Laurence oder der Sommer der Anarchie - Novelle von H. Gebauer
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Laurence oder der Sommer der Anarchie - 1. Kapitel
In Gedanken versunken saß Rudolf auf der harten Bank in der ersten Reihe der L‘église de Notre Dame de l’Assomption in dem kleinen Ort Villejésus im Südwesten Frankreichs. Er blickte über den Altarstein hinweg in den schlichten, runden Chor und genoss die wohltuende Kühle und tiefe Stille der romanischen Chapelle, die einst im 12. Jahrhundert nach Christi vom Templer-Orden errichtet worden war. Draußen im Ort hatte er lediglich eine verlorene Katze herumstreunen sehen. Ansonsten schien der trocken-heiße Augustnachmittag die wenigen Hundert Einwohner in ihre typischen Kalksteinhäuser verbannt zu haben, die seit ewigem Gedenken den Charme der Dörfer des Département Charente ausmachten.
Plötzlich hörte Rudolf, wie die hölzerne, schwere Eingangstür der Kirche mit lautem Krachen aufgestoßen wurde. Erschreckt drehte er sich um. Im hereinströmenden gleißenden Sonnenlicht konnte er lediglich den schwarzen Umriss einer weiblichen Person wahrnehmen, deren Kopf von einem flammenroten, lockigen Haarschopf umrahmt war.
„François, sieh Dir das mal an!“ hörte Rudolf eine volltönende, im Kirchenschiff widerhallende Frauenstimme ausrufen. Alsbald tauchte im Kircheneingang eine männliche Silhouette auf. Ein junges, unbeschwertes Pärchen betrat ohne Umschweife das Innere der Kirche.
Neugierig betrachtete Rudolf die beiden jungen Leute, die wie er wohl auch Mitte der Zwanziger zu sein schienen. Die junge Frau trug einen engen, roten Minirock, der mit ihrer wallenden Haarpracht bestens harmonierte und ihre langen, schlanken Beine betonte. Eine schwarze, offene Bluse und sportliche Sandalen rundeten ihren erfrischenden Eindruck, den sie auf Rudolf machte, ab.
„Laurence, hier ist es herrlich kühl. Setzen wir uns am besten ganz vorn auf eine Bank und ruhen uns ein wenig aus.“ Der Mann ergriff die rechte Hand seiner Begleiterin und führte sie zum Chor. Das junge Pärchen meinte wohl, es sei allein in dem Gotteshaus. Die anfangs lebhafte Unterhaltung schien sich jedoch beim Vorwärtsschreiten der feierlichen Stille in der Kirche anzupassen. Beide ließen sich nicht weit von Rudolf entfernt auf einer Bank nieder. Diesen hatten sie erst gar nicht erkannt, denn ihre Augen brauchten Zeit, um sich an das gedämpfte Licht der Kirche zu gewöhnen.
