21 Nov 2018

Laurence oder der Sommer der Anarchie

Submitted by Hermann

Laurence oder der Sommer der Anarchie - 2. Kapitel

 

Foto: Wikimedia Commons, Mairie (Rathaus) mit Vorplatz von Aigre im Suedwesten Frankreichs (Charente), Autor: rosier 

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            Ganz unvermittelt machte Laurence Rudolf beim gemeinsamen Abendessen einen Vorschlag: „Rudolf, ich mache im kommenden Semester meine Abschlussprüfung in Deutsch. Ich muss anfangen, mich ernsthaft darauf vorzubereiten. Wie Du siehst, mache ich noch viele grammatikalische Fehler. Auch sollte ich von jetzt ab nur noch Deutsch mit Dir sprechen. Könnten wir nicht jeden Abend eine Stunde vor dem Abendessen Deutsch zusammen lernen? Wir könnten das in Deinem Dachzimmer machen. Bei Dir wären wir ungestört.“

            Rudolf war erst einmal überrascht. Bisher war er nie mit Laurence allein gewesen. Was würde François dazu meinen? „Sicher, das können wir,“ antwortete er mit plötzlich belegter Stimme.

            „Das ist eine ausgezeichnete Idee. Dann führen wir unsere abendliche Essen-Konversation nur auf Deutsch und Laurence besteht ihre Prüfung mit Glanz und Gloria.“ Dass François den Vorschlag von Laurence derart begeistert und selbstverständlich unterstützte, hätte der verdutzte Rudolf nicht erwartet.

            „Ich habe einige Romane auf Deutsch bei mir, die zum Lernen wie geschaffen sind,“ meinte Rudolf einigermaßen beruhigt. „Mach Dir keine Sorgen um deutsche Literatur. Ich will in erster Linie Konversation üben. Die mündliche Prüfung ist für mich schwerer als die schriftliche.“ Damit war das Thema für die Drei an diesem Abend erledigt. Morgen sollte dann die erste Unterrichtsstunde erfolgen.

            Während des darauffolgenden Tages machte sich Rudolf rar. Er gab vor, wegen des Studiums wichtiger Texte an einer Tagesexkursion der beiden Freunde nicht teilnehmen zu können. Die Drei würden sich erst gegen Abend wieder treffen.

            Rudolf war einigermaßen froh, den Tag allein zu verbringen. Er verschwendete nicht eine Seite Studium, nicht einen Gedanken an historische Ereignisse. Der ganze Tag diente der gedanklichen Vorbereitung auf den abendlichen Unterricht mit Laurence. Nachdem er am Morgen das Pärchen auf seine Tour zum 25 km entfernten Matha verabschiedet hatte, wo es den Markt besuchen wollte, suchte er zuerst ein Straßencafé vor dem Rathaus aus, um die neuesten Nachrichten in „Le Monde“ zu studieren. Der Wirklichkeit entrückt überflog er die Zeilen, ohne dass sie sein Interesse wecken konnten.  Daraufhin machte er sich schnurstracks auf den Weg nach Villejésus. Er hoffte darauf, in der Kühle der Chapelle seine Nerven und Gedanken zu beruhigen. Die Aussicht auf ein erstes ausschließliches Zusammensein mit Laurence hatte ihn vergangene Nacht kaum schlafen lassen.

            Er hatte die Templer-Kirche ganz für sich. Ein glänzender Sonnenstrahl brach sich seine Bahn durch das zentrale, romanische Chorfenster, doch musste dieser seine Kraft jäh auf dem eckigen Altarstein einbüßen. So konnte Rudolf aus dem Halbdunkel des  Kirchenschiffes heraus den vom einfallenden Licht erleuchteten, schlichten Chor mit dem Kreuz über dem Fenster in aller Ruhe genießen.

