25 Nov 2018

Laurence oder der Sommer der Anarchie

Submitted by Hermann

Laurence oder der Sommer der Anarchie - 4. Kapitel

 

Die sagenumwobene "pornographische" Templer-Kapelle

 

Foto: Wikimedia Commons, Kapelle von Saint-Ouen-la-Thene, Autor: Jack ma

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Am nächsten Morgen wachte Laurence mit den Sommerbildern von Claude Monet und ihren eigenen Landschafts-Eindrücken seit der Ankunft in der Saintonge und Umgebung von Aigre auf. Am Frühstückstisch begrüßte sie ‚ihre‘ beiden Männer mit einem Kuss und Umarmung und schlug ihnen vor: „Es ist ein herrlicher, frischer Morgen. Lasst uns gleich eine Fahrradtour in den Sommer, in die Freiheit, in die Felder, über die Dörfer bis ans Ende der Welt machen. Ich will atmen, ich will leben, ich will Euch an mich drücken und mich geborgen und geliebt fühlen. Kommt, jeder Augenblick ist kostbar! Wir müssen das Leben genießen, so weit wie das möglich ist. Ich möchte mir die Templer-Orden-Kapelle Église de Saint-Ouen-la-Thène ansehen, an der wir gestern auf dem Weg nach Matha vorbeigekommen sind. Leider hatten wir zu einem Besuch nicht die genügende Zeit. Rudolf, Du solltest unbedingt mitkommen und Deinen Kopf auslüften, anstatt den lieben langen Tag mit Deinen Studien hier in Aigre zu verbringen. Die Moral-Maxime von Nicolas de Chamfort, zur Zeit der französischen Revolution ausgesprochen: ‚Jouis et fais jouir, sans faire de mal ni à toi, ni à personne : voilà, je crois, toute la morale,’ auf gut deutsch :  ‘Ich genieße und erzeuge Genuss, ohne Dich, ohne Jemanden zu verletzen. Das ist, so meine ich, die ganze Moral,‘ sollten wir Drei ab jetzt beherzigen. Ich bin schon ganz gespannt auf unsere Radtour.“  

            Laurence‘ Begeisterung kannte keine Grenzen und Rudolf kam gar nicht erst dazu, nach einer Ausrede zu suchen. Wozu auch? Wollte er nicht Anschauungsmaterial über den Templer-Orden sammeln? Und wollte er nicht außerdem jede mögliche Minute ausnutzen, um  Laurence‘ geheimnisvolle Weiblichkeit zu ergründen? Was könnte sie konkret mit Chamforts Maxime gemeint haben?

            François schien von Laurence‘ Vorschlag keineswegs überrascht zu sein. Für Rudolf waren die Freunde wie ein eingespieltes Team, bei dem jeder den anderen in seinen Absichten sofort erkannte und sich Gegensätzlichkeit von vornherein als inexistent herausstellte. 

 

            Die Drei machten sich unverzüglich und erwartungsfroh auf den Weg. Nach einer Durchfahrt durch den verschlafenen Ort Verdille erreichten sie den kleinen Ort Saint-Ouen-la-Thène. Nicht einmal eine Stunde Radfahrt durch die spätsommerliche Saintonge dauerte ihre Tour in frischer Morgenstunde, bis sie vor der im 12. Jh. n.Ch. vom Templer Orden erbauten romanischen Kapelle ihre Räder abstellten.  

