Staate sondern auch das Monopol über die Verteilung von Steuergeldern usurpieren. 

                Dieser Ausgangspunkt, nämlich Volkssouveränität und damit Bürger-Macht durch direkte Demokratie sowie eine humanistische Politik auf allen Politikfeldern einzufordern, ist m. E. der richtige Ausgangspunkt für meine Kandidatur gewesen. Doch die meisten meiner Freunde und Bekannten warnten von Beginn der Wahlkampagne an, den Kampf um Bürger-Macht gegenüber Parteien-Macht überhaupt aufzunehmen. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse im deutschen Parteienstaat sprächen gegen einen erfolgreichen Kampf für politische Freiheit und Menschlichkeit in der Politik. Ich ließ mich dadurch nicht beirren. Resignation vor Parteien-Macht ist nicht mein Ding. Ich wollte die Krankheit der deutschen Demokratie in meiner alten Heimat am eigenen Leibe erfahren und herausfinden, was dagegen zu tun sei. Jedoch muss ich nach dem Wahlkampf gestehen, dass die Bedingungen für eine erfolgreiche parteilose Kandidatur von Anfang an nicht hinreichend gegeben waren:

1. Ein Parteiloser braucht ein starkes Unterstützungskomitee, einen ausreichenden Bekanntheitsgrad und ein attraktives Wahlprogramm, das den Wähler von der Notwendigkeit des Kampfes für politische Freiheit und für eine humanistische Gesellschaft zu überzeugen vermag. Es geht darum, dem parteilosen Kandidaten eine starke außerparlamentarische Bürger-Bewegung zur Seite zu stellen, d. h. eine Bewegung, die nicht durch öffentliche Steuermittel korrumpiert werden kann (Das ist der Bürger-Bewegung zu Gründungszeiten der GRÜNEN-Partei zum Verhängnis geworden. Die Wandlung einer Bürger-Bewegung zu einer politischen Partei ist stets in der Geschichte und überall auf der Welt mit einem Verlust an Demokratie verbunden gewesen, da ideologische Prinzipien zugunsten von Macht- und Geldstreben sekundär werden.).   

                Ich verfügte nach meiner Rückkehr aus Lateinamerika Ende Februar weder über ein Unterstützungskomitee, noch war ich nach Jahrzehnten-Auslandstätigkeit im Wahlkreis bekannt. Einzig mein Wahlprogramm war bereits Ende 2016 ausgearbeitet und schien mir bezüglich meiner politischen Vorstellungen schlüssig zu sein. Ich hatte dieses Programm als Grundlage für Diskussionen in Bürger-Versammlungen in möglichst vielen Gemeinden des Wahlkreises gedacht, das durch die Beteiligung des Bürgers in seine endgültige Form eines konsensfähigen Bürger-Programms gegossen werden sollte. Die Aufstellung eines Bürger-Komitees hatte ich mir in den Monaten März und April vorgestellt. Mithilfe dieses Komitees erhoffte ich, allmählich einen ausreichenden Bekanntheitsgrad im Wahlkreis zu erlangen. Doch in der Realität erwies sich meine Kampagne bereits in dieser frühen Phase als Fiasko. Trotz einiger bestehender Kontakte zu Bekannten aus meiner Heimatregion waren diese nicht vom möglichen Erfolg meiner Kandidatur überzeugt. Auch konnte die mit Unterstützung zweier Freunde eingerichtete eigene Website mit meinem Programm-Vorschlag zwar einiges Interesse hervorrufen, nicht aber zu Mitarbeit an meiner Kandidatur bewegen. In der Rückschau muss ich sagen, dass ein schlagkräftiges Bürgerkomitee, möglichst existent in vielen Gemeinden des Wahlkreises, erst in jahrelanger Vorbereitung aufgestellt werden kann. Das könnte dann dazu führen, den Bekanntheitsgrad des Kandidaten und seines Programm-Vorschlages zu verbreiten. Das Bürgerkomitee müsste wie eine Nichtregierungsorganisation funktionieren und Wertschätzung bei den Bürgerinnen und Bürgern durch seinen Einsatz für öffentliche Belange finden.