            Zuerst schweiften seine Gedanken zu J., die ihn so unerwartet verlassen hatte, um sich „selbst zu entdecken“. Von einem aus Poona zurückgekehrten Bekannten hatte Rudolf kürzlich mit Bitternis erfahren, dass J. die vom Bhagwan präferierte Gespielin geworden sei und sich durch ihre schöne Nacktheit inmitten der Sanyasin-Gemeinde allgemeiner Bewunderung erfreute. Sollte er dieser Erzählung Glauben schenken? Was hatte er J. nicht geben können ? Hatte er den Zeitgeist der sexuellen Revolution, gefördert durch die erstmalig von Frauen angstfrei ausgelebte Sexualität mit Hilfe der Pille, zwar intellektuell jedoch nicht gefühlsmäßig akzeptiert? War er schließlich in Liebesdingen verklemmt geblieben wie sein Vater, obwohl er sich doch bisher zugutehielt, im Gegensatz zu vielen Studienkollegen den Frauen gegenüber offen, fortschrittlich und vorurteilsfrei entgegen zu treten? Auch hatte er seit seiner Schulzeit jede Scheu vor eigener Nacktheit in Gegenwart Dritter abgelegt. Bis zum jähen Fortgang von J. war er überzeugt gewesen, er müsste in den Augen von Frauen ein attraktiver Mann sein, denn er konnte sich im Allgemeinen der Avancen seiner weiblichen Umgebung sicher sein. Strahlte er nicht jugendliche Virilität und Intelligenz gleichsam aus? Auch trat er nicht arrogant und besserwisserisch auf, um daraufhin von feinfühligen Frauen gemieden zu werden. Aber irgendetwas musste ihm doch fehlen, sonst wäre J. sicher nicht so einfach von ihm fortgelaufen.

            Nachdem Rudolf seine Selbstzweifel einigermaßen in den Griff bekommen hatte, wozu die wohltuende Kirchenstille beitrug, wandten sich seine Gedanken den beiden neuen Freunden zu. Zuerst fragte er sich, warum Laurence an François einen Narren „gefressen“ hätte. Der war eher ein gutmütiger Draufgänger-Typ à la Jean Paul Belmondo denn ein mysteriöser wie düsterer Schönling à la Alain Delon, um den Vergleich der beiden aktuellen Kino-Helden des französischen Kinos heranzuziehen. Rudolf musste gestehen, dass man François mit seiner charmanten, unkomplizierten Art einfach lieben musste. Er schien mit unerschütterlicher guter Laune und Optimismus ausgestattet zu sein. Vielleicht war es das, was Laurence brauchte, d. h. einen stürmischen Liebhaber, der ihr dabei half, ihre bisweilen plötzlich auftretenden depressiven Stimmungen zu überwinden?

            Ja, und dann konnte Rudolf nicht umhin, sich ein Bild von Laurence zu machen. Dabei erinnerte er sich an seine erste Begegnung mit J. Zur dieser fühlte er sich auf Anhieb hingezogen und meinte zu Beginn ihrer Beziehung, in seinem ganzen Leben sicher keine andere Frau mehr begehren zu wollen. Doch welche Empfindung überfielen ihn Laurence gegenüber? Mein Gott, es schien ihm, als bräche mit ihr ein Sturm über ihn herein. Nicht nur sein unmittelbar verspürter Vergleich mit einem ungezähmten, jungen Pferd hatte ihn aufgewühlt. Nein, Laurence hatte in ihm Ahnungen freigesetzt, von denen er bisher nichts wusste. Warum hatte sich in ihm ein blitzartig anschwellendes Sehnen breitgemacht, diese junge Frau unter allen Umständen zu besitzen, oder war es richtiger zu sagen, von ihr besitzt zu werden? Nur die Anwesenheit von François hatte ihn davon abgehalten, Laurence geradewegs in die Arme zu nehmen, um sich mit ihr auf seine eigene Seelen-Erforschung zu begeben.

            Rudolf wurde sich mit einem Mal bewusst, dass ihm auch die besinnliche Chapelle nicht helfen konnte, der kommenden Begegnung mit Laurence gefasster entgegensehen zu können. Beinahe stürmte er aus der kleinen Kirche und machte sich auf den kurzen Heimweg nach Aigre, wo er sich in heillosem Gemütszustand begriffen auf sein Bett schmiss und ungeduldig begann, die fehlenden Stunden bis zu ihrem abendlichen Treffen zu zählen.