            Nach allem, was Rudolf bisher an romanischen Templer-Orden-Kapellen im Südwesten Frankreichs gesehen hatte, musste die Église Saint Alban de Saint-Ouen-la-Thène eine ganz besondere sein. Er, Laurence und François hatten bereits in Aigre gehört, dass diese Kapelle eine ‚pornographische‘ sein sollte, aber sie konnten sich darunter nichts vorstellen. Und wie sollte und konnte eine Ritterorden-Kapelle eine ‚pornographische‘ bzw. ‚erotische‘ sein? Ausgerechnet Templer-Orden-Ritter, die sich in zwei Jahrhunderten ihres Bestehens, von Beginn 12. Jahrhundert bis Beginn 14. Jahrhundert, dem Keuschheitsgebot und der Dienerschaft Christi unterworfen hatten, aus adligem Geschlecht hervorgegangen waren, die unterstützt wurden von eifernden Kaplanen sowie Handwerkern, leibeigenen Bauern und sonstigem armen Gesindel als Fußtruppen, sollten in einer ‚sündigen‘ Kapelle Busse tun, und das fünfmal im Laufe von 24 Stunden? Das war schwer verständlich. Wie sollten denn in der Umgebung einer solchen Sinne erregenden Église die Seelen der ausreisenden Kreuzfahrer und auch die der dezimierten Rückkehrer ihre nötige innere Ruhe, ernste Festigkeit und unbedingte Unterordnung unter Gottes heilige Gebote und die Ordensregeln finden? Letztere schlossen zudem das Gebot der Nichtbetrachtung des weiblichen Antlitzes ein. Schließlich war die herausragende Aufgabe eines jeden Kreuzritters und seiner dazugehörigen Knappen der Schutz der christlichen Pilger auf ihrer Wallfahrt zu den heiligen Stätten im Morgenland. Und zur Erfüllung einer derartigen gottgefälligen Pflicht konnte Fleischeslust schwerlich beitragen. Kurz und gut, es gab da Fragen über Fragen, die sich die drei neugierigen Freigeister stellten, als sie sich dem Eingang der Chapelle näherten.  

            Das romanische Kirchlein wurde offensichtlich schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr für geistliche Offertorien genutzt. Der kleine Ort Saint-Ouen-la-Thene zählte ja auch nur wenig mehr als zwanzig Familien. Sicher konnte man unter diesen die Gläubigen an einer Hand aufzählen, für die ein verantwortungsvoller geistlicher, dazu kostenaufwendiger Beistand vor der Haustür im Autozeitalter finanziell nicht gerechtfertigt werden kann. Dennoch musste der Ort zur Zeit der Templer ansehnlich gewesen sein wie so viele jetzt nahezu verlassene Dörfer der Saintonge. In der Blütezeit des Templerordens hatte es hier im Südwesten Frankreichs zahlreiche Klosterfestungen, sogenannte Komtureien oder Kommenden in landwirtschaftlich besonders ergiebigen Gegenden gegeben. Diese Kommenden, ergänzt durch Kapellen bzw. Kirchen, waren geistliche wie militärische Niederlassungen der Templer, die nach Verbot und Auflösung des Ordens wegen angeblicher Ketzerei und Sodomie durch den französischen König Philipp dem Schönen zu Beginn des 14. Jahrhunderts  allesamt geschliffen wurden. Heute zeugen nur noch die erhalten gebliebenen Kapellen vom einstigen mächtigen Templerorden.

 

            Auf ihrer Besichtigungstour der ansonsten schlichten, romanischen Kapelle stießen die jungen Besucher auf zwei Hinweise für den möglichen abwertenden Ruf von sexuellen Ausschweifungen der Vorfahren aus der Templer-Zeit: Etliche Steinskulpturen von etwa 50 cm Größe waren in Dachhöhe an der Außenwand des Chores angebracht. Sie empfingen die frommen, nach Absolution heischenden Besucher aus der Kreuzfahrerzeit mit der ungenierten Darbietung sexueller Handlungen, als wollten sie die keuschen Männlein mit der prallen Sinnenlust und Vielgötterei ihrer Vorfahren verhöhnen. Daneben gab es eine Fenster-Glasmalerei, die eine auf einem Schwert sitzende weibliche Gestalt darstellte, welche kaum mit der Unbefleckten Jungfrau in Verbindung gebracht werden konnte, eher denn mit einem weiblichen Schutzengel oder einer heidnischen Göttin.