                Im Gegensatz zu den Direktkandidaten der Bundestagsparteien muss die oder der Parteilose eine bestimmte Anzahl von Unterstützer-Unterschriften beim Wahlleiter einreichen, um auf den Wahlzettel zu kommen. In meinem Fall waren das 200 Unterstützer-Unterschriften. Die Kandidaten der Bundestagsparteien brauchen sich keine Ochsentour für das Sammeln von Unterstützer-Unterschriften auferlegen. Dazu genügt eine erfolgreiche parteiinterne Ochsentour, um auf den Wahlzettel zu kommen. Angesichts des Fehlens eines Unterstützer-Komitees, das mir beim Unterschriften-Sammeln hätte beistehen können, nahm ich eine Woche vor dem 1. Mai Kontakt zu den Piraten auf, um eine Zusammenarbeit auszuloten. Wir kamen schnell überein, eine gemeinsame Kampagne zu starten mit mir als parteilosem Direktkandidaten auf der Liste der Piraten. Das war einleuchtend, zumal viele politische Standpunkte auf beiden Seiten Konsens waren. Mir war allerdings nicht bewusst, dass die Piraten seit der letzten Bundestagswahl aus verschiedenen Gründen einen massiven Imageverlust hatten hinnehmen müssen. Die Entscheidung einer Zusammenarbeit zwischen Piraten und mir trug dazu bei, die ersten Unterschriften zusammen zu bekommen. Jedoch gaben mir viele geneigte Wähler zu verstehen, dass sie mich nicht wählen könnten, da ich auf der Liste der Piraten kandidierte. Noch im Mai ergab sich ein weiterer Unterstützer-Kontakt, nämlich zur Hamelner attac-Gruppe, mit der sich rasch eine enge ideologische Nähe herauskristallisierte. Dank Piraten, attac und meiner eigenen Anstrengungen gelang es dann auch, bis Beginn Juli 200 Unterstützer-Unterschriften zu sammeln und als parteiloser Kandidat auf Liste der Piraten auf den Wahlzettel zu kommen.

                Soweit so gut: Die erste Hürde für einen Parteilosen, um ebenso wie die Direktkandidaten der Bundestagsparteien auf den Wahlzettel zu kommen, kann durchaus übersprungen werden. Danach jedoch, in der zweiten Phase des Wahlkampfes, erfolgt die rigorose Benachteiligung der Parteilosen gegenüber den Bewerbern der Bundestagsparteien. Mit Fug und Recht kann behauptet werden, dass der Parteienstaat in der eigentlichen Wahlkampfphase mit aller Härte seine politische Monopolmacht gegenüber den parteilosen Bürgerkandidaten und den kleinen Parteien ausspielt, um eine echte demokratische Auseinandersetzung bereits im Ansatz abzuwürgen. Wie geschieht das im Einzelnen?   

2. Ein parteiloser Bürger-Kandidat, der nicht ebenso wie die Kandidaten der Bundestagsparteien wenigstens einige zehntausend Euros auf den Tisch blättern kann, braucht eigentlich gar nicht zur Wahl anzutreten. (Bei mir waren es über sieben Monate hinweg ungefähr sechstausend Euro) Diese zehntausende Euros sind nötig, um Plakate mit dem Konterfei des Kandidaten und seinen wichtigsten politischen Zielen in allen Wahlkreisgemeinden etwa zwei Monate vor der Wahl anzubringen. Wenn der Wähler in der Wahlkabine sein Kreuzlein macht, muss er die Kandidaten und Parteien bereits im Bewusstsein gespeichert haben. Bei mir und den kleinen Parteien war das ganz gewiss nicht der Fall. Die Bundestagsparteien greifen bei der Finanzierung ihrer erheblichen Ausgaben auf die Parteienfinanzierung zurück. Insbesondere können sie dabei auf Unterstützung ihrer öffentlich finanzierten Parteiapparate und politischen Stiftungen zählen. Ein Bürger-Kandidat müsste entweder einen Kredit aufnehmen oder mächtige Privatspender hinter sich bringen, um da mithalten zu können. Aber wegen des wahrscheinlichen Verlustes einer derartigen Vorfinanzierung bleibt einem Normalbürger, der durch die Wahl nicht bankrottgehen möchte, nichts anderes übrig, als auf großzügige Plakatierung zu verzichten. Die fehlenden finanziellen Mittel des Parteilosen sind die entscheidende Barriere, die die Bundestagsparteien den unabhängigen Kandidaten in den Weg stellen. Darüber kann auch eine eventuelle nachträgliche Wahlkampfkosten-Rückerstattung nicht hinwegtäuschen. Der Parteilose müsste mindestens 10% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen können, um eine Rückerstattung seiner Kosten zu bekommen. Der Direktkandidat einer Bundestagspartei kann sich wesentlich weniger Stimmen leisten, um allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Partei in den Genuss einer ausreichenden Finanzierung seiner Ausgaben zu kommen.  