            Dann war es soweit. Rudolf hörte in seinem Mansardenzimmer die beiden Freunde fröhlich lärmend von Matha zurückkehren. Unten vom Garten aus riefen sie ihm durchs offene Fenster zu, dass Laurence in einer halben Stunde bei ihm auftauchen würde, während François noch Baguettes und Aufstrich im Ort besorgen wollte. Hastig erhob sich Hans von seinem Bett, das er tagsüber als Sofa benutzte, und rückte den Tisch ans Fenster mit dem Ausblick auf Garten, umliegende Häuser und Gassen, vom Kirchturm beschützt, als seien sie Küken, die unter den Federn der sorgenden Henne Fürsorge suchten. In der Ferne konnte Rudolf selbst die sanften Hügel der Saintonge ausmachen, die sich anschickten, den abendlichen Himmel zu begrüßen. Noch fielen letzte Sonnenstrahlen beim Summen der Bienen und dem Gezwitscher der Vögel friedlich ins wohnliche Dachzimmer.

            Mit einem Mal ein kurzes, entschiedenes Klopfen an der Tür. Bevor sie von Rudolf geöffnet werden konnte, drückte Laurence selbst die Tür auf und kam Rudolf auf halbem Weg von Tür zu Tisch entgegen. „Hier bin ich!“ Mit diesen Worten nahm sie ihn zu einer warmen Begrüßung in den Arm und gab ihm ein ‚bisous‘ (Küsschen) mitten auf den Mund als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Nur für einen kurzen Augenblick war er perplex, fing sich aber sogleich, da sie nicht die geringste Verlegenheit aufkommen ließ und offensichtlich von Anfang an ihr erstes alleiniges Beisammensein in ihrem Sinne steuern wollte.

            Laurence musste gerade eine Dusche genommen haben. Ihre langen, roten und noch nassen Haare gaben ihrem gebräunten Gesicht ein beinahe engelhaftes Aussehen, wenn Engel denn auf berberisch gedacht werden können. Rudolf hatte denn auch den Eindruck, eine junge, verführerische Berberfrau vor sich zu haben, so wie er sie aus seinen Geschichtsbüchern kannte.

 

Foto: Wikimedia Commons, Junge Berber-Braut mit typischer Tätowierung an Stirn und Kinn und traditionellem Schmuck, 1905 (Kabylei, Algerien), Autor: Lehnert/Landrock

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            Allerdings war Laurence so sommerlich leicht bekleidet, wie junge Französinnen das eben in dieser Jahreszeit zu tun pflegen. Außerdem war sie barfuß und hatte sich mit einer Lavendel-Lotion erfrischt, die sofort das Mansardenzimmer eroberte. 

            Rudolf lud sie ein, sich ihm gegenüber an den kleinen, rechteckigen Tisch zu setzen. „Ich finde es besser, wenn ich neben Dir sitze, mit Blick nach draußen,“ entgegnete Laurence. „Du kannst mir dann leichter auf einem Block die Korrekturen erläutern.“

             So kam es, dass beide einträchtig beieinander am Tisch Platz nahmen. Rudolf hatte sich inzwischen soweit an die unmittelbare Nähe und körperliche Ausstrahlung von Laurence gewöhnt, dass er ihr mit ruhiger Stimme vorschlug: “Ich fände es zu Beginn gut, wenn wir uns etwas gegenseitig aus dem bisherigen Leben erzählen würden. Ich bin neugierig, etwas aus Deinen Kinderjahren in Algerien zu erfahren.“

            Rudolf hatte endlich seine innere, schmerzende Spannung notdürftig besiegt, die ihn schon den ganzen Tag gepeinigt hatte, und die sich seit der ersten Begegnung mit Laurence allmählich aufgestaut hatte. Er fühlte sich an die erste Nacht erinnert, die er in dem Hause von J. erlebt hatte. Sie wohnte damals noch im Hause ihrer Eltern und hatte eine Party arrangiert. Die letzten Tänze in der Nacht hatten beide einander näher gebracht. Da Rudolf wegen fortgeschrittener Stunde gezwungen war, zusammen mit einem Freund bis zum Morgen in J.‘s Zimmer auf einer Luftmatratze zu verbringen, während J. nur wenige Meter von ihm entfernt in ihrem Bett schlief, musste er eine bis dahin nicht gekannte Qual durchleiden. Halbwach in direkter Nähe zu einer Frau, zu der ihn alle seine Sinne hinzogen, zu verbringen, ohne sich ihr hingeben zu können, erschien im wie eine Folter, die er nie wieder durchmachen wollte.