Foto: Wikimedia Commons, Templer-Kapelle von Saint-Ouen-la-Thene, Aussen-Skulpturen des Chores, Autor: Mj.galais

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            „Das hätte ich so nicht erwartet!“ entfuhr es François. „In unserer Heimat muss es während des ‚finsteren‘ Mittelalters gar nicht so finster zugegangen sein.“

            Laurence nahm diese Feststellung mit Freuden auf: „Zu allen Zeiten wussten Frauen und Männer, wie sie sich sexuell vergnügen konnten. Selbst die verbiesterten Pfaffen schafften es nicht, trotz Androhung schwerster Höllenqualen, die Naturgesetze der Menschen außer Kraft zu setzen. Aber dass hier inmitten der Saintonge einstmals geistliche Dienstleistungen in feuchtfröhlichem Ambiente angeboten wurden, ist doch recht erstaunlich. Rudolf, was meinst Du dazu? Man könnte meinen, die Menschen in Saint Ouen hätten damals schon das Leben so genossen, wie wir es heute tun.“

            In Rudolfs Kopf lagen verschiedenste Vermutungen im Wettstreit miteinander. Auf die Frage von Laurence erwiderte er abwägend: „Meine liebe Laurence, das was wir hier sehen gibt natürlich Anlass zu wildesten Spekulationen.“ - „Ah, bin ich jetzt Deine liebe Laurence? Umso besser, das lass ich mir gefallen. Ich hoffe nur, François kann seine Eifersucht in Zaum halten.“ - „Wenn Ihr mich fragt, so soll es nicht an mir liegen, unsere Freundschaft zu vergiften.“  

 

             Nach diesem kurzen Intermezzo brachen die Drei in ein gemeinsames Gelächter aus, bevor sie daran gingen, einen ernsthaften Interpretationsversuch über die ,pornographische‘ Templer-Orden-Kapelle zu starten.

            François begann mit folgender Überlegung: „Die Kreuzritter auf ihren Pferden und ihr religiöser Beistand hatten auf den langen Reisen durch unterschiedlichste Länder und Kulturen oft äußerste Strapazen und Kämpfe gegen ‚Ungläubige‘, fanatisch ihren Glauben verteidigende Muslime zu überstehen. Dabei wurden sie von ihrem Fußvolk begleitet, das stets bei Laune gehalten werden musste. Wer macht schon jahrelange Abwesenheit von der Heimat und Mühen für den adligen Herrn frohen Herzens mit, wenn nicht mit einem gehörigen Lohn zu rechnen ist. Allein die Vergebung der Sünden kann keine ausreichende Belohnung sein. Da muss schon etwas Handfesteres her. Das können sicherlich einmal die erhofften Reichtümer bei eventuellen Plünderungen von eroberten Städten sein und sind andererseits auch die Vergnügungen am Kreuzwegesrand. Ich stelle mir vor, dass die lange Spur aus der Saintonge bis ins Heilige Land mit allerlei Kreuzfahrer-Bordellen gekennzeichnet war, die den rauen Burschen den Verzicht auf ein zwar armes aber doch ruhiges Leben in der Heimat versüßen sollten. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein noch so asketischer Kaplan und ein noch so blaublütiger Ritter am Abend eines strapaziösen Tages die Frechheit besitzen könnten, mit Peitsche und Bibel bewaffnet das dürstende Fußvolk von der Wasserquelle abzuhalten. Die hier dargestellten Szenen könnten auch als Verheißungen für die zu rekrutierenden leibeigenen Bauern und verbrecherisches Gesindel aller Art verstanden werden, denen neben der Vergebung irdischer Sünden irdische Genüsse versprochen werden.“ 