3. Aber es ist nicht nur das fehlende Kapital, das den Wahlkampf des Parteilosen erschwert. Vielmehr kommt ein weiterer und noch entscheidenderer Faktor hinzu, der die politische Monopolmacht der Bundestagsparteien untermauert und jedwede erfolgreiche Kandidatur von Parteilosen aussichtslos macht: Es ist die psychosoziale Konstitution des Wählers in Deutschland. Der Normalbürger glaubt nicht an eigene politische Gestaltungskraft. Vor allem über die letzten vier Jahrzehnte hinweg, seitdem die einst mächtige Außerparlamentarische Opposition (APO), die die verschiedenen sozialen Bewegungen der 60er und 70er Jahre bündelte, in die Gründung der GRÜNEN-Partei mündete, verlor der Bürger den Glauben an Bürger-Macht. Mit dem Marsch in Bundes- und Landesparlamente verloren die einst basisorientierten GRÜNEN ihre politische Unschuld durch Teilhabe an staatlichen Pfründen wie vordem schon die anderen Parteien. Die LINKE macht da keine Ausnahme. Als möglicher Verteidiger politischer Freiheit und Bürger-Macht ist sie in die Rolle des politischen Narren am Hofe des Bundestages geschlüpft und ebenfalls durch reiche öffentliche Zuschüsse korrumpiert. Wer also soll den Wähler aus seiner Staatsverdrossenheit erlösen und den Traum von Direkter Demokratie und Volkssouveränität weiterspinnen? Etwa die AfD? Deren Demagogen werden das gleiche Schicksal wie GRÜNE und LINKE erleiden und in null Komma nichts durch politische Korruption in den Parteienstaat eingereiht werden. Die alle vier Jahre wiederkehrende Erfahrung des Wählers, dass seine Stimmabgabe gleichzeitig die Aufgabe seiner aktiven Teilhabe an der Mitbestimmung über seine Lebensverhältnisse bedeutet, hat sich tief in die Gehirne der Deutschen eingebrannt. Der von den Bundestagsparteien verwaltete Parteienstaat und die eigene politische Ohnmacht werden als naturwüchsig empfunden, und jeder, der versucht, den schlafenden Bürger zu wecken, muss mit dem geballten Widerstand des Parteienstaates rechnen.            

4. Was ebenfalls das Wesen des Parteienstaates und entsprechend der kranken Demokratie ausmacht, ist nicht nur seine Akzeptanz bei den verschiedenen Interessengruppen der Zivilgesellschaft sondern auch dessen bewusste Förderung. Unternehmerverbände, Bauernschaft, Gewerkschaften, sie alle üben  ihren Einfluss auf die Bundestagsparteien aus, um über das Parlament ihre Interessen in Gesetzesform gießen zu lassen. Ihre Lobbys wirken an der Ausarbeitung der Parteiprogramme und während des Gesetzgebungsprozesses im Bundestag mit. Während des Wahlkampfes organisieren sie öffentliche Wahlforen für die Parteien, die später im Bundestag ihren Interessen möglichst den Segen geben sollen. Parteilose wie ich sind der Durchsetzung ihrer Interessen hinderlich und haben auf den von ihnen organisierten Wahlforen nichts verloren.