            Nach einigem Zögern erwiderte Laurence: „Rudolf, ich will aufrichtig zu Dir sein. Meine Kindheit in Algerien gedanklich wieder aufzufrischen, fällt mir ungeheuer schwer. Ich habe während meiner Jugendzeit in Nizza nur wenig mit meiner Schwester und meinen Eltern darüber gesprochen. Selbst François erzählte ich bisher so gut wie nichts aus meinen Kindertagen in Oran. Ich ahne, dass diese Zeit entscheidenden Einfluss auf die Prägung meiner Persönlichkeit hatte, aber in welcher Weise, das ist mir bisher nicht deutlich geworden. Vielleicht kann ich im Zwiegespräch mit Dir mehr über mich selbst herausfinden. Doch dann musst Du mir versprechen, dass alles unter uns bleibt.“ Damit wandte sie ihr Gesicht Rudolf zu, hängte sich flüchtig um seinen Hals und berührte seinen Nacken mit ihren heißen Lippen. 

            Rudolf glaubte, ein leichtes Zittern aus ihrer sonst beherrschten Stimme herauszuhören. Beruhigend fuhr er mit seiner rechten Hand über ihre langen noch feuchten, hellroten Haare. Diese Haare und die grünblauen Augen hatten ihn vom ersten Moment ihrer Begegnung an verwirrt. Welche Familiengeschichte hatte Laurence? Warum wurde ihre insgesamt an den Tag gelegte Bestimmtheit bisweilen unterbrochen von Stimmungen, die junge Vögel ergreifen, bevor sie zum ersten Flug aus dem Nest ansetzen? Sein Beschützer-Instinkt war wachgerufen. Wenn Laurence das Verlangen hatte, ihm Wichtiges von sich selbst zu offenbaren, dann war das ein ihm entgegengebrachtes Vertrauen, dem er sich unbedingt würdig erweisen wollte.

            Laurence begann eine lange Erzählung, die von ihr über verschiedene Abende hinweg in immer stärker werdender Intensität geführt wurde. Dabei wurde sie von Rudolf verschiedentlich unterbrochen, damit dieser sich einerseits selbst über das Gehörte Klarheit verschaffen konnte und andererseits, um ihr die Gelegenheit zu vertiefter Reflexion über längst vergangene Begebenheiten zu ermöglichen.

            Die Kindheit von Laurence war in besonderer Weise von ihrer Großmutter mütterlicherseits bestimmt. Diese war Berberin und stammte aus der Bergregion der Kabylei östlich der Hauptstadt Algier auf dem Weg zur tunesischen Grenze. Die Berber sind die eigentlichen indigenen, autochthonen Völker Nordafrikas, die den Raum von Ägypten bis hin zum Atlantischen Ozean besiedelten. Selbst nennen sie sich das Volk der ‚Imazighen‘ (die freien Menschen), die bis zur Islamisierung im 7. Jh. nach Christi durch Araber aus Saudi Arabien, später aus Syrien, in mutterrechtlichen (matrilinearen), anarchistischen gesellschaftlichen Strukturen, d. h. ohne Zentralstaat, organisiert waren. In der gebirgigen Kabylei, im Herzen der Sahara (Tuareg), in Mauretanien und in den Bergregionen Marokkos haben sich bis heute die verschiedenen Berbervölker trotz Islamisierung ihre kulturelle Eigenständigkeit, vor allem Sprache, Literatur, Musik und auch die herausragende Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft bewahrt. Das hatten sie insbesondere der unzugänglichen geographischen Beschaffenheit ihres Siedlungsgebietes und dem tief verankerten Freiheitswillen zu verdanken, der ebenso in der Geschichte anderer ursprünglich horizontal organisierter Völker anzutreffen ist.

            „Laurence, Du erzählst mit Herzenswärme von Deiner Großmutter. Aber wer war Dein Großvater?“ „Rudolf, nicht so ungeduldig. Zum Großvater komme ich noch. Aber erst musst Du noch viel über die ‚Imazighen‘ erfahren, die eine lange Geschichte von Auseinandersetzungen mit anderen Kulturen hinter sich haben. Unter anderem kamen sie auf kriegerischen Feldzügen der ‚Mauren‘ bis in die Charente, bis hier in die Region von Aigre. An dieser Stelle nur ein Wort zum Großvater: Er rückte als junger Soldat der französischen Kolonialarmee mit seiner Einheit zur sogenannten Befriedung in das Land der Kabylen ein.“  

 

Foto: Wikimedia Commons, Kabylei/Algerien (Berglandschaft in der Region: Tizi-Ouzou), Autor: Yelles 

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