Nach einigem Tuscheln und Flüstern zwischen den beiden jungen Leuten wandte sich François, so wie der junge Franzose hieß, an Rudolf: „Excusez, Monsieur, vous n‘êtes pas d’ici, n’est-ce pas?“ (Sie sind nicht von hier, nicht wahr?) „Nein, ich komme aus Deutschland, genauer gesagt aus Heidelberg,“ antwortete Rudolf ebenfalls auf Französisch. „Hätten Sie Lust, mit uns nach Aigre zu radeln? Da gibt‘s ein kleines Café mit verschiedenen leckeren Obsttorten. Genau das Richtige für einen Nachmittag in der Saintonge (Region im Département Charente). Ich habe vor der Kirche ein Fahrrad gesehen. Ist sicher Ihr Fahrrad. Wir sind auch mit dem Rad unterwegs. In wenigen Minuten könnten wir dort sein.“
Gern willigte Rudolf ein. Es wäre eine schöne Abwechslung, mit anderen jungen Menschen zusammen zu sein. Seit er in seinen Semesterferien 1975 in Fontaine-Chalendray bei einer Witwe gegenüber der romanischen Kirche, die ebenfalls L’église de Notre-Dame de l‘Assomption hieß, einquartiert war, hatte er nur Geschichtsbücher über den Templer-Orden und die Kreuzritter und Pilger aus dem Südwesten Frankreichs gewälzt, um seine Magisterarbeit in Geschichte zu schreiben. Auch hatte er bereits einige Radfahrten in der Saintonge unternommen und sich mit der sanft welligen, überwiegend ockerfarbigen Landschaft angefreundet, in der sich die Getreideernte auf dem Höhepunkt befand und die Weintrauben an den Reben in einem Monat die für die Cognac-Verarbeitung notwendige Süße besäßen. Als politisch engagierter Student, der als Schüler die 68-er Revolte erlebt hatte und von den freiheitlichen Strömungen der Zeit mitgerissen worden war, wollte er in seinem Studium nachvollziehen, wie Menschen in der vorreformatorischen Zeit von der katholischen Kirche und dem Adel derart beeinflusst werden konnten, dass sie Haus und Hof darum gaben, um an den Kreuzzügen gegen die „Ungläubigen“ teilzunehmen. Er selbst fühlte sich frei von altem religiösen Ballast und seiner Doppelmoral. Das hatte er dem Zeitalter der Aufklärung zu verdanken.
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Aigre liegt von Villejésus nur wenige Steinwürfe entfernt. Die radelnde Dreiergruppe wählte jedoch einen Umweg durch die spätsommerliche Landschaft der Getreidefelder und Weinhügel. Schwatzend, lachend und lebensdurstig genossen sie auf ihrer Fahrt die ländlichen Gerüche der Saintonge und die weite Sicht auf welliges Land und lavendelblauen Himmel. Die Sätze flogen frei wie Vögel durch die Luft und suchten einander, als ob die jungen Menschen, die sie übermütig herausstießen, seit jeher beste Freunde wären. Hin und wieder setzte sich Laurence an die Spitze der Drei, ihre leuchtend roten Haare der Sonne und dem aufkommenden Wind schenkend, während die beiden Männer ihr bewundernd hinterher fuhren. Dann wiederum reihte sie sich zwischen Beiden ein, mal dem Einen, mal dem Anderen ihre Aufmerksamkeit widmend.
Rudolf, der Französisch nicht nur auf dem Gymnasium sondern auch während seiner häufigen Aufenthalte im Pariser Quartier Latin erlernt hatte und die Sprache inzwischen perfekt beherrschte, warf auf dieser unvorhergesehenen Radtour wie selbstverständlich seine Studienlast über Bord und gab sich ganz der sorglosen Gesellschaft dieses jungen französischen Pärchens hin. Es dauerte auch nicht lange, da saßen die Drei unter Ahornbäumen im Garten des Cafés in Aigre und bestellten Apfeltorte mit Sahne und duftenden Cappuccino. Wie ein munterer Wasserfall in lieblicher Landschaft sprudelte ihr Gespräch dahin. Ohne es auszusprechen ahnten sie doch bald, dass sie durch ein unsichtbares Band einer freiheitlichen Gesinnung ohne ideologische und moralische Schranken verbunden wären.
Es stellte sich heraus, dass Laurence einer Pied-Noir-Familie entstammte, die sich nach Erreichen der Unabhängigkeit Algeriens 1962 in Nizza niedergelassen hatte. Ihre Eltern besaßen während der Kolonialzeit ein gutgehendes Handelshaus in Oran. Rechtzeitig hatte ihr Vater genügend Geld in die Metropole transferiert, so dass die Familie eine Villa in Mittelmeernähe erwerben konnte. Laurence wuchs zusammen mit ihrer jüngeren Schwester in einer umhegten Umgebung auf. Sie hatte nur noch schwache Erinnerungen an den algerischen Unabhängigkeitskrieg und die soziale Not der unter strengem kolonialen Joch leidenden einheimischen Bevölkerung. In Oran hatte Laurence ihren Vater fürchterlich über Albert Camus und Franz Fanon schimpfen hören, die den französischen Kolonialismus verdammten. Laurence teilte die Meinung ihres Vaters keineswegs. Seit sie 1971 in Paris ihr Englisch- und Deutsch-Studium mit dem Ziel begonnen hatte, später einmal als Gymnasiallehrerin zu unterrichten, hatte sie sich mit Camus, Fanon, Proudhon und Simone de Beauvoir eingehend beschäftigt und geriet zusehends in den Bann der studentischen anarchistischen Zirkel in der Stadt.