            „François, Du magst mit vielem recht haben,“ fuhr Rudolf fort. „Ich glaube auch, dass diese Kreuzzüge, je länger sie dauerten, immer weniger mit ursprünglichen hehren christlichen Zielen zu tun hatten. Sicher waren die Päpste, die zu diesen Unternehmungen aufriefen, stark an der Sicherung der heiligen Stätten für Pilger interessiert. Doch ging es dabei für die römisch katholische Kirche neben der Demonstration von geistlicher Macht auch um die Demonstration ihrer weltlichen Macht. Der internationale Charakter der Kreuzzüge mit der Herstellung von Kleinstaaten im heutigen Nahen Osten war einerseits Machtdemonstration gegenüber ungläubigen Muslimen und andererseits Machtdemonstration gegenüber der byzantinischen Kirche sowie den weltlichen Fürstentümern im Einflussbereich der katholischen Kirche. Um diese perfiden Ziele auf dem Rücken von Abermillionen Miserablen des damaligen Abendlandes erfolgreich verfolgen zu können, mussten wohl Konzessionen gegenüber elementaren Bedürfnissen des gemeinen Fußvolkes gemacht werden. Vielleicht war ja die unausgesprochene Losung für das ‚Kanonenfutter‘ der Templer: Statt Brot und Spiele, wie es im Alten Rom drastisch ausgedrückt wurde, jetzt Diebstahl und Sex.“  

            „François und Rudolf, was Ihr mehr oder weniger sarkastisch ausdrückt, möchte ich durch einige Gedanken aus der Perspektive der Berbervölker ergänzen. Ich kann mich da verdammt irren, aber immerhin sollten wir darüber nachdenken. Die Saintonge und ganz Südfrankreich war bis ins 10. Jh. hinein stark beeinflusst durch das Vordringen der Mauren seit dem frühen 8. Jh. von Nordafrika her, die erst 1492 endgültig von der iberischen Halbinsel vertrieben wurden. ‚Mauren‘ ist der Oberbegriff für verschiedene Berbervölker, die zahlenmäßig die Araber, die die Islamisierung von der saudischen Halbinsel kommend vorangetrieben hatten, bei Weitem überwogen. Und die Mauren, unter ihnen die Kabylen aus der Heimat meiner Vorväter, hatten sich auch bei der Eroberung Spaniens und Südfrankreichs nie ganz von ihren prä-islamischen kulturellen Wurzeln verabschiedet. Das betraf besonders die religiöse Toleranz sowie die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Das Kalifat von Cordoba, das bis 100 Jahre vor Gründung des Templerordens  bestand, ist das beste Beispiel für das harmonische Zusammenleben der drei großen monotheistischen Religionen und anderer Glaubensüberzeugungen. Ich könnte mir vorstellen, dass es Handwerker und Baumeister aus der Kabylei bis nach Südfrankreich verschlagen hat, wo sie sich mit einheimischen Frauen vermischten, ganz so wie es bspw. die Wandalen in meiner Heimat getan haben. Vielleicht sind Vorfahren von mir hier in Saint-Ouen am Bau der Kapelle und der Anfertigung dieser Skulpturen beteiligt gewesen. Die künstlerische Freiheit dieser Werke und auch die Anfertigung von Tier- und Götter-Skulpturen, die prä-islamischen Motiven ähneln, spräche für meine Idee. Die Glasmalerei könnte die Versinnbildlichung eines weiblichen Engels sein, der die Kreuzfahrer auf ihren Reisen beschützen sollte. Sie könnte aber auch eine Göttin der Kabylen sein. Ich weiß, dass ich damit Euren Protest heraufbeschwöre. Aber wenn wir schon einmal beim Spekulieren sind: Warum soll diese kleine ‚Porno-Kapelle‘ nicht ein einziger Protest gegen die Lebensanschauung einer unterdrückerischen katholischen Kirche der Kreuzfahrerzeit sein?“

            Den drei Freunden begannen die Köpfe zu rauchen. Was mochte sich hier zwischen dem 12. Und 14. Jahrhundert abgespielt haben? Überwiegend engstirnige puritanische Lebensweise oder eine Lebensweise, die mit einer gesunden Prise Hedonismus gewürzt war? Eines aber stand fest zu sein: In der Geschichte haben sich libertäre gesellschaftliche Tendenzen nie vollkommen unterdrücken lassen.

 

            Wieder zurück in Aigre wartete auf Laurence und Rudolf  die nächste Deutsch-Stunde. Diese läutete Laurence mit den Worten ein: „Rudolf, diese Nachhilfe in Erotik des Mittelalters hat es in sich gehabt.“

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