                Ein derartiges antidemokratisches Vorgehen bei den genannten Interessengruppen konnte ich noch einigermaßen nachvollziehen. Was ich allerdings so nicht erwartet habe, war, dass selbst unabhängige Nichtregierungsorganisationen, die gerade vorgeben, Graswurzel-Arbeit zu betreiben und die politisch unabhängige Zivilgesellschaft zu vertreten, mich ebenfalls aus dem demokratischen Wettbewerb zumindest zum Teil verbannten. Das betrifft auch Schulleitungen. Ich kann mir diese Bürger-Phobie, diese panische Angst vor dem mündigen Bürger, nur damit erklären, dass Verantwortliche dieser Organisationen derart mit dem Parteienstaat und seinem Bundestagsparteien-System liiert sind, dass sie an wahrer Demokratie gar kein Interesse haben. Wie ein Krebsgeschwür zieht sich dieses Parteien-System durch beinahe alle sozialen Gruppen der Zivilgesellschaft hindurch und redet dem Bürger wieder und wieder ein, dass es jenseits des aktuellen deutschen Parteienstaates keine Bürger-Republik mit direkter Demokratie und politischer Freiheit geben kann. Der gegenwärtige deutsche Parlamentarismus sei das Nonplusultra der Demokratie. Daran gibt es nichts zu rütteln.  

Was tun gegen die kranke deutsche Demokratie, gegen den deutschen Parteienstaat und die politische Diktatur der Bundestagsparteien über Bürger-Freiheit?

Das Gefühl und auch teilweise vorhandene Bewusstsein von politischer Unfreiheit teile ich, wie ich meine, mit der Mehrheit der Deutschen. Das ist mir während des Wahlkampfes immer wieder im Dialog mit dem Bürger bestätigt worden. Allein eine tiefsitzende Angst und Ohnmacht gegenüber den wirtschaftlich und politisch Mächtigen sowie eine Obrigkeitshörigkeit, die seinesgleichen in der westlichen Welt sucht, formt den deutschen Normalbürger zum willfährigen Untertanen im Parteienstaat. Wie eine Eintagsfliege hat er einen einzigen Tag in vier Jahren, an dem er fliegen darf. Danach überlässt er sein Schicksal den wirtschaftlichen und politischen Eliten, die über ihn befinden.

Es gibt grundsätzlich zwei Wege aus dieser fatalen Situation:

Der erste ist der demagogische Weg in Richtung Neofaschismus, wie es augenblicklich von PEGIDA und AfD vorexerziert wird. Die Staatsverdrossenheit und das Ohnmachtsgefühl des Bürgers schlägt in Wut, dann in offenen Hass um, geschürt von Demagogen, die jetzt nach erfolgreicher Wahl als Teil des Parteienstaates ebenfalls aus Steuergeldern gemästet werden.

Der zweite Weg ist der emanzipatorische Weg zur direkten Demokratie, zu politischer Freiheit und zu Liebe im Sinne von Solidarität und Menschlichkeit gegenüber dem Nächsten und gegenüber der Natur. Der Bürger-Emanzipations-Prozess hat notwendigerweise die Kontrolle des Bürgers über wirtschaftliche und politische Institutionen im Staate zur Folge und macht den Bürger zum Subjekt seiner Lebensverhältnisse. Ich habe während der Wahlkampagne diesen zweiten Weg gewählt. Doch er müsste über lange Jahre weiter verfolgt werden. Ich kann nur hoffen, dass Andere, Jüngere meine Gedanken aufgreifen und diesen emanzipatorischen Weg mit aller Hartnäckigkeit einschlagen. Geschieht dies in naher Zukunft nicht, wird wohl erst eine neue nationale und europäische Katastrophe der Mehrheit der Menschen die Augen öffnen und sie zur aktiven Verteidigung von politischer Freiheit und Humanismus anregen können.

(Oktober 2017)

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Fiktion: Epilog, Politischer Mord als letztes Mittel, um Buerger-Emanzipation zu vereiteln

Der politische Mord in Grossenwieden löste ein politisches Erdbeben im Weserbergland und im ganzen Land aus. Das Hauptmotiv für den Mord war, den Machtverlust der etablierten Parteien im deutschen Parteienstaat zugunsten der Bürger-Macht zu verhindern und damit auch das Projekt Bürger-Republik zu Fall zu bringen. Es ging um die Verteidigung der Parlamentarischen Demokratie im Parteienstaat, ausgeübt durch Bundestagsparteien, gegenüber der Direkten Demokratie, ausgeübt durch den Bürger. Mit anderen Worten ging es um Parteiensouveränität versus Volkssouveränität, wie im Grundgesetz vorgesehen. Aber dieser politische Mord hatte eine Besonderheit: Das politische Establishment machte sich die gefährlich heraufziehende Pogrom-Stimmung gegenüber Muslimen und Fremden, um der Verteidigung des Christlichen Abendlandes willen, zunutze, um die direkte Ausführung des politischen Mordes in die Hände der extremen Rechten zu übergeben. Die deutsche Öffentlichkeit und der Justizapparat waren seit jeher geimpft, der extremen Rechten, wie der extremen Linken ebenso, alle nur erdenklichen Schandtaten zuzutrauen. Mit diesen beiden innenpolitischen Hauptfeinden im deutschen Parteienstaat kann sich das Establishment die eigenen schmutzigen Hände immer wieder reinwaschen, das war jedenfalls die Hoffnung.

                Ein politischer Mord findet seine Entstehung, wie auch hier im Weserbergland, in dem politischen Willen einiger Exponenten der politischen Seilschaften, die meinen, die Verteidigung der Macht-Privilegien stellvertretend in die eigenen Hände nehmen zu müssen. Der psychologische Vorgang in den Hirnen dieser Exponenten durchläuft dabei drei Stufen: Die erste ist der Zorn gegenüber dem politischen Gegner, der die bestehenden Machtverhältnisse nicht anerkennt. Die zweite ist der Hass, wenn der Machtverlust konkret droht. Die dritte Stufe ist der Wille zur Ausschaltung des Gegners. Wenn das nicht auf friedlichem Wege geschehen kann, muss Gewalt bzw. politischer Mord ins Kalkül genommen werden. Die politischen Exponenten im Parteienstaat, die einmal ihren innenpolitischen Feind identifiziert haben, arbeiten dann zielstrebig daran, dass ihre Auffassung mit Hilfe der Medien zum Mainstream wird, d. h. geteilt wird vom bestehenden Herrschaftsapparat im Staat, sprich Bundestagsparteien. Sind diese erst einmal auf Linie gebracht, ist auch die Unterstützung durch den Normalbürger leicht zu bekommen. Dafür sorgen die Mainstream-Medien in gehorsamer Manier. 

                Jasmin hatte sich Bürger-Emanzipation als Streben zu politischer Freiheit gegenüber herrschenden Machtstrukturen seit Studententagen auf ihre Fahnen geschrieben. Schon ihre Eltern mussten wegen politischer Repression aus der Heimat fliehen. Jasmin hatte das Glück, in Deutschland aufzuwachsen, ein Land mit relativer Freiheit, jedoch mit kranker Demokratie, die in vierjährigem Abnicken der Macht von politischen Seilschaften besteht, obwohl die Verfassung, d. h. das deutsche Grundgesetz, eine direkte demokratische Beteiligung des Bürgers vorsieht. Darüber hinaus kämpfte Jasmin für das Primat der Liebe in der Politik, d. h. Liebe gegenüber Mitmenschen und Liebe gegenüber der Natur. Das hatte sie aus den Lehren der Aufklärung und der universalen Menschenrechte gelernt. Sie begann zielstrebig seit ihren Universitätsstudien für diese beiden Hauptziele des Humanismus einzutreten, für die Freiheit und für die Liebe. Das musste sie automatisch in direkte Gegnerschaft des herrschenden Parteienstaates und der Fundamentalismen von Rechts und von Links bringen. Dabei hatte sie das Pech, wenn man so will, eine typische Vertreterin des EINEN Menschen zu sein, mit ausländischen Wurzeln und mit Heimat überall dort, wo gemeinsame Sprache, wo geteilte ethische Grundlagen und Kultur und wo gemeinsame Freunde vorhanden sind.

                Doch wie konnte Jasmin den Normalbürger gewinnen, ebenfalls in den Kampf für Bürger-Emanzipation einzutreten? Aus ihrer Erfahrung während des ‚Arabischen Frühlings‘ wusste sie, dass zuallererst die Herzen und der Verstand der Jugend geweckt werden müssten. Dieser Teil der Bevölkerung ist noch flexibel im Denken und Handeln, da er sich im Reifungsprozess befindet. In Deutschland ging dieser Emanzipations-Prozess nur durch die Schaffung eines vom Bürger selbst-verwalteten Mediums, das unbeeinflusst von bestehenden Machtstrukturen die freie Willensbildung erlaubt. Die Einrichtung des Weserbergland-Online-Magazins und ihre Redakteursrolle kamen für Jasmin wie gerufen, um ihren Traum von Bürger-Emanzipation zu verfolgen.

                Obwohl der politische Mord an Jasmin die im Weserbergland entstehende freiheitliche Bewegung im Keim zu ersticken beabsichtigte, bewirkte er in der Realität das genaue Gegenteil. Jasmin wurde zur Ikone einer neuen Bürger-Bewegung, die bei Weitem über die Wirkung der vorherigen 68er- und 89-Bewegung hinausging. Schon bei der nächsten Bundestagswahl wurden mehr als 200 parteilose Abgeordnete ins Berliner Parlament gewählt, die dort die mächtigste Fraktion stellten. Über diese Abgeordneten flossen Gesetzesvorschläge von den Gemeinden bis in den Bundestag. Der gesamte Staatsapparat wurde reformiert und unabhängige Geister ersetzten sture Parteisoldatengefolgschaft. Die parteinahen Stiftungen bekamen keine staatliche Förderung mehr und mussten ihre mehr als 300 Auslandsbüros und ihre Stipendienprogramme für parteiinternen Nachwuchs schließen. Der Bürger begann den Staatsapparat von der untersten Gemeinde-Ebene bis in den Bundestag zu kontrollieren und die bisherige politische Korruption zu beenden. Mit einem Wort: Die Bundestagswahl 2017 im Weserbergland wurde zum Ausgangspunkt einer Neu-Erfindung der Bundesrepublik vom Parteienstaat zu einer Bürger-Republik.

                Die Kriminalpolizei hatte die direkten Täter des politischen Mordes rasch ausgemacht. Das gelang einerseits anhand der Auswertungen von Jasmins Handy und Laptop. Andererseits führten die Vernehmungen von Otto rasch auf die Spuren von Rainer und Fritz. Rainer verteidigte sich mit dem Argument, es ging bei dem politischen Mord um Auftrags-Mord und legte alle Beweise offen auf den Tisch. Auf diese Weise kam das gesamte politische Establishment im Weserbergland und auch die Führung der Neuen Rechten in der Region ins Visier der Ermittler. Der daraufhin folgende Prozess beschäftigt die Justiz noch auf Jahre hinaus. Die wesentliche Frage ist: Werden im deutschen Rechtsstaat neben den kleinen Fischen auch die großen, die das Klima für den politischen Mord erst geschaffen haben, zur Rechenschaft gezogen oder nicht? Die Beantwortung dieser Frage hängt auch davon ab, ob die Bürger-Emanzipation bereits so weit im Lande Fuß gefasst hat, den blinden Gehorsam gegenüber der Obrigkeit abzulegen und öffentlichen Druck auszuüben, um eine wahrhaft unabhängige Justiz zu unterstützen. 

                Regina und Chris und viele andere junge Menschen aus dem Weserbergland hielten den Idealen Jasmins bis an ihr Lebensende die Treue. Das Opfer, das Jasmin gebracht hatte, war für sie zur Verpflichtung für ein verantwortungsvolles Leben in Freiheit und Liebe geworden.     

 

ENDE