Im Gegensatz zum großbürgerlichen Elternhaus von Laurence war dasjenige von François ein äußerst ärmliches. Sein Vater, ein Bergmann, stammte aus dem lothringischen Petite Rousselle (Kleinrosseln), direkt an der Grenze zum Saarland. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die väterliche Familie ins Département Charente evakuiert, nach Mouthiers-sur-Boëme bei Angoulême. Ende 1940 kehrte die deutsch-französische Familie wieder zurück und der Vater wurde umgehend vom deutschen Militär zwangsrekrutiert. Sein Sohn François war gezwungen, sich unter Mühen sein Soziologie-Studium in Paris durch Kellner-Jobs zu verdienen. Anfangs der 70er Jahre lernte er Laurence in einer anarchistischen Studentengruppe kennen. Mit ihr zusammen hatte er zu Beginn der Semesterferien in Paris an einer Plünderungs-Aktion eines Delikatessen-Geschäftes zugunsten der Clochards und mittellosen Einwanderer teilgenommen. Glücklicherweise entgingen beide einer Strafverfolgung. Sie hatten beschlossen, vorübergehend in der Saintonge „unterzutauchen“ , ihre Ferien zu genießen und auch die Umgebung von Angoulême kennenzulernen, wohin die Kriegswirren François‘ Vater für Monate gespült hatten.
Der lebhafte Austausch der drei jungen Menschen in dem kleinen Café in Aigre hatte Rudolf beinahe die lange Rückfahrt mit dem Rad nach Fontaine-Chalendray vergessen lassen. Sofortiger Aufbruch war angesagt. Bevor er sich auf den Weg machte, schlugen ihm Laurence und François vor, doch in ihr Gästehaus in Aigre umzuziehen. Dort gab es unter dem Dach noch ein preiswertes, freies geräumiges Zimmer, so richtig gemütlich und bestens zum Studium geeignet. So hätte er Gelegenheit, mit dem Pärchen gemeinsame Touren zu unternehmen, wann ihm der Sinn danach stünde. Rudolf stimmte freudig ein, zumal er in Aigre auch besseren Zugang zur Literatur seiner Magisterarbeit vorfinden würde. Beim Abschied umarmten sich die Drei zum ersten Mal in herzlicher Weise.
Auf der Heimfahrt durch die abgeernteten Getreidefelder und die mit reifendem Wein bestandenen Hänge musste Rudolf achtgeben, dass ihm nicht umherfliegendes Ungeziefer ins Auge kam. Die schwer über den Feldern lastende Sommerhitze lieferte sich ein letztes Gefecht mit der heraufziehenden abendlichen Kühle, bevor sie sich von Mensch und Natur verabschiedete. Rudolfs Gedanken kreisten um die Gespräche, die er mit Laurence und François geführt hatte. Auch konnte er nicht verhehlen, dass er sich von den beiden angezogen fühlte, besonders von Laurence. Er vermeinte, einen arabischen Einschlag in ihrem Gesicht zu erkennen. Woher stammte ihr ausgeprägtes, stolzes Profil? Gab es in ihrer Familie arabische oder berberische Wurzeln? Wenn sie bisweilen Rudolf herausfordernd gerade ins Gesicht blickte, hatte er das Gefühl, sie sei mit einem ungezähmten, rebellischen Pferd vergleichbar, dessen Freiheit und Wildheit nicht gebeugt werden könnte. Das war besonders der Fall, wenn sie über die sozialen Ungerechtigkeiten der heutigen Zeit sprach. Dann konnte sie aber auch von einem Augenblick zum anderen sanft und einschmeichelnd von ihr vertrauten Personen aus der glücklichen Kindheit in Algerien berichten oder auch unter lautem Lachen urkomische und skurrile Begebenheiten aus der Welt der reichen Pieds-Noirs erzählen. Laurence verstärkte ihren rätselhaften Eindruck auf Rudolf noch dadurch, dass ihr mit französischem Akzent gesprochenes weiches Deutsch gerade dazu einlud, es mit einem Kuss auf ihren vollen Mund zu verschlucken.
François war im Gegensatz zu Laurence ein leicht zu durchschauender, ungestümer, doch lieber junger Rebell, der die ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse mit gutem und geraden Willen zu verbessern meinte. Er war weder zum Diplomaten noch zum Politiker geboren. Er war mehr ein Mensch der solidarischen Tat als der eines nachdenklichen Wortes. Sein sportliches Äußeres und sein direkter, ungekünstelter Umgang mit anderen Menschen hatten sicher dazu beigetragen, die Zuneigung von Laurence zu gewinnen. Für François waren Französisch und Deutsch dank seiner lothringischen Herkunft gleichermaßen Muttersprache. So unterhielten sich die drei jungen Menschen mal in der einen mal in der anderen Sprache.
Rudolf, dessen Vater als Professor und Architekt an einer norddeutschen Universität unterrichtete und dessen Mutter als Frauenärztin eine gutgehende Praxis unterhielt, hatte sich bewusst zum Studium der Geschichte entschlossen. Bisher hatte er nie richtig herausgefunden, welche Rolle die Eltern in der Zeit des Faschismus eingenommen hatten. Es war ihm unerklärlich, wie Deutschland in seiner Geschichte ein derartiges Leid über die Welt ausstreuen konnte. Das hätte doch sicher mit dem Wesen des deutschen Menschen zu tun. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, dann war das Geschichtsstudium auch eine Suche nach seinen Wurzeln. Dabei spielte auch die christliche Religion eine herausragende Rolle, die besonders in der vorreformatorischen Epoche mit der weltlichen Macht verzahnt war und für die Herausbildung des Untertan-Verhaltens entscheidend war.
Die drei jungen Studenten richteten es sich so ein, dass sie die Abendessen möglichst gemeinsam im Garten unter den Bäumen ihres Gästehauses einnahmen. Bei Käsen aus der Region, Obst, Salat, Baguettes und Rotwein ließen sie es sich schmecken und diskutierten oft bis tief in die Nacht hinein über politische, philosophische und zwischenmenschliche Themen. Alle drei hatten unterschiedliche Erfahrungen vom Zusammenleben in Wohngemeinschaften gemacht. Rudolf hatte bis zum vorherigen Semester in seiner WG eine leidenschaftliche Zweierbeziehung unterhalten, die aber abrupt von seiner langjährigen Freundin J. beendet wurde. Diese war nach Indien abgereist und hatte sich 1974 der Sanyasin-Bewegung des Bhagwan Shree Rajneesh in Poona angeschlossen. Als Begründung führte sie die Notwendigkeit ihrer spirituellen und sexuellen Befreiung an. Laurence und François wohnten schon seit zwei Jahren in einer studentischen Anarcho-Kommune. Dort hatten sie ihr eigenes Zimmer und teilten sich Wohnzimmer, Küche, Bad und Toilette mit zwei anderen Pärchen. Für Rudolf war es offensichtlich, dass sich die beiden einer unersättlichen Beziehung erfreuten, in der die Gemeinschaft mit Freunden und Bekannten lediglich schmückendes Beiwerk war. Er stellte sich vor, Laurence und François seien nur an anderen Menschen interessiert, wenn es um gemeinsame politische Aktionen ging. Ansonsten würden sie sich selbst genügen. In diesem Sinne meinte er zu Beginn seiner Bekanntschaft mit den beiden, er diene diesen in der abgeschiedenen Gegend von Saintonge mit ihrem ländlichem Flair nur als eine willkommene, temporäre Ablenkung. Aber das sollte sich gründlich ändern